Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Verhaftung nach „NSU 2.0“-Drohserie: Das Ende der Jagd
> Der Berliner Alexander M. soll der Verfasser der „NSU 2.0“-Drohserie sein
> – und fiel bereits einschlägig auf. Die Betroffenen aber glauben nicht an
> einen Einzeltäter.
Bild: Sie zweifeln noch an der Einzeltäterthese: Idil Baydar, Başay-Yıldız …
FRANKFURT/BERLIN taz | Es ist noch nicht die große Erleichterung, die Seda
Başay-Yıldız am Tag nach der [1][Festnahme des mutmaßlichen Verfassers] der
rechtsextremer „NSU 2.0“-Drohschreibenserie erkennen lässt. Sie wolle sich
dazu nicht äußern, sagt die Frankfurter Anwältin der taz. Es sei noch zu
vieles unklar. Wie genau kam der Tatverdächtige im August 2018 an ihre
persönlichen Daten, die zuvor im Ersten Polizeirevier der Stadt abgerufen
wurden? Wie kam er nach ihrem Umzug erneut an ihre gesperrte, streng
geheime Adresse? „Da sind für mich zum jetzigen Zeitpunkt einfach noch zu
viele Frage offen.“
Dennoch: Die Festnahme vom Montag scheint für die Ermittler endlich der
entscheidende Schlag in der seit zweieinhalb Jahren währenden Drohserie des
selbsternannten „NSU 2.0“, firmierend nach den mörderischen
Rechtsterroristen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“.
[2][Seit August 2018] hatte ein Unbekannter Drohmails an Başay-Yıldız, die
heutige Linken-Chefin Janine Wissler, die Kabarettistin Idil Baydar, die
taz-AutorIn Hengameh Yaghoobifarah und andere geschickt. Insgesamt 115
Schreiben gingen an 32 Personen und 60 Institutionen mit wüstesten
Gewaltandrohungen. Im Fall von Başay-Yıldız, Wissler und Baydar waren sie
auch versehen mit persönlichen Daten, die zuvor auf Polizeicomputern in
Frankfurt, Wiesbaden oder Berlin abgerufen wurden. Andere Mails enthielten
nur Beschimpfungen oder Daten, die auch anderweitig recherchierbar waren.
Zweieinhalb Jahre wurde dazu erfolglos ermittelt. Zweieinhalb Jahre, in
denen der Verdacht anhielt, ob nicht auch Polizisten selbst hinter den
Drohschreiben stecken könnten und ein rechtsextremes Netzwerk bis hinein in
den Sicherheitsapparat. Bis am späten Montagabend Alexander Horst M. im
Berliner Stadtteil Wedding festgenommen wurde.
## Gefasst über Kommentare auf einem rechten Portal
Die Ermittler überraschten den erwerbslosen 53-Jährigen an seinem PC. Auf
ihn gestoßen waren sie durch die Überwachung von Foren des islamfeindlichen
Onlineportals „PI News“. Dort bemerkten sie einen User, dessen Duktus dem
der Drohschreiben ähnelte. Zugleich fanden sie auf einer Schachplattform
ein Profil, das dieselbe Comicfigur als Profilbild benutzte. Auch war die
IP-Adresse die gleiche, ebenso wie Beleidigungen im Chat auf der
Schachseite. Und: Auf dieser Seite nannte der Nutzer Berlin als seine
Ortsangabe. Über Bestandsdatenabfragen bei dem Schachportal und bei
Kommunikationsanbietern konnte Alexander M. schließlich identifiziert
werden.
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt spricht von „unzähligen Bezügen“ in den
Drohschreiben und Kommentaren von Alexander M. auf den Standort Berlin.
„Auffällig war, dass es sich hierbei um das direkte Wohnumfeld des
Beschuldigten handelte.“ Am 14. April leitete die Staatsanwaltschaft
schließlich ein Ermittlungsverfahren gegen den 53-Jährigen ein. Am 23.
April erließ das Frankfurter Amtsgericht einen Haftbefehl – der nun am
Montagabend vollstreckt wurde. Als die Spezialkräfte die Wohnung von
Alexander M. stürmten, fanden sie auch eine einsatzbereite Schusswaffe.
Zwei Stunden später vermeldete die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main die
Festnahme via Presseerklärung. Mit dem expliziten Verweis, dass der
Gefasste „zu keinem Zeitpunkt Bediensteter einer hessischen oder sonstigen
Polizeibehörde war“.
Auch Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU), dem Betroffene mangelndes
Engagement in der Affäre vorgeworfen hatten, jubelte: Sollte sich der
Tatverdacht erhärten, wäre dies „ein ganz herausragender
Ermittlungserfolg“. Dutzende unschuldige Opfer sowie die gesamte hessische
Polizei könnten dann „aufatmen“.
Tatsächlich stand nicht nur Beuth mächtig unter Druck, sondern die gesamte
hessische Polizei. Im Laufe der Ermittlungen wurde im Frankfurter Revier
eine rechtsextreme Chatgruppe entdeckt, mehrere Beamte wurden suspendiert.
Später musste auch Landespolizeipräsident Udo Münch zurücktreten, ein
Sonderermittler wurde eingesetzt. Nach der Festnahme nun forderte die
hessische Gewerkschaft der Polizei eine öffentliche Entschuldigung für den
Generalverdacht und die „haltlosen Unterstellungen“.
## Der Verhaftete stand immer wieder vor Gericht
Den Behörden war der festgenommene Alexander M. wohlbekannt. Aber es
dauerte lange, bis den hessischen Ermittlern klar wurde, dass er offenbar
auch der Verfasser der „NSU 2.0“-Drohschreiben war. Nach taz-Informationen
stand der alleinstehende, kinderlose Langzeitarbeitslose schon ab 1992 in
Berlin immer wieder vor Gericht. Mal wurde er wegen gefährlicher
Körperverletzung verurteilt, mal wegen Bedrohung, Beleidigung, Betrugs oder
Urkundenfälschung. 1995 wanderte er auch für dreieinhalb Jahre in Haft.
2006 wurde Alexander M. dann erneut zu einer Haftstrafe verurteilt, die
später zur Bewährung ausgesetzt wurde. Er hatte Schecks gefälscht und damit
mehrere tausend DM abgehoben. Auch fanden Polizisten bei ihm zu Hause
Disketten mit Kinderpornografie. Und: Alexander M. hatte den Leiter der
Berliner JVA Moabit in dessen Büro und auf seinem Privatanschluss angerufen
und ihn wild beschimpft, weil sich sein Bruder angeblich vor zwei Jahren in
dem Gefängnis aufgehängt habe. „Ich werde mich rächen. Ich werde sie
umbringen“, soll Alexander M. gedroht haben. Den JVA-Leiter habe er als
„perverses Schwein“ beschimpft. „Sie werden sich wundern, was ich überall
über Sie erhalte.“ Als Polizisten später seine Wohnung durchsuchten,
bezeichnete er diese als „Lügner“. In einem Schreiben an das Amtsgericht
beklagte er sich, gegen ihn wären Verbrechen wie Nötigung oder
Aussageerpressung begangen worden.
Auffällig ist, dass Alexander M. immer wieder mit Bedrohungen auffiel und
wiederholt Beschwerdeschreiben an Behörden verschickte. Schon 1992 wurde er
auch wegen Amtsanmaßung verurteilt: Er hatte sich als Kriminalbeamter
ausgegeben.
Und: Er hat technische Fähigkeiten, kennt sich mit dem Internet aus, ist
gelernter Facharbeiter für elektronische Datenverarbeitung. Vor Gericht gab
er schon vor Jahren an, er sei ein Einzelgänger, der den ganzen Tag vorm
Rechner sitze und eine große Begeisterung fürs Internet habe.
## Trickste der Festgenommene die Polizei aus?
Es sind diese Punkte, die auch zur „NSU 2.0“-Drohserie passen. Denn auch
hier verschickte der Täter seine Schreiben mit brachialen Drohungen, anonym
aus dem Darknet. Das erste ging am [3][2. August 2018 an Başay-Yıldız], die
im NSU-Prozess Opferfamilien vertrat, in anderen Verfahren auch Islamisten.
Das Schreiben erreichte sie als Fax, gesendet über einen Onlineanbieter.
Als Absender angegeben: „Uwe Böhnhardt“, der tote NSU-Terrorist. Die
Anwältin wurde als „miese Türkensau“ beschimpft, genannt wurde ihre
gesperrte Meldeadresse und der Name ihrer damals zweijährigen Tochter, die
man „als Vergeltung schlachten“ werde. Die Daten wurden kurz zuvor im
Frankfurter Revier abgerufen.
Die Vermutung der Ermittler: Alexander M. könnte schlicht über einen
fingierten Anruf an die Informationen gekommen sein. Er könnte sich als
Behördenvertreter ausgegeben und die Daten abgefragt haben – auch in
anderen Fällen. Dann wäre nicht mehr von einem Netzwerk die Rede, sondern
von einem Rechtsextremen, der Polizisten übertölpelte. Andere Daten könnte
Alexander M. wiederum über das Darknet bezogen haben.
Tatsächlich bemerkte Alexander M. selbst vor einiger Zeit in einem
Schreiben an das Berliner Landesamt für Bürger- und
Ordnungsangelegenheiten, dass man Behörden missbräuchlich personenbezogene
Daten entlocken könne und er dies auch schon getan habe. Explizit benannte
er dabei fingierte Anrufe.
Zwei solcher Anrufe gab es [4][auch mal bei der taz], im August 2018, zwei
Wochen nach dem Drohfax an Başay-Yıldız. Der Mann ließ sich beim ersten
Telefonat zum Geschäftsführer durchstellen und behauptete, er sei Polizist
und brauche die Kontaktdaten von taz-AutorIn Hengameh Yaghoobifarah für
eine Strafanzeige. Beim zweiten Mal erreichte er die stellvertretende
Chefredakteurin. Beide aber rückten die Adressdaten nicht raus, baten
vielmehr um die Kontaktdaten des Beamten – bis dieser das Gespräch mit der
Drohung beendete: „Ihrer Kollegin blüht noch einiges.“ Von sich nannte der
angebliche Polizist nur den Abschnitt, auf dem er arbeite: Berlin-Wedding.
Der Stadtteil, in dem Alexander M. nun festgenommen wurde.
Waren die Polizisten im Frankfurter Revier weniger misstrauisch? Ließen sie
sich austricksen? Das sei „Gegenstand der laufenden Ermittlungen“, sagt
eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft der taz. Wäre es so, stellt sich
indes die Frage, warum alle verdächtigten Beamten im Revier bestritten, die
Datenabfrage gemacht zu haben – und sonst schwiegen. Hätten sie nicht
einfach von dem Anrufer berichten können?
Und: Wie kam der Drohschreiber auch noch an die neue Adresse von
Basay-Yildiz nach ihrem späterem Umzug, die mit einem Sperrvermerk versehen
waren? Auch diese soll einfach am Telefon weitergegeben worden sein – trotz
des nun bundesweiten Wirbels um den Fall?
## „Ich glaube noch nicht an die arme, naive Polizei“
Auch wegen dieser Fragen reagierten die Bedrohten am Dienstag vorerst
verhalten. „Ich glaube noch nicht an die Erzählung der armen, naiven
Polizei“, sagt Idil Baydar der taz. „Da werden in verschiedenen Revieren
unsere Daten einfach so rausgegeben, ohne dass das weiter festgehalten
wird? Das sind mir ein bisschen zu viele Zufälle.“ Zudem sei über die
Chatgruppen ja nachgewiesen, dass einige Beamte rechtsextrem tickten, so
Baydar. Auch die Linken-Chefin Janine Wissler sagte der taz: „Wie soll
dieser Mann aus Berlin ohne Bezug zur Polizei an sensible Daten gekommen
sein?“ Ihre Parteikollegin Martina Renner, die ebenfalls „NSU
2.0“-Drohschreiben erhielt, erklärte: „Dass der mutmaßliche Täter alleine
gehandelt hat, ist mehr als unglaubwürdig.“
Seda Başay-Yıldız hatte ihr letztes Drohschreiben am 19. Februar dieses
Jahres erhalten, am Jahrestag des Hanau-Anschlags. Mehr als ein Dutzend
Schreiben waren es insgesamt. Die Anwältin lobte zwischenzeitlich selbst
eine [5][Belohnung von 5.000 Euro] für Hinweise auf den Täter aus. Und sie
ließ, auf Anraten des LKA, ihr Haus absichern. Auf den Kosten blieb
Başay-Yıldız bisher sitzen. Sie will diese nun vom Land Hessen einklagen.
Gegen Alexander M. wurde am Dienstag vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten
Haftbefehl erlassen. Die Ermittler werten nun seine beschlagnahmte Hardware
aus. Sicher ist Başay-Yıldız aber auch nach der Festnahme nicht. Denn offen
ist, ob es weitere Mittäter gab, die etwa Informationen zusammentrugen. Und
schon im Sommer 2020 war ein Trittbrettfahrer in Bayern verhaftet worden,
ein Ex-Polizist, der ebenfalls als „NSU 2.0“-Drohschreiben verschickt
hatte. Zuletzt war zudem die neue Adresse von Başay-Yıldız in einem rechten
Forum im Darknet veröffentlicht worden, einsehbar für viele Nutzer. Der
Hass, er könnte also weitergehen.
4 May 2021
## LINKS
[1] /NSU-20-Drohschreiben/!5769540
[2] /taz-Recherche-zu-Drohmails/!5709468
[3] /taz-Recherche-zu-Drohmails/!5709468
[4] /taz-Recherche-zu-Drohmails/!5709468
[5] /Belohnung-zu-NSU-20-Serie-ausgesetzt/!5731312
## AUTOREN
Konrad Litschko
Christoph Schmidt-Lunau
## TAGS
NSU 2.0
Polizei Hessen
Peter Beuth
Seda Basay-Yildiz
Drohmails
Schwerpunkt Rechter Terror
Seda Basay-Yildiz
Seda Basay-Yildiz
Janine Wissler
Datenschutz
NSU 2.0
NSU 2.0
Schwerpunkt Rechter Terror
NSU 2.0
Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Vor Prozessstart zu NSU 2.0-Drohserie: Doch Polizisten beteiligt?
Am Mittwoch beginnt der Prozess zur „NSU 2.0“-Drohserie. Nun wird bekannt:
Die Polizeiabfragen zu Anwältin Başay-Yıldız waren weit umfangreicher.
Rechtsextreme Drohschreibenserie: Anklage im Fall NSU 2.0 erhoben
Die Staatsanwaltschaft klagt einen 53-jährigen Berliner für 116 Schreiben
an. Die Betroffene Seda Başay-Yıldız sieht „weiter viele offene Fragen“.
Nach Nazi-Chats bei Spezialeinheit: Frankfurter SEK wird aufgelöst
Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) löst die Frankfurter Spezialeinheit
auf. Die Linke fordert Aufklärung.
Datenweitergabe aus Polizeicomputer: Daten gegen Cash
In Hamburg beginnt am Montag ein Prozess gegen eine Polizistin. Sie soll
sensible Daten von Bürger:innen gegen Geld herausgegeben haben.
Festnahme im „NSU 2.0“-Fall: „Kein Grund für Entwarnung“
Nach der Festnahme des „NSU 2.0“-Verdächtigen äußern sich Betroffene. Sie
zeigen sich „äußerst irritiert“ über Hessens Innenminister.
Rechtsextreme Hasskriminalität: Für Entwarnung ist es zu früh
Der Rechtsextremist, der Dutzende Gewaltdrohungen unter dem Kürzel „NSU
2.0“ verschickt haben soll, ist gefasst. Das ist gut. Doch es bleiben
offene Fragen.
NSU-2.0-Drohschreiben: Verdächtiger festgenommen
Seit gut zwei Jahren ermittelte die Polizei erfolglos zur rechtsextremen
NSU-2.0-Drohschreibenserie. Nun wurde ein 53-Jähriger in Berlin
festgenommen.
Belohnung zu NSU-2.0-Serie ausgesetzt: „Ich will nichts unversucht lassen“
Seit zwei Jahren wird die Anwältin Seda Başay-Yıldız von einem „NSU
2.0“-Drohschreiber bedroht. Nun setzt sie privat eine Belohnung auf
Hinweise aus.
taz-Recherche zu Drohmails: Wer steckt hinter „NSU 2.0“?
Seit Jahren bekommen Menschen, die sich gegen rechts stellen, Morddrohungen
vom „NSU 2.0“. Wer verschickt sie? Die Spur führt vor die Haustür eines
Polizisten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.