# taz.de -- Britische Frau verschwunden: Unausgeschriebene Ausgangssperre | |
> In London verschwindet eine junge Frau auf ihrem Nachhauseweg. Der Fall | |
> hat einen Aufschrei ausgelöst für mehr Sicherheit für Frauen. | |
Bild: In London auf dem Nachhauseweg verschwunden: Sarah Everard | |
Schreib mir, wenn du gut zu Hause angekommen bist. Nimm deinen | |
Schlüsselbund in die Hand, zwischen jeden Finger einen Schlüssel gesteckt. | |
Lauf mitten auf der Straße. Trag deine Haare nicht offen, am besten setz | |
eine Kapuze auf. Zieh Schuhe an, in denen du rennen kannst. Wähle 110 auf | |
deinem Handy vor, installiere das Emergency SOS-Tool auf deinem Smartphone. | |
Nimm lieber einen Umweg und lauf nicht durch den schlecht beleuchteten | |
Park. | |
Das alles sind Empfehlungen, die Frauen und anderen Menschen, die von | |
patriarchaler Gewalt bedroht sind, gegeben werden, wenn sie abends oder | |
[1][nachts alleine auf der Straße unterwegs sind]. | |
Dass Frauen auf der Straße aufpassen und sich fürchten müssen, wird als | |
normaler Zustand in unserer Gesellschaft gesehen. Aber auch einer, gegen | |
den immer wieder aufbegehrt wird – wie aktuell in Großbritannien. Dort | |
posten seit ein paar Tagen tausende User:innen unter #ReclaimTheStreets | |
und #ReclaimTheNight Sicherheitsvorkehrungen, die sie nachts auf den | |
Straßen vornehmen. Jedoch nicht, um diese als Tipps weiterzugeben, sondern | |
anklagend und voller Wut. Sie erzählen von ihren Erfahrungen, die sie auf | |
dem Nachhauseweg gemacht haben, von der ständigen Angst, die sie vor allem | |
nachts begleitet. Sie fordern: Sicherheit auf den Straßen für alle – auch | |
nachts. | |
Auslöser für den Aufschrei ist das Verschwinden von Sarah Everard in | |
London. Die 33-Jährige war am 5. März bei einer Freundin zu Besuch, gegen | |
21 Uhr machte sie sich zu Fuß auf den 50-minütigen Nachhauseweg. Seitdem | |
ist sie verschwunden. Die Vermisstenanzeige der jungen Frau ging in | |
Sozialen Medien viral, wurde von Angehörigen, Prominenten und | |
Politiker:innen geteilt. Mittlerweile hat die Polizei eine noch nicht | |
identifizierte Leiche in einem Waldstück in Kent gefunden. Nach | |
Auswertungen von Überwachungskameras wurde ein Polizist einer Elite-Einheit | |
unter dringendem Tatverdacht wegen Kidnapping und Mord von Everard | |
festgenommen. | |
Dass gerade dieser Fall einer verschwundenen Frau so viel Aufmerksamkeit | |
auf sich zieht, liegt auch an der Reaktion einzelner Männer und der | |
Behörden. Neben tausenden Solidaritäts- und Mitleidsbekundungen lassen sich | |
auch vielfache Tweets von Victim Blaming unter dem Hashtag #SarahEverard im | |
Netz finden. Wieso sie denn noch so spät auf der Straße unterwegs gewesen | |
sei? Was sie denn für Klamotten getragen habe? Verstärkt wurde das von der | |
Polizei, die Frauen in London-Clapham riet, nachts nicht mehr alleine auf | |
die Straße zu gehen. | |
## Männer, nicht Frauen, müssen ihr Verhalten ändern | |
Ein Rat, der vielleicht gut gemeint ist, jedoch die Verantwortung auf die | |
Falschen abwälzt. Nicht Frauen sind es, die ihr Verhalten anpassen sollten, | |
sondern Männer. Männer sollten aufhören zu belästigen, zu kidnappen, zu | |
vergewaltigen, zu morden. So sieht es auch die Poltikerin Jenny Jones von | |
der Green Party. Als Reaktion auf die Aussage der Polizei schlug sie eine | |
Ausgangssperre für alle Männer ab 18 Uhr vor, damit Frauen sich frei und | |
sicher auf der Straße bewegen können. Eine plakative Forderung, vermutlich | |
nicht ganz ernst gemeint, die die Verhältnisse aber einmal umdreht – und | |
richtigstellt. | |
Der britische Premierminister Boris Johnson twitterte am Donnerstag zum | |
Fall Everard, dass er „schockiert und tief traurig“ sei. Und weiter: „Wir | |
müssen uns beeilen, alle Antworten zu diesem schrecklichen Verbrechen zu | |
finden“. Dass es ihnen nicht nur um diesen einen Fall geht, wollen tausende | |
Feminist:innen am Wochenende in Form von Mahnwachen zeigen. Sie fordern | |
ein generelles Umdenken von Politik und Gesellschaft, um Frauen in der | |
Gesellschaft besser zu schützen. | |
Laut einer von der [2][britischen Vertretung von UN Women veröffentlichten | |
Studie] haben 97 Prozent aller Frauen zwischen 18 und 24 Jahren schon | |
sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum erfahren. Dass dieses Problem | |
nicht allein ein britisches, sondern ein weltweites ist, sollte klar sein. | |
Es gibt kein Land, in dem es keine patriarchale Gewalt gibt. | |
Ausgangssperren – egal für wen – können dabei keine Lösung sein. Denn | |
Frauen sind nicht nur auf der Straße patriarchaler Bedrohung ausgesetzt. | |
Statistisch gesehen ist das [3][eigene Zuhause der gefährlichste Ort für | |
Frauen]. Denn wenn es um Missbrauch, Vergewaltigung und Tötungsdelikte | |
geht, ist der Täter in den meisten Fällen der (Ex-)Partner. | |
Um Frauen also weltweit auf der Straße, im Netz und im eigenen Zuhause zu | |
schützen, braucht es dringend bessere Gesetze, mehr Schutzeinrichtungen und | |
vor allem eine Gesellschaft, die bereit ist, ihre patriarchalen Strukturen | |
abzubauen. Ein erneuter Aufschrei, wie aktuell in Großbritannien, kann | |
dafür ein wichtiger Anstoß sein. | |
12 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Sexuelle-Belaestigung-auf-der-Strasse/!5552191 | |
[2] https://www.unwomenuk.org/safe-spaces-now | |
[3] /Geschlechtsspezifische-Gewalt/!5640442 | |
## AUTOREN | |
Carolina Schwarz | |
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