| # taz.de -- Sinti-Vereinsvorsitzender über Vorurteile: „Es mangelt an Aufkl�… | |
| > Hermann Ernst, Vorsitzender des Bremer Sinti-Vereins, ist stolzer Sinto. | |
| > Er versucht zu verhindern, dass über Sinti gesprochen wird statt mit | |
| > ihnen. | |
| Bild: Möchte, dass die nachwachsende Sinit-Generation nicht dasselbe erlebt wi… | |
| taz: Herr Ernst, wie verstehen Sie sich als Sinto? | |
| Hermann Ernst: Wir haben eine Muttersprache, die Sinti-Sprache Sintitikes. | |
| Wir wachsen zweisprachig auf. Wir sprechen zu Hause Sinti-Sprache und die | |
| Kinder in der Schule Deutsch. Aber der Sinto bleibt immer in uns, denn wir | |
| haben bestimmte Kulturen. Und obwohl wir hier geboren sind und uns als | |
| Deutsche sehen, denn wir haben ja keine Heimat, so gesehen, trotzdem sagen | |
| wir: Wir sind Sinti und wir sind stolz darauf. | |
| Wie kommt dieses starkes Zugehörigkeitsgefühl unter den Sinti*zze und | |
| Rom*nja zustande? | |
| Wir sind schon als kleine Kinder damit aufgewachsen. Früher, als ich so | |
| sieben oder acht Jahre alt war, da haben unsere Eltern sich im Frühling | |
| getroffen mit mehreren und sind auf Reisen gegangen. Wir hatten immer | |
| Wohnungen hier in Bremen, aber wir sind trotzdem unterwegs geblieben. Wo | |
| wir dann standen, sind wir zur Schule gegangen. Nur der Drang war da, dass | |
| man ein paar Monate raus, also weg wollte, in die Freiheit. Das haben die | |
| Eltern uns mitgegeben und das kann man nicht so ablegen. Manche fahren | |
| jetzt nur die sechs Wochen, wie andere schulpflichtige Kinder auch, in den, | |
| ich nenne es mal Urlaub. Und wenn die Zeit dann um ist, dann müssen die | |
| Kinder wieder in die Schule. | |
| In Deutschland gibt es die Schulpflicht. Wenn es Familien gibt, die ihre | |
| Kinder nicht regelmäßig in die Schule schicken möchten, dann entstehen | |
| Konflikte. Wie kann man solche Konflikte lösen? | |
| Viele Sinti- und Roma-Familien hier in Bremen legen da großen Wert drauf, | |
| dass ihre Kinder regelmäßig zur Schule gehen, denn unsere Kinder sollten | |
| nicht dasselbe erleben wie wir. Sie sollten richtig zur Schule gehen, einen | |
| guten Abschluss machen und etwas lernen. Das ist unser Ziel. Viele von uns | |
| konnten nicht zur Schule und haben keine Möglichkeit gehabt. Das merkt man | |
| daran: Zur Beratung, die wir hier im Sinti-Verein anbieten, bei der wir zum | |
| Beispiel helfen, eine Wohnung zu finden, kommen viele ältere Leute, die | |
| eben nicht lesen und schreiben können. | |
| Welche Erfahrungen haben Sie persönlich bisher mit Diskriminierung gemacht? | |
| Ich bin in Woltmershausen groß geworden. Da war mein Elternhaus. Da habe | |
| ich einen Freundeskreis gehabt. Da bin ich gut mit allen ausgekommen. Von | |
| denen, mit denen ich mich nicht verstanden habe, habe ich dann mal | |
| „Zigeuner“ gehört, aber das haben wir dann geregelt und dann war das in | |
| Ordnung. Die Jüngeren, die wussten nicht viel von Sinti und Roma, aber die | |
| Älteren, die hatten Vorurteile. Die haben dann Sachen gesagt wie „Die | |
| klauen“ oder „Das waren bestimmt die Sintis“, wenn etwas weg kam. Aber ich | |
| muss sagen, wir konnten uns eigentlich immer durchsetzen. Wir konnten die | |
| Schule besuchen und haben uns da, wo wir gewohnt haben, gut verstanden. | |
| Und wie ist das heute? | |
| Vorsitzender vom Verein bin ich ehrenamtlich. Ich arbeite heute im | |
| Landschafts- und Gartenbau. Wir haben oft Neukunden. Wenn sie anrufen, dann | |
| stelle ich mich vor mit meinem Namen: „Ernst“. Und Ernst ist ja ein guter | |
| deutscher Name. Erst ist alles schön und gut, bis ich dann komme und | |
| aussteige, dann werde ich erst mal gemustert. Dann fragen manche: „Sie sind | |
| so ein bisschen dunkel, kommen sie nicht von hier?“ Dann sage ich: „Ich bin | |
| Deutscher.“ Manche glauben mir das nicht. Bei zig Leuten habe ich dann | |
| schon mal meinen Ausweis rausgeholt. Hätte ich nicht gebraucht, aber für | |
| manche ist das so unglaubwürdig, wenn man einen dunkleren Teint hat. | |
| Was machen Sie, wenn Sie so behandelt werden? | |
| Ich unterhalte mich dann mit den Leuten und kläre auf. Viele tippen bei mir | |
| erst einmal auf Italiener. Dann sage ich; „Nein, ich bin Sinto.“ Dann muss | |
| ich wieder anfangen aufzuklären: Wir Sinti stammen aus dem west- und | |
| mitteleuropäischen Raum und leben nachweisbar seit über 600 Jahren in | |
| Deutschland. Roma stammen aus und beheimaten den ost- und südeuropäischen | |
| Raum. Dann erkläre ich, dass wir hier geboren sind und unsere Wurzeln in | |
| Indien haben. Dann werden die Leute langsam lockerer. Die Leute hören dann | |
| interessiert zu und ich merke dann wieder, es mangelt an Aufklärung. | |
| Deswegen liegt uns das sehr viel dran, dass wir in die Öffentlichkeit gehen | |
| und das auch vor allem an die jüngere Generation weitergeben. | |
| Was macht Ihr Verein, um Vorurteile in der Gesellschaft abzubauen? | |
| Wir sind seit dem Anfang der 80er-Jahre die Anlauf-, Informations- und | |
| Beratungsstelle für Sinti und Roma, Ämter und Bürger. Wir setzten uns für | |
| gleichberechtigte Teilhabe der Sinti und Roma in Politik und Gesellschaft | |
| ein. Durch verschiedene Veranstaltungen wie zum Beispiel | |
| Musikveranstaltungen, Workshops und Gedenkfahrten in KZ-Gedenkstätten mit | |
| Schulen machen wir aufmerksam und erinnern an die Verfolgung und Ermordung | |
| während der NS-Zeit. Dieses Jahr hatten wir uns auch so viel vorgenommen. | |
| Durch die Coronapandemie lief es aber nicht so, wie wir wollten. Wir hatten | |
| aber beim Schlachthof wie jedes Jahr am 8. März den Gedenktag und haben | |
| einen Kranz niedergelegt. | |
| Gibt es viele Anfragen an Ihren Verein für Veranstaltungen? | |
| In Bremen und Bremerhaven sind wir gut vernetzt und erhalten ab und zu | |
| Anfragen für Vorträge an der Uni Bremen. Großes Interesse ist aber leider | |
| selten erkennbar. Der Völkermord an den Sinti und Roma wird oft im | |
| Schulunterricht nur am Rande erwähnt. Von 100 Prozent der Sachen, die wir | |
| machen, sind es vielleicht fünf Prozent, die angefragt sind. Bei vielen | |
| Debatten, die auch in den Medien geführt werden, da wäre es angebracht, | |
| einen Sinti einzuladen. Ich kann ja nicht über Sachen sprechen, wo der | |
| Betroffene nicht dabei ist. Wenn wir so etwas hören, natürlich schreiten | |
| wir da ein als Verein oder unser Zentralrat. Da wollen wir schon aufpassen, | |
| dass da alles richtig dargestellt wird. | |
| Ist es nicht merkwürdig, wenn Sie als Verein die Initiative ergreifen | |
| müssen, damit über Sie adäquat gesprochen wird? | |
| Das ist immer der Knackpunkt: Die Mehrheitsgesellschaft hat wenig | |
| Information über das realistische Leben unserer Minderheit. Antiziganismus | |
| in der Gesellschaft oder auch in den Medien beeinflussen das tägliche | |
| Handeln und Denken. Da müssen wir dann die Initiative ergreifen. Das geht | |
| ja nicht anders. Das lassen wir uns nicht mehr gefallen. Und es ist gut, | |
| dass wir uns so etwas nicht mehr gefallen lassen. Dafür brauchen wir | |
| weiterhin die Solidarität der Gesellschaft. Der Weg zur Gleichberechtigung | |
| ist noch weit. Wir erleben, dass rechtes Gedankengut stärker wird, es wird | |
| normal. Noch immer werden Sinti und Roma in ganz Europa diskriminiert. Und | |
| das ist Tatsache. | |
| Was für ein Fazit zieht man denn aus so einer Tatsache? | |
| Das wird, glaube ich, nie aufhören mit der Diskriminierung. Aber durch | |
| unsere Zusammenarbeit mit den Landesverbänden, Partnern, Netzwerken und dem | |
| Arbeitskreis haben wir die letzten 40 Jahre viel erreicht. Auch wenn wir | |
| weiterhin diskriminiert werden: Wir dürfen nie aufgeben. Wir dürfen das | |
| nicht. Diskriminierung hat es früher gegeben und sie besteht heute noch. | |
| Aber wir setzten uns ein und sind guter Dinge. | |
| 29 Mar 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Mahé Crüsemann | |
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