# taz.de -- Gedenkort für Sinti und Roma: Die Spur der Steine | |
> In der Hamburger Hafencity wird am Mittwoch der Hannoversche Bahnhof | |
> eingeweiht – ein Gedenkort auch für deportierte Sinti und Roma. | |
Bild: Gedenkort „Hannoverscher Bahnhof“: so sieht der siegreiche Entwurf f�… | |
Oben gleitet der 14:46-ICE nach Bremen vorbei, nur wenige hundert Meter vom | |
Hamburger Hauptbahnhof entfernt, nimmt er hier erst Fahrt auf. Drei Meter | |
unter dem Damm liegen drei wenige Meter lange Gleisstränge, die aus dem | |
Nichts kommen und ins Nichts führen, verbunden durch Flächen aus Stein und | |
Schotter. Parallel zu den Gleisen ist in Kniehöhe ein langes Gestell | |
angebracht, das zwanzig leicht abgeschrägte Tafeln trägt. Wendet man von | |
hier den Kopf nach links, führt der Blick durch zwei leicht wellenförmige, | |
sandfarbene Mauern zum Lohsepark mit seinen Baum- und Sitzgruppen, hinter | |
denen sich das Spiegel-Gebäude auftürmt. | |
„Wenn man dieses Denkmal sieht, hat es etwas von einem Friedhof“, sagt | |
Arnold Weiß, der Vorsitzende des Landesvereins der Sinti in Hamburg. „Das | |
Denkmal, wie es nun ist, ist eine Anerkennung für uns. Sinti werden an den | |
Rand der Städte getrieben, jetzt haben wir diese Gedenkstätte mitten in der | |
Stadt. Für mich ist es etwas Großes, was dort entstanden ist, und ich bin | |
froh, dass mein Großvater das noch miterleben kann.“ | |
## Das letzte Glas Wasser | |
Eine Stunde vorher stand er mit seinem 88-jährigen Großvater Rigoletto Weiß | |
hier zu einem Interviewtermin. Dem alten Mann war es schwergefallen, | |
darüber zu reden, was an diesem Ort vor 77 Jahren geschehen ist. „Zum Glück | |
haben wir das alles schon vor einiger Zeit aufgeschrieben“, sagt Arnold | |
Weiß. Sein Großvater hat ihm von früh an alles erzählt. | |
Der elfjährige Rigoletto und seine Familie gehörten zu den mindestens 1.264 | |
Sinti und Roma und 5.848 Juden, die zwischen 1940 und 1945 von hier in die | |
Gettos, Konzentrations- und Vernichtungslager in Ost- und Mitteleuropa | |
verschleppt wurden. 90 Prozent von ihnen wurden ermordet oder sind an den | |
Haftbedingungen zugrunde gegangen. | |
„Dort habe ich die ersten der grauenhaften Bilder gesehen, die mich mein | |
Leben lang nicht mehr losließen“, hat Rigoletto Weiß seinem Enkel einst | |
über seine Erlebnisse im Fruchtschuppen C erzählt, in dem am 16. Mai 1940 | |
910 Sinti und Roma aus ganz Norddeutschland gesammelt wurden. „Säuglinge | |
wurden an den Beinen gepackt und gegen die Pfeiler geworfen, das Gehirnmark | |
spritzte an die Wand.“ Nach wenigen Tagen wurden sie zum in der Nähe | |
liegenden Hannoverschen Bahnhof getrieben und in Waggons gesperrt. Dieser | |
erste Transport am 20. Mai 1940 ging in das von den Deutschen besetzte | |
polnische Belzec. | |
„Die Ermordeten sind irgendwo verscharrt worden, niemand weiß wo. Aber das | |
hier ist der letzte Ort, von dem man genau weiß, dass sie dort waren“, sagt | |
Arnold Weiß. „Dort haben sie das letzte Glas Wasser auf heimatlichem Boden | |
getrunken, von da aus ging es ins Verderben. Für die, die nicht | |
wiedergekommen sind, ist das der einzige Friedhof.“ | |
Seit Jahren schon versammeln sich die Hamburger Sinti und Roma am 16. Mai | |
am Lohsepark. „Das Gelände war lange eine Brache mit ziemlich viel Müll und | |
Sand. Es war unwürdig für eine Gedenkstätte“, sagt Arnolds Mutter Inge | |
Weiß, die die Beratungsstelle des Landesvereins in Wilhelmsburg leitet. | |
## Brisante Akten | |
Bis Anfang der 1980er-Jahre war nicht einmal bekannt, wo genau sich der | |
Fruchtschuppen C befand. Doch dann erfuhren die Aktivisten Rudko Kawzcinski | |
und Tornado Rosenberg, die als Duo Z mit politischen Lieder für die Rechte | |
der Roma und Sinti eintraten, von brisanten Akten. „In Hamburg hat man nach | |
1945 versucht, die Landfahrerkartei des Reichssicherheitshauptamtes wieder | |
aufzubauen“, erzählt Kawzcinski in den Räumen der von ihm gegründeten Rom | |
und Cinti Union (RCU) in Hamburg-Wandsbek. Als das bekannt wurde, landeten | |
die Akten im Staatsarchiv – versehen mit einer 50-jährigen Sperrfrist. | |
Wenige Monate zuvor hatten in der KZ-Gedenkstätte Dachau zwölf Sinti durch | |
einen Hungerstreik die Herausgabe der Akten der Münchner | |
Landfahrerzentrale erzwungen. Als jetzt auch in Neuengamme etwa 30 | |
Personen in den Hungerstreik traten, erhielten Kawzcinski und Rosenberg | |
Einsicht in die Akten. | |
„Aufgrund der Akten aus dem Staatsarchiv konnten wir dann Stück für Stück | |
rekonstruieren, wo der berüchtigte Fruchtschuppen C war“, erinnert sich | |
Kawzcinski. Über eine erste Gedenktafel an der Polizeiwache Nöldekestraße | |
in Harburg 1986 und eine zweite an der Baakenbrücke in der Hafencity 2001 | |
war es ein langer Weg bis zur Einweihung des neuen Gedenkorts | |
„Hannoverscher Bahnhof“ am kommenden Dienstag. Ein Weg, auf dem viele | |
mitgegangen sind, die das Ergebnis nicht mehr erleben. | |
## Langer Weg zum Denkmal | |
Damit sich die Hamburger Politik des Themas annahm, musste das Hafengelände | |
erst aus anderem Grund interessant werden. 2004, die Planungen für die | |
Hafencity nahmen Gestalt an, begann Kultursenatorin Karin von Welck | |
politische Gespräche, um einen Gedenkort am ehemaligen Hannoverschen | |
Bahnhof zu etablieren, an denen sich Opfer- und Betroffenenverbände wie die | |
Rom und Cinti Union, die jüdische Gemeinde und das Auschwitz-Komitee | |
beteiligten. | |
„Für Außenstehende sind es Gedenkstätten, für uns sind es Gräber“, sagt | |
Rudko Kawzcinski. „Wir können mit Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft | |
gemeinsam der Verantwortung gedenken, aber wir können nicht gemeinsam | |
fühlen. Es sind zwei verschiedene Dinge, deshalb muss man sich gegenseitig | |
zuhören. Das haben wir in der Expertenkommission gemacht und angefangen, | |
uns zu verstehen. Es ging nicht darum, etwas hinzustellen und dann | |
abzufeiern.“ | |
Grundstücksbesitzer und Investoren hatten zwischenzeitlich andere | |
Interessen, Behördenapparate liefen langsam. Aber innerhalb der Kommission | |
habe es kein Macht- oder Konkurrenzdenken gegeben, sagt Kawzcinski, der als | |
abschreckendes Beispiel die Entwicklung des Berliner Mahnmals für die Sinti | |
und Roma vor Augen hatte. „Dort haben die Nachfahren der Täter versucht zu | |
entscheiden, wie es aussehen soll und was darauf stehen soll. Das war | |
unwürdig, daraus haben wir gelernt.“ Für die Opferverbände war von | |
vornherein klar, dass das Denkmal dorthin gehört, wo die Deportationen | |
tatsächlich stattgefunden haben – auch wenn die Freilegung dieser Fläche | |
aufwendig war. „Es ist so angelegt worden, dass jeder dort vorbeigehen | |
muss, der zur U-Bahn will, man kann dem nicht ausweichen“, sagt Kawzcinski. | |
Ein wichtiges Element kam noch hinzu, als 2012 auch der Landesverein der | |
Sinti auf eigene Initiative in den Projektbeirat eintrat, in dem vorher | |
kein Sinto Mitglied war. „Als ich die Pläne sah, habe ich gefragt: Und wo | |
sollen wir unsere Kränze ablegen?“, erzählt Inge Weiß. „Dafür gab es ke… | |
angemessenen Ort, auch die Aufführung der Namen der Deportierten war noch | |
nicht geplant. Wir haben dann unsere Vorschläge eingebracht und es wurde so | |
umgesetzt, wie wir es uns vorgestellt haben.“ | |
## Lokale Erinnerung | |
Unter den Namen der Deportierten auf den schrägen Tafeln sind auch die der | |
mindestens 360 Sinti und Roma aus Flensburg, Lübeck, Kiel, Oldenburg, | |
Bremerhaven und weiteren norddeutschen Städten, die am 16. Mai 1940 | |
verhaftet und über den Hannoverschen Bahnhof deportiert wurden. In all | |
diesen Städten ist in den letzten dreißig Jahren eine lokale | |
Erinnerungskultur entstanden. Die historischen Bezugspunkte sind dabei | |
unterschiedlich. Wie in Hamburg wird auch in Kiel jährlich am 16. Mai am | |
Gedenkstein im Hiroshima-Park der Deportierten vom Hannoverschen Bahnhof | |
gedacht. In Lübeck gibt es zwar keine eigene Gedenkstätte für Sinti und | |
Roma, dort wird aber mit einem Fahnenwechsel am 16. Mai am Gedenkzeichen am | |
Lübecker Bahnhof an die Deportation 1940 erinnert. | |
Einweihung des Gedenkorts „Hannoverscher Bahnhof: Mittwoch, 10. Mai, 10.30 | |
bis 12 Uhr, Lohse-Park, Hafencity, Hamburg | |
Aus dem Nordwesten sind zwar auch zahlreiche Sinti und Roma 1940 über | |
Hamburg deportiert worden, die zweite große Deportationswelle nach dem | |
sogenannten „Auschwitz-Erlass“ Heinrich Himmlers 1942 führte aus Oldenburg, | |
Bremerhaven oder Ostfriesland allerdings über den ehemaligen Bremer | |
Schlachthof nach Auschwitz. Entsprechend erinnern die Bremerhavener Sinti | |
jährlich am 16. Dezember, dem Tag des Himmler-Erlasses, an ihre | |
verstorbenen Familienangehörigen. | |
„Man hat unsere Leute oft gefragt, warum sie es sich antun, nach Auschwitz | |
zu fahren, dorthin, wo ihre Eltern, Geschwister, Tanten und Onkel | |
umgekommen sind“, sagt Dardo Balke, der Geschäftsführer des Bremerhavener | |
Sinti-Vereins. „Wir haben keinen anderen Ort, um mal eine Blume oder einen | |
Kranz für sie abzulegen. Die Pflege der Gräber ist in unserer Kultur ein | |
hohes Gut.“ | |
## Fake News und Aufklärung | |
In die Erinnerung mischt sich die Sorge um die Zukunft. „Mit der Trauer | |
kommt auch immer das Gefühl hoch, dass wir immer noch ausgeschlossen sind, | |
dass die Rechten wieder stärker hochkommen, dass die Roma in ihren Ländern | |
diskriminiert werden“, sagt Dardo Balke. Die Nachfahren des Völkermordes | |
reagieren besonders wachsam auf die Veränderungen des gesellschaftlichen | |
Klimas, die sie als tägliche Bedrohung erleben. „Auschwitz ist mit seiner | |
industriellen Tötungsmaschinerie einmalig“, sagt Rudko Kawzcinski. „Aber | |
den Weg dahin, Menschen durch Fake News herabzuwürdigen, die Stimmung dafür | |
zu schaffen, Menschen auszusondern, mit einem Label zu versehen, den | |
erleben wir heute wieder. In Deutschland haben wir den Vorteil zu wissen, | |
wohin das führt, so bitter das klingt. Das soll diese Gedenkstätte auch | |
vermitteln. Auch gegenüber den Migranten, die teilweise ihre Vorurteile aus | |
ihren Heimatländern gegenüber den Sinti und Roma mit hierher nehmen.“ | |
Für diese Arbeit setzen alle an der Planung Beteiligten große Hoffnungen in | |
das künftige Dokumentationszentrum, in dem eine von der KZ-Gedenkstätte | |
Neuengamme geleitete Dauerausstellung zu sehen sein wird. „In Zukunft wird | |
unsere Geschichte im Dokumentationszentrum öffentlich weitergegeben, wir | |
müssen nicht mehr immer alles selbst erzählen“, sagt Arnold Weiß. Als sein | |
Großvater vor dem Gedenkort stand, habe er gesehen, dass Bilder durch | |
seinen Kopf gingen. „Er sagte zu mir: ‚Das ist wichtig, das ist ein | |
Gedenkort für uns. Aber es ist auch wichtig, dass es in der Zukunft | |
weitergeht.‘“ | |
Einweihung des Gedenkorts „Hannoverscher Bahnhof“: MIttwoch, 10. Mai, 10.30 | |
Uhr, Lohse-Park, Hafencity, Hamburg | |
8 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Ralf Lorenzen | |
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