# taz.de -- Nach dem Mord an Sarah Everard: Wenn Angst normal ist | |
> Nach dem Mord an der Britin Sarah Everard ist die Debatte um die | |
> Bedrohung von Frauen im öffentlichen Raum wieder aufgeflammt. Ein | |
> Aufschrei. | |
Bild: Sicher in Dublin? Wandbild der Küstlerin Emmalene Blake | |
Hamburg taz | Als mir gezeigt wurde, wie ich einen Schlüssel zwischen | |
meinen Fingern halten muss, um ihn als Waffe zu benutzen, war ich 14 Jahre | |
alt. Eine Freundin erklärte es mir: den Schlüssel zwischen Zeige- und | |
Mittelfinger und eine Faust machen. „Für den Weg nach Hause“, meinte sie. | |
„Das tut bestimmt richtig weh im Auge.“ | |
Benutzt habe ich ihn bisher noch nicht, in der Hand habe ich meinen | |
Schlüssel immer, wenn ich allein nach Hause gehe. Oder renne. | |
Gerade jetzt ist die Debatte um die Sicherheit von Frauen im öffentlichen | |
Raum wieder hochgekocht. Auslöser war [1][das Verschwinden der 33-jährigen | |
Britin Sarah Everard]. Sie war am 3. März gegen 21 Uhr von Freunden im | |
Süden Londons aufgebrochen, um nach Hause zu gehen. Dort kam sie nie an. | |
Am 6. März begann man offiziell nach ihr zu suchen, vier Tage später wurde | |
die Leiche der jungen Frau etwa hundert Kilometer außerhalb von London | |
gefunden. Während der Ermittlungen wurde ein dringend tatverdächtiger | |
Polizist festgenommen. Er ist angeklagt, die junge Frau entführt und | |
ermordet zu haben. | |
## Welle der Wut | |
Eine Welle der Wut rollte durch die sozialen Medien. Wieder stirbt eine | |
Frau durch die Hand eines Mannes. Wieder ist der Nachhauseweg ein Ort der | |
Gewalt. | |
Am 13. März hielten Hunderte eine Mahnwache ab, in der Nähe des Ortes, an | |
dem Sarah Everard das letzte Mal gesehen worden war. Die Polizei | |
[2][beendete die Veranstaltung gewaltsam], wegen Verstoßes gegen | |
Coronaregeln. Es kam zu Verhaftungen und einer weiteren Demonstration, | |
diesmal vor dem Sitz von Scotland Yard in London: Die Demonstrierenden | |
forderten „Gerechtigkeit für Sarah“, [3][das Ende von Polizeigewalt] und | |
von Gewalt gegen Frauen. | |
Auf vielen Demonstrationsplakaten von Teilnehmerinnen stand: „We could all | |
be Sarah“(„Wir alle könnten Sarah sein“). Wir Frauen haben unsere | |
Schutzstrategien perfektioniert. Trotzdem wird weltweit jede dritte im | |
Laufe ihres Lebens Opfer von sexueller Gewalt, die Dunkelziffer liegt | |
höher. Trotzdem stirbt in Deutschland alle drei Tage eine Frau durch | |
häusliche Gewalt. | |
Nach Sarah Everards Tod entstand – vor allem auf Instagram und Twitter – | |
die Bewegung #textmewhenyougethome („Schreib mir, wenn du zu Haue bist“). | |
Jede Frau kennt diesen Satz, ob gesprochen beim Verlassen einer Party oder | |
geschrieben von besorgten Freund*innen. | |
Unter dem Hashtag teilen Frauen ihre Erfahrungen von Übergriffen auf der | |
Straße und ihre Ängste, im öffentlichen Raum Opfer von (sexueller) Gewalt | |
zu werden. Sie erzählen, mit welchen Strategien sie sich vor möglichen | |
Angriffen schützen: vorgetäuschte Telefonate, Kapuze aufziehen, um die | |
Haare zu verdecken, und vieles mehr. | |
## Männer müssen Verhalten ändern | |
Auch unter #reclaimthesestreets („Holt euch diese Straßen zurück“) teilten | |
Frauen ihre Geschichten, vor allem aber formierte sich hier Protest. Es | |
geht nicht mehr um „Protect Your Daughters („Schützt eure Töchter“), | |
sondern um „Educate Your Sons“ („Erzieht eure Söhne“). Nicht die Frauen | |
sollen weiter ihre Schutzstrategien verbessern, Männer sollen über ihr | |
Verhalten in der Öffentlichkeit nachdenken. | |
Viele Nutzer*innen teilten daraufhin in den sozialen Medien | |
Verhaltenstipps für Männer, damit sich Frauen im öffentlichen Raum | |
sicherer fühlen: Abstand halten, nicht hinterherjoggen, Hilfe anbieten. | |
Natürlich richten sich diese Aufforderungen an Männer, die bereit sind, | |
ihre Mitverantwortung zu sehen. Andere rüsten sich zum Gegenprotest. Unter | |
#notallmen („Nicht alle Männer“) regen sich manche darüber auf, dass alle | |
Männer als Vergewaltiger dargestellt würden. Das das nicht die Aussage der | |
Debatte ist, scheint bei ihnen nicht ganz angekommen zu sein. | |
Sarah Everards Tod war zwar der Auslöser der aktuellen Diskussion, doch die | |
Wut ist immer da und ein gutes Ende ist nicht in Sicht. Also bleibt nichts | |
weiter übrig, als weiter auf die Angst von Frauen im öffentlichen Raum | |
aufmerksam zu machen – bis kein Mädchen mehr lernen muss, wie man mit einem | |
Schlüssel Augen aussticht, um sich auf den Straßen ihrer Welt sicher zu | |
fühlen. | |
Den ganzen Schwerpunkt zur Gefährdung von Frauen (nicht nur) im | |
öffentlichen Raum lesen Sie in der taz am Wochenende am Kiosk oder | |
[4][hier]. | |
2 Apr 2021 | |
## LINKS | |
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[4] /!114771/ | |
## AUTOREN | |
Nele Aulbert | |
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