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# taz.de -- Gewalt gegen Frauen: Das Problem ist nicht die Straße
> Helfen Straßenlaternen gegen die Angst? Lauert die Gefahr wirklich im
> Dunkeln? Einige Einwürfe zu #reclaimthesestreets.
Bild: Demonstration Mitte März in Dublin nach der Ermordung von Sarah Everard
Hannover taz | Auf den ersten Blick wirkt das, was Sarah Everard passiert
ist, wie der Standard-Albtraum. Man sieht es förmlich vor sich, wie eine
hundertfach gesehene Filmszene: die schmale Silhouette einer Frau im Schein
einer Straßenlaterne, das Geräusch ihrer Absätze auf dem Asphalt, das
schwere Atmen des Mannes, der im Dunkeln lauert wie ein Raubtier. Ein
Klischee.
Richtig zynisch müsste man sagen: Für den Sonntagskrimi wäre es noch
besser, wenn sie eine fröhliche, blonde Medizinstudentin wäre oder eine
Krankenschwester. Die haben nämlich wenigstens einen triftigen,
unzweifelhaften Grund, sich nach der Schicht da draußen herumzutreiben,
einen selbstlosen, guten Grund, sind garantiert nicht sexy gekleidet oder
angetrunken oder sonst so etwas, was ihre Qualität als Opfer mindert.
Ja, auch das gehört zu diesem Themenkomplex: Es gibt eine Hierarchie der
Opfer. Sexuell aktive Frauen oder gar eine migrantische Sexarbeiterin? Da
wird man als erstes einmal anzweifeln, ob das überhaupt eine „richtige“
Vergewaltigung war. Die haben ihr sexuelles Selbstbestimmungsrecht ja quasi
schon vorher aufgegeben.
Auch im Fall Sarah Everard wiesen einige schwarze Aktivist:innen darauf
hin, dass die öffentliche Empörung viel damit zu tun haben könnte, dass sie
weiß war und aus der Mittelschicht stammte, und der Täter Polizist. Eine
schwarze Frau hätte Gewalt durch Polizisten nicht so überraschend gefunden,
und ob ihr Verschwinden aus einem ärmeren Stadtteil die Nation so sehr in
Atem gehalten hätte, ist fraglich.
## Die konfektionierte Angstfantasie hat ein paar Haken
Im wirklichen Leben funktioniert das Täter-Opfer-Schema ja oft nicht so
klar. Auch deshalb hat diese konfektionierte Angstfantasie ein paar Haken.
Das fängt schon damit an, dass der Täter selten der Fremde aus der
Dunkelheit ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass du von demjenigen vergewaltigt
wirst, der dich abends durch die dunklen Straßen nach Hause begleitet, ist
um ein Vielfaches höher.
Die meisten Vergewaltiger sind Bekannte, Freunde, Kollegen, Vorgesetzte,
Nachbarn, Liebhaber oder Ehemänner. Gegen die hilft kein Pfefferspray, kein
Schnellergehen, kein Dunkle-Ecken-Meiden und auch kein Gender-Mainstreaming
in der Stadtplanung. Auch wenn natürlich prinzipiell nichts dagegen
spricht, Städte so zu gestalten, dass sie für alle Menschen angenehmer
sind.
Was aber schlimmer ist: Wenn es passiert ist, wenn einer dieser Männer in
deinem Leben dich vergewaltigt – dann fügt er sich oft einfach nicht ein in
diese Fantasie-Erzählung vom Raubtier aus der Dunkelheit. Du kanntest den
doch. Warum hast du nichts gemerkt, welches Signal hast du missdeutet oder
falsch gesendet? Das sind die Schuldgefühle, mit denen sich
Vergewaltigungsopfer herumschlagen müssen. Das ist einer der Gründe, warum
viele zögern, Anzeige zu erstatten, warum sich das Umfeld so oft weigert,
einem Opfer zu glauben.
Und gleichzeitig ist die Erzählung vom Raubtier in der Dunkelheit ein
wirksames Mittel, um die Bewegungsfreiheit von Frauen einzuschränken. Ein
braves Mädchen, eine anständige Frau bleibt eben besser zu Hause – oder
bewegt sich nur im Rudel oder mit schützender männlicher Begleitung im
gefährlichen Draußen. Damit ist dann praktischerweise auch die soziale
Kontrolle sichergestellt.
Und wenn sie darauf pfeift und sich einbildet, sie habe ein Recht, sich
einfach so frei zu bewegen? Tja, dann hat sie Pech gehabt, wenn doch was
passiert, sie ist das Risiko ja eingegangen.
Absurderweise unterschätzen Männer chronisch ihr eigenes Risiko, zum Opfer
von Gewalt zu werden. Statistisch betrachtet laufen sie viel eher Gefahr,
in eine Schlägerei verwickelt oder zum Opfer eines Raubes zu werden. Aber
nahezu jede Umfrage ergibt, dass sie sich nachts auf der Straße viel
weniger unsicher fühlen als Frauen. Auch über sexuellen Missbrauch von
Jungen wird ganz anders berichtet als bei Mädchen.
Aber anders als Mädchen wachsen Jungs ja auch nicht mit Opfer-, sondern mit
Heldenerzählungen auf. Sie wiegen sich in dem Glauben, sie hätten das im
Griff und wüssten, wie zu reagieren sei. Kick, Box, Peng. Mit der Erfahrung
von Ohnmacht und Ausgeliefertsein umzugehen, lernen sie selten.
## Belästigungen am helllichten Tag
Für die meisten Frauen ist die Bedrohung auf der Straße eine andere. Sie
endet – statistisch betrachtet – seltener in Vergewaltigung und Mord als
die meisten Krimis uns glauben machen wollen, dafür ist diese Bedrohung
viel alltäglicher und widerlicher: die permanente Belästigung.
Wie die meisten Frauen habe auch ich eine lange Erfahrungsliste von mehr
oder weniger heftigen Vorfällen dieser Art: die Erinnerung an Pfiffe und
Sprüche, an Männer, die hinter oder neben mir her liefen, mir den Weg
versperrten, unvermittelt zugrapschten, sich vor mir einen runterholten.
Es sind Machtdemonstrationen im öffentlichen Raum und oft auch am
helllichten Tag. Ich habe meine Zweifel, dass man dagegen mit
Straßenlaternen und Überwachungskameras ankommt, wie es auch in der Folge
dieses Londoner Falls mal wieder diskutiert wurde.
Und es tröstet mich nicht wirklich, dass es unterprivilegierte Loser sind,
die das nötig haben, weil die privilegierten Gewinner das anderswo und nur
geringfügig subtiler austoben – [1][#MeToo] lässt grüßen.
Das schmerzhafte Gefühl der Verletzlichkeit kommt aus diesen zwei Quellen:
zum einen dem Bewusstsein, in den meisten Fällen an Körperkraft unterlegen
zu sein – egal wie fleißig du trainierst –, und zum anderen aus der
Erfahrung, Verfügungsmasse zu sein, immer und überall zum Objekt von
Blicken, Kommentaren oder unerwünschten Berührungen werden zu können. Das
ist der Erfahrungshorizont, den Männer schwer nachvollziehen können.
Lange, zu lange wurden Mädchen darauf trainiert, möglichst wenig Zicken zu
machen, kein Aufsehen zu erregen, unangenehme Situationen wegzulächeln.
Mädchen sollen gefallen, für Harmonie und Ausgleich sorgen, Verständnis
haben – das ist so tief in unserer Sozialisation verankert, dass es schwer
herauszubekommen ist, bis heute.
## Mühsam antrainierte Abwehrmechanismen
Wie die meisten Frauen habe ich irgendwann gelernt, blitzschnell die Lage
abzuchecken – wie viele sind es, wie kräftig, wie schnell, gibt es Zeugen,
Fluchtwege, wie laut und wütend kann ich jetzt werden, ohne allzu viel zu
riskieren?
Es hat lange gedauert, sich das anzutrainieren und es war mühsam. Jetzt bin
ich schon zu alt, um noch ins Beuteschema zu passen, es hat ja seinen
Grund, warum so etwas vorzugsweise Mädchen und jungen Frauen passiert – die
sind nicht nur attraktiver, sondern auch leichter zu verunsichern,
jedenfalls konnten Täter das bisher so sehen.
Aber vielleicht dreht sich ja jetzt endlich etwas und all die
Heimweg-Geschichten, die vor allem junge Frauen unter
[2][#reclaimthesestreets] und [3][#justwalkinghome] erzählen, bewirken
tatsächlich etwas. Immerhin wächst die Wut und Empörung und es sinkt die
Bereitschaft hinzunehmen, dass immer wir Frauen diejenigen sind, die ihr
Verhalten anpassen, sich einschränken und auf der Hut sein müssen.
## Gute Kerle nützen nichts, wenn sie schweigen
Vielleicht dämmert es ja irgendwann auch denjenigen, die sich jetzt noch
hinter der Parole [4][#notallmen] verstecken, dass es mehr braucht als nur
die Behauptung „Ich mache so was ja nicht“. Gute Kerle nützen uns nichts,
so lange sie schweigen.
Und so bitter das aus feministischer Perspektive sein mag: Sozial geächtet
ist eine Verhaltensweise noch nicht, wenn eine empörte Frau darauf
hinweist. Aber ganz sicher in dem Moment, in dem der Kumpel das Gesicht
verzieht und sagt: „Alter, wie bist du denn drauf?“
Möglicherweise muss es schlimmer werden, bevor es besser wird. Die Pandemie
hat vieles verschärft, die menschenleeren Straße auf dem Heimweg wie die
häusliche Gewalt.
## Noch ist der Kampf nicht entschieden
Gleichzeitig erfährt das Thema eine neue Aufmerksamkeit, und die Sammlungen
unter diesem oder jenem Hashtag machen eindrücklich klar, wie verbreitet
das Problem ist – und wie weit es über ein paar private Anekdoten
hinausgeht. Natürlich formiert sich im Internet genauso eine radikale
Gegenbewegung aus Männerrechtlern, Pick-up-Artists und Incels – aber bisher
scheint diese eher laut als zahlreich zu sein.
So ganz entschieden ist dieser Kampf noch nicht. Gewonnen ist er erst, wenn
Frauenkörper nicht länger als Verfügungsmasse angesehen werden – weder im
öffentlichen noch im privaten Raum.
7 Apr 2021
## LINKS
[1] https://twitter.com/hashtag/metoo?src=hashtag_click
[2] https://twitter.com/hashtag/ReclaimTheseStreets?src=hashtag_click
[3] https://twitter.com/hashtag/justwalkinghome?src=hashtag_click
[4] https://twitter.com/hashtag/NotAllMen?src=hashtag_click
## AUTOREN
Nadine Conti
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