# taz.de -- Diskriminierung von Sinti und Roma: Der lange Weg zur Anerkennung | |
> Bis heute begegnen Sinti*zze und Rom*nja Vorurteilen. Nicht nur in | |
> Behörden fehlt es oft an Verständnis für die Traumata der Familien. | |
Bild: Ort des Grauens: Vom Hannoverschen Bahnhof wurden viele Hamburger Sinti d… | |
BREMEN taz | In ihrem zweiten Fall ermittelten die Hamburger | |
„Tatort“-Kommissare Stoever und Brockmöller 1989 in einer alteingesessenen | |
Hamburger Sinti-Familie. Den Täter fanden sie dann ganz woanders, dennoch | |
sah der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma in dem Film „kein rassistisches | |
Klischee ausgelassen“, wie die taz dessen Vorsitzenden Romani Rose | |
zitierte. Was den NDR nicht davon abhielt, den Film 2015 zu wiederholen. | |
Wer sich heute über „Armer Nanosh“, dessen Drehbuch Martin Walser | |
mitverfasste, informieren will, stößt im entsprechenden | |
[1][Wikipedia-Eintrag] auf die Fremdbezeichnung, die die meisten | |
Angehörigen dieser Minderheit entschieden ablehnen. Dafür fehlt der Hinweis | |
auf die Kritik völlig. | |
Als der Zentralrat 2017 den SWR-Kinderfim „Nellys Abenteuer“ mit ähnlichen | |
Argumenten kritisierte, war er nicht mehr so allein wie 1989. Und erst | |
recht nicht, als sich vor Kurzem vier mehr oder weniger bekannte | |
TV-Menschen [2][in einer WDR-Talkshow darüber mokierten], dass Sinti*zze | |
und Rom*nja diskriminierende Fremdbezeichnungen ablehnen. Die zahlreichen | |
Proteste in alten und neuen Medien brachten Redaktion und Teile der | |
Talk-Gäste dazu, sich zu entschuldigen. | |
Seit der Initialzündung für die Bürgerrechtsbewegung der Sinti*zze und | |
Rom*nja in Deutschland 1980 mit einem [3][Hungerstreik in der | |
KZ-Gedenkstätte Dacha]u ist die Selbstorganisation kontinuierlich | |
gewachsen. Der erstmaligen Anerkennung des Völkermordes an 500.000 | |
europäischen Sinti*zze und Rom*nja durch die Bundesregierung und der | |
Gründung des Zentralrates 1982 folgte der Aufbau einer flächendeckenden | |
Struktur mit 16 Landesverbänden und Mitgliedsvereinen, zahlreichen | |
Beratungsstellen und einem Dokumentationszentrum. In einigen Städten wie | |
Hamburg, Hannover und Oldenburg gibt es daneben seit Langem vom Zentralrat | |
unabhängige Verbände. | |
## Denkmäler und eigene Strukturen | |
In Berlin wurde das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten | |
Sinti*zze und Rom*nja Europas gebaut, in vielen Gemeinden entstanden | |
lokale Erinnerungsorte wie [4][am Hannoverschen Bahnhof in Hamburg] oder | |
[5][am alten Schlachthof in Bremen]. | |
Die Bürgerkriegsflüchtlinge sowie die vor Rassismus in ihren | |
Herkunftsländern geflohenen Rom*nja aus Südosteuropa haben eigene Vereine | |
und Jugendorganisationen gegründet wie in Hamburg, Göttingen und Hannover. | |
Junge Sinti*zze und Rom*nja arbeiten in den sozialen Medien verstärkt in | |
Foren wie Sinti-Roma-Pride zusammen. Gerade wurde der erste | |
Studierendenverband der Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland gegründet. | |
Dank dieser Bewegungen sind in Schleswig-Holstein als erstem Bundesland die | |
Sinti*zze und Rom*nja seit 2012 als Minderheit anerkannt, soll in Bremen | |
ein Staatsvertrag ihre Minderheitenrechte garantieren. In einigen Städten | |
wie Kiel und Hamburg arbeiten Bildungsberater*innen aus der Community | |
in den Schulen, es gibt zahlreiche Förderprogramme im Bereich Bildung und | |
Kultur. | |
Wer sich als Angehöriger der Mehrheitsgesellschaft in diesem Feld bewegt, | |
spürt eine große Kraft und Dynamik. Aber genauso, wie stark die Erfahrung | |
der Ausgrenzung und Stigmatisierung weiter wirken. Wie die | |
Emanzipationsbestrebungen ständig an eine Grenze stoßen, für die es heute | |
zumindest einen Begriff gibt: Antiziganismus. | |
Den spürt er zum Beispiel beschämend direkt, wenn er mit einem Sinto eine | |
Förderung für ein gemeinsames Projekt beantragt, aber die Förder*in | |
ständig nur ihn anspricht – wie den Ehemann beim gemeinsamen Autokauf mit | |
der Ehefrau in den 1950er-Jahren. | |
Den spürt er, wenn sich Bremer Sinti*zze im Sommer 2015 – lange bevor bei | |
dem Anschlag von Hanau auch drei Rom*nja ermordet wurden – nicht zu einem | |
gemeinsam geplanten Konzert trauen, weil versprengte Teilnehmer*innen | |
einer Nazi-Demo aus Hamburg nach Bremen unterwegs seien sollen. | |
In Zahlen drückt sich der Antizigansimus aus, wenn einer aktuellen Studie | |
81,2 Prozent der Sinti*zze und Rom*nja in Schulen | |
Diskriminierungserfahrungen machen – was auch dazu führt, dass Eltern ihren | |
Kindern oft raten, ihre Identität zu verbergen. Vor allem aber drückt | |
Antiziganismus sich in dem Blick aus, den die Medien und Behörden in der | |
Regel auf sie haben: Problem oder Exot. | |
Dieser institutionelle Blick korrespondiert oft mit dem Vorwurf, sich nicht | |
genügend zu öffnen – was allein schon angesichts der oben beschriebenen | |
Bemühungen um Sichtbarkeit und Teilhabe merkwürdig ist. Er ist schäbig | |
angesichts der Rolle, die Polizei, Wissenschaft, Medizin und andere | |
Institutionen beim Völkermord hatten. Und er ist schäbig angesichts der | |
systematischen Schikanierungen und Vertreibungen in den Jahrzehnten nach | |
Gründung der Bundesrepublik. | |
Nicht nur in Bremen und Hamburg wurden die Überlebenden und ihre Kinder von | |
einem kontaminierten Lagerplatz zum nächsten vertrieben, während sie um den | |
Großteil ihrer Familien trauerten, um Entschädigungen bei Bürokraten | |
betteln mussten, die nach 1945 auf ihren Posten geblieben waren. | |
In Gesprächen mit älteren Sinti *zze taucht hin und wieder der Begriff | |
„Freigänger“ auf. So hätten sich die Überlebenden der Konzentrationslager | |
gefühlt, als gar nicht wirklich befreit, sondern jederzeit in der Gefahr, | |
wieder „eingesammelt“ zu werden. Ihren Kindern und Enkeln haben sie | |
vermittelt, vorsichtig zu sein. In fast jeder Familie gibt es Erinnerungen | |
daran, wie Kinder aus der Schule heraus verhaftet wurden. | |
## Schule ist kein „sicherer Ort“ | |
„Deshalb ist die Schule in der kollektiven Erinnerung kein sicherer Ort, an | |
dem Kinder ungestört lernen können, sondern ein Ort, an dem rassistische | |
Übergriffe die Regel waren und bis heute noch sind“, sagt Hajdi Barz vom | |
Verein Romani-Phen. „Dabei geht es nicht um die oftmals unterstellte | |
Bildungsferne oder Bildungsablehnung, sondern um diese konkreten | |
Gewalterfahrungen. Dieses Wissen fehlt aber in der | |
Lehrer*innen-Ausbildung. Lehrkräfte lernen nichts über die Traumata, die | |
ihre Schüler*innen vielleicht mitbringen.“ | |
„Unser Ziel heißt: Respekt“ nannte der Landesverein der Sinti in Hamburg | |
vor Jahren eine Broschüre. Und erlebt nun, wie dieser nicht mal an den | |
Gedenkorten selbstverständlich ist: Das Berliner Denkmal wird durch eine | |
geplante U-Bahn-Untertunnelung bedroht, am Hannoverschen Bahnhof soll | |
[6][eine Firma, die eng mit den Nazis kooperierte], ins gleiche Haus wie | |
das geplante Dokumentationszentrum einziehen. | |
Der Weg zur Gleichberechtigung führt nicht an den Institutionen vorbei. | |
Damit Sinti*zze und Rom*nja selbst in die Rundfunkräte, Ministerien, | |
Lehrer*innenzimmer und Redaktionen einziehen braucht es keine | |
Belehrungen, sondern Solidarität. | |
Den ganzen Schwerpunkt zur Lage von Sinti*zze und Rom*nja im Norden | |
lesen Sie in der taz am Wochenende – am Kiosk oder [7][hier]. | |
26 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Tatort:_Armer_Nanosh | |
[2] /WDR-Talkshow-Die-Letzte-Instanz/!5744938 | |
[3] /Aufstand-der-Sinti-vor-40-Jahren/!5673397 | |
[4] /Gedenkort-fuer-Sinti-und-Roma/!5404427 | |
[5] /NS-Morde-an-Sinti-und-Roma/!5752596 | |
[6] /NS-Opferverbaende-rufen-Schlichterin-an/!5757131 | |
[7] /e-Paper/Abo/!p4352/ | |
## AUTOREN | |
Ralf Lorenzen | |
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