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# taz.de -- Nationalmannschaft in der Krise: Wenn der Kick fehlt
> Früher fieberten alle mit, wenn die Nationalmannschaft spielte, heute
> nicht mehr. Unser Autor hat das Team lange begleitet. Ein Rückblick.
Bild: Deutschlandflaggen schienen 2006 Botschafter eines freundlichen Landes. N…
Es war der 8. Juli 1990. Wir hatten uns zum Fußballschauen verabredet. Das
Wetter in München war nicht besonders gut an dem Tag. Wir waren um die 20,
kannten uns aus der Schule, aus der Westkurve des Grünwalder Stadions oder
einfach so vom gemeinsamen Trinken in irgendeiner Wirtschaft. Weil wir uns
damals auch ein bisschen für Tennis interessiert haben, sind wir schon am
frühen Nachmittag zusammengekommen. Eine Deutschlandfahne in Schwarz, Rot
und Gelb, die einer von uns aufgetrieben hatte, hängten wir über die
Balkonbrüstung, bevor wir den Fernseher einschalteten. Als Boris Becker das
Endspiel von Wimbledon nach fünf Sätzen verlor, waren wir schon lange nicht
mehr nüchtern. Als endlich das Finale der Fußball-WM zwischen Deutschland
und Argentinien in Rom angepfiffen wurde, hatten wir noch mehr gesoffen.
Wie das Spiel verlaufen ist, hätte wahrscheinlich keiner von uns genau
sagen können. Später haben wir erfahren, dass das gar nicht so schlimm war,
weil eh nicht viel los war auf dem Platz. Dass die Auswahl des DFB
Weltmeister wurde, haben wir natürlich schon mitbekommen. Nach dem
Schlusspfiff sind wir in Richtung Siegestor gelaufen, um zu schauen, ob und
wie dort gefeiert wurde. Am nächsten Tag haben wir auf Fernsehbildern von
der Spontanfeier gesehen, dass einer von uns zu denjenigen gehörte, die das
Siegestor erklommen haben, um von oben auf München hinunterzujubeln.
Das WM-Turnier 1990 war für mich der Auftakt zu einer mal sehr, mal weniger
intensiven Beziehung zur deutschen Fußballnationalmannschaft. Begonnen hat
sie mit dem Versuch, so etwas wie ein Fan der DFB-Elf zu werden. Natürlich
wollte ich kein echter Anhänger sein. Das ging ja auch nicht wirklich in
einer Fußballnation, in der vor allem Vorstopper angehimmelt wurden. Jürgen
Kohler, Fußballgott! Es gab Andi Möller, Pierre Littbarski und Lothar
Matthäus. Angebetet wurden aber auch Spieler wie Hans-Peter Briegel, der
den Spitznamen „Walz aus der Pfalz“ trug.
Das schöne Spiel gehörte anderen. Ein Plakat der Weltmeistermannschaft von
1990 habe ich dennoch damals über mein Bett gehängt. Es sollte irgendwie
auch ein ironisches Statement sein. In den 90er Jahren begann, was bald in
die Polenwitze von Harald Schmidt mündete. Man fand etwas gut, wovon man
eigentlich wusste, dass es scheiße ist. War ja alles ironisch gemeint.
Dass es nicht ganz frisch ist, mit einer Deutschlandfahne über die
Leopoldstraße in München zu laufen, war mir durchaus klar. Es war
Wendezeit. Deutschland befand sich im Größenwahn. Bundeskanzler war Helmut
Kohl. Der ließ sich im Osten von Leuten feiern, die schwarz-rot-goldene
Fahnen schwenkten, und freute sich, wenn sie „Wir sind ein Volk!“ brüllten.
Nazis hatten angefangen, selbstbewusst ihre blanken Schädel durch die
Innenstädte zu tragen, und aus dem Osten hörte man die ersten Geschichten
über Baseballschläger schwingende Rassisten. Und da lief ich hinter einer
Deutschlandfahne durch die Stadt.
Heute fällt es mir schwer, das zu erklären. Aber weil es irgendwie anders
gemeint war, als es aussah, fand ich es damals in Ordnung. Und es gab genug
Leute in meinem Freundeskreis, die das ebenso hielten. Man hörte deutsche
Schlager, obwohl man sie eigentlich kaum ertragen konnte oder klebte sich
einen weiß-blau rautierten „Mia san mia“-Aufkleber auf den Aktenkoffer,
obwohl man eigentlich mit dieser CSU-vergifteten Bayerntümelei nichts
anfangen konnte. Deutschtümelei kam schon gar nicht infrage. Höchstens
ironisch. Da ging alles.
Später habe ich eine professionelle Beziehung zur Nationalmannschaft
entwickelt. Seit 2006 begleite ich als Sportreporter Spiele der
DFB-Auswahl. Auch diese Beziehung ist nicht immer einfach. Es war ein Auf
und Ab. Mal hatte das etwas mit den spielerischen Leistungen des Teams zu
tun, mal mit dem Auftreten des DFB-Stabs. Mal habe ich die
Nationalmannschaft als ein Abbild des modernen Deutschlands beschrieben, in
dem sich die Realität der Einwanderungsgesellschaft fast schon beispielhaft
widerspiegelt. Mal war ich fassungslos, wie wenig Sensibilität der DFB im
Umgang mit dem Thema Rassismus hat. Bisweilen habe ich den Spielvortrag der
deutschen Elitekicker wie ein Kunstwerk wahrgenommen. Und dann war es
wieder einmal kaum auszuhalten, wie sich der DFB und seine
Nationalmannschaft präsentierten.
Es gab einen natürlichen Höhepunkt mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft
2014 in Brasilien. Und eigentlich dachte ich, der Tiefpunkt sei erreicht,
als die Deutschen bei der folgenden WM 2018 in Russland bereits nach der
Vorrunde ausschieden. Doch es ging noch weiter bergab.
Ablesen konnte ich das immer an den Reaktionen von Freunden und Kollegen,
wenn ich mich wieder aufgemacht habe zu einem Länderspiel. Neben
Desinteresse, das es in linken Zusammenhängen beim Thema Fußball immer noch
gibt, ist es mal Neid, mal Mitleid gewesen, mit dem ich zu den Spielen der
Auswahl geschickt wurde. Es gab Zeiten, da hätte ich viel Geld verdienen
können, wenn ich Möglichkeiten gehabt hätte, Freunden Karten für ein
Länderspiel zuzuschanzen. Heute würde es mir wahrscheinlich schwerfallen,
jemanden zu finden, der mich begleitet.
Das Desinteresse an der Nationalmannschaft hat selbst große Fußballfans
erreicht. Gegen wen spielt Deutschland am kommenden Donnerstag? Viele
werden nicht wissen, dass mit dem Spiel gegen Island die WM-Qualifikation
für das Turnier in Katar 2022 beginnt. Katar? Das auch noch! Der DFB ist im
Beliebtheitskeller und spielt um die Teilnahme an einer WM in einem Land,
in dem Bauarbeiter ausgebeutet werden und zu Tode kommen, Homosexualität
verboten ist und von dem aus Terrororganisationen unterstützt werden. Der
Nationalmannschaftsfußball scheint am Ende zu sein. Wie konnte es so weit
kommen?
Am Ende ist auch Joachim Löw. Seit 15 Jahren ist er Cheftrainer der
DFB-Auswahl. Nach der Europameisterschaft im Sommer wird er aufhören. Das
Land braucht einen neuen Bundestrainer. Es gab Zeiten, da versetzte die
Trainersuche ganz Fußballland in einen Ausnahmezustand. Das ist in diesen
Tagen anders. Der DFB sucht einen neuen Bundestrainer, und keiner sucht
mit, undenkbar in früheren Zeiten.
Als Franz Beckenbauer nach dem Vorrundenaus der Deutschen bei der EM 1984
zum Teamchef gemacht wurde, gab es beinahe niemanden, der dazu keine
Meinung hatte. Und das war erst recht so, nachdem sich die Deutschen bei
der EM 2000 blamiert hatten. Christoph Daum sollte danach eigentlich
Bundestrainer werden. Doch es kursierten Gerüchte, er habe auf
Halbweltpartys Drogen konsumiert. Mit einer Haarprobe wollte er beweisen,
dass er kein Kokser ist. Doch der Test war positiv, und schließlich wurde
Rudi Völler Bundestrainer. Kein Thema hat die Republik in diesem Jahr mehr
aufgewühlt als die Bundestrainersuche.
Ich hatte sicher auch eine Meinung dazu. Oder mehrere. Auf jeden Fall kann
ich mich an heiße Diskussionen erinnern. Auch 2004, als Jürgen Klinsmann
installiert wurde, der spätere Sommermärchentrainer der Heim-WM 2006,
verfolgten nicht nur Fußballfans das Wirken einer damals eingesetzten
Trainerfindungskommission. Mit Klinsmann kam Joachim Löw als
Assistenztrainer zum DFB.
Löw war also ganz nah dran, als 2006 die deutsche Nationalmannschaft einen
wahren Nationalrausch ausgelöst hat. Die schwarz-rot-goldenen Männlein und
Weiblein in den Fanzonen haben es dem bürgerlichen Feuilleton angetan. Und
so mancher WM-Tourist hat sich gewundert über dieses lässige Deutschland,
wo niemand etwas sagte, wenn man laut singend, eine Flasche Bier in der
Hand, mit seinen Kumpanen durch die Innenstadt eines WM-Orts torkelte. Die
Deutschen malten sich die mexikanischen Farben auf die Backe, wenn Mexiko
in ihrer Stadt spielte, und wenn Trinidad und Tobago in Kaiserslautern
antrat, dann wurde in der Pfalz karibischer Karneval gefeiert. Die
Deutschlandfahnen, die in jenem Sommer ohne Regen aus so vielen Autos
wehten, schienen Botschafter eines freundlich gewordenen Landes zu sein. So
heiter kam der Nationalismus daher, dass man ihn beinahe für ironisch
hätte halten können.
So habe sich der Herrgott das Paradies vorgestellt, sagte Franz
Beckenbauer, den damals noch viele ganz unironisch „Kaiser“ nannten, bei
der Abschlusspressekonferenz der WM, bei der er als omnipräsenter Chef des
Organisationskomitees mit dem Hubschrauber von Spiel zu Spiel geflogen war.
Er ist mir vor der Pressekonferenz regelrecht in die Arme gelaufen. Ich war
ein wenig spät dran und stürmte in den Raum der Pressekonferenz tief unten
in den Katakomben des Berliner Olympiastadions. Der Kaiser war gerade auf
dem Weg zum Podium. Ich war zu schnell zum Ausweichen. Um ihn nicht
umzurennen, entschied ich, ihn zu umarmen, hob ihn ein wenig an und stellte
ihn, nachdem ich selbst zum Stehen gekommen war, wieder auf den Boden. Die
WM 2006 hatte durchaus etwas Erhebendes – auch für mich.
Dritte wurden die Deutschen bei diesem Turnier. Es brachte ein Traumpaar
hervor, das viele Deutsche ähnlich zum Knuddeln fanden wie den Eisbären
Knut, der im WM-Jahr 2006 im Zoo von Berlin zur Welt kam. Schweini und
Poldi wollten alle sehen. Michael Ballack, seinerzeit Deutschlands einziger
Spieler von Weltformat, musste ein wenig Platz machen im Sonnenlicht für
Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski. Sie waren nicht viel älter als
20 und hatten den Deutschen schon während der Weltmeisterschaft Spaß
gemacht. Nach dem Turnier setzte sich das fort.
Joachim Löw war nun alleiniger Trainer. Ein ausgewiesener Antimacho
regierte Deutschlands Nationalelf mit süßlich klingendem, stark alemannisch
eingefärbtem Zungenschlag. Er eilte von Erfolg zu Erfolg. Und alle wollten
seine Mannschaft spielen sehen. Am 7. Oktober 2006 stand ein
Freundschaftsspiel gegen Georgien an, die ganze Fernsehrepublik freute
sich darauf. Ein völlig bedeutungsloses Spiel gegen einen Gegner aus den
Untiefen der Weltrangliste vermochte die Menschen zu begeistern. 15 Jahre
später blicke ich ratlos auf diesen uninspirierten Kick in Rostock zurück,
bei dem Schweini ein wunderbares Tor schoss, und Poldi des Feldes verwiesen
wurde, weil er einen am Boden liegenden Gegenspieler getreten hatte.
Die meisten fanden es dennoch schön und freuten sich auch über das
Transparent mit der Aufschrift „Wir sagen NEIN zum Rassismus“, mit dem die
deutsche Mannschaft auf das Spielfeld gelaufen kam. Ein paar Wochen zuvor
war der schwarze Nationalspieler Gerald Asamoah bei einem Pokalspiel von
Schalke 04 hier in Rostock mit Affenlauten bedacht worden. Jetzt war wieder
alles gut, man konnte mit einer schwarz-rot-goldenen Blumenkette um den
Hals den Rassismus einfach weglächeln.
Auch ich habe vielleicht ein paar Mal zu oft mitgelächelt. Dabei wurden da
schon die ersten Studien erarbeitet, die später nachweisen sollten, dass
sich mit dem ach so freundlichen Nationalismus bei der Heim-WM rassistische
Denkmuster in einem Teil der Bevölkerung verfestigt haben. Am positiven Ruf
des Turniers konnte das nichts ändern. Ob ich ihm ein Programmheft
mitbringen könnte, hat mich damals der Mann an der Rezeption des Hotels
gefragt, in dem ich in Rostock übernachtete. Nach dem Spiel nahm er es
beinahe schon zärtlich in Empfang und bedankte sich überschwänglich. Es war
die Zeit, in der die deutsche Nationalmannschaft Menschen glücklich machen
konnte.
Diese Stimmung wurde auch geprägt durch einen wie Heiligenverehrung
anmutenden Dokumentarfilm, der – wie kann es anders sein – am Tag der
Deutschen Einheit des Jahres 2006 Premiere feierte. „Deutschland – ein
Sommermärchen“ hieß das Werk von Sönke Wortmann, das zeigt, was so los war
in der deutschen Mannschaft vor und während der WM.
Einer der Protagonisten ist Oliver Bierhoff. Der ehemalige Nationalspieler
war als Manager der Nationalmannschaft zu sehen. Hinter einem Laptop
sitzend wird er bei der Planung des Turniers gezeigt. Er soll es also
gewesen sein, der dem Land jenen paradiesischen Sommer beschert hat. Oliver
Bierhoff, der Mann, der die Nationalmannschaft in den Folgejahren bis zur
Seelenlosigkeit vermarkten sollte, wurde als genialer Produktentwickler
präsentiert, und niemand störte sich daran.
Während Joachim Löw die Nationalmannschaft zunächst ins Finale der EM 2008
führte, bei der WM 2010 in Südafrika dann ins WM-Halbfinale, taxierte
Bierhoff den Marktwert der Nationalmannschaft. Löw ließ sich nach seinen
Erfolgen als großer Taktiker feiern, der der Nationalmannschaft eigene
Spielphilosophien verpasste, statt wie viele seiner Vorgänger einfach nur
die elf Besten des Landes in irgendeiner tauglichen Grundformation auf den
Platz zu stellen; er wurde zum Espresso trinkenden Fußballphilosphen
verklärt. Oliver Bierhoff versuchte derweil, die Außendarstellung der
Nationalmannschaft den Wünschen der Sponsoren gemäß zu organisieren.
Schnell war der Mercedesstern auf den Trainingsjacken der Spieler größer
als das DFB-Wappen. Der offizielle Fanklub der Nationalmannschaft, der
unter dem Dach des DFB organisiert ist, kommt seitdem daher wie ein
Marketinginstrument von Coca-Cola.
Löw gelang es, eine Mannschaft zu formen, die ohne Leithammel seine
Spielidee auf dem Platz umsetzte. Von flachen Hierarchien im Team war die
Rede. Der sportliche Erfolg gab dem Bundestrainer recht. Man kann eine
Mannschaft auch managen, man muss sie nicht führen. Es entstand eine im DFB
nie gekannte Stimmung.
Auch ich war bisweilen davon beeindruckt. Bei einem Pressetermin während
der WM in Südafrika begegnete mir Löw vor dem Teamhotel. Er begrüßte mich,
den er nicht wirklich kennt, mit Handschlag und fragte, wie es mir gehe.
Gut. Ihm auch? Es sei viel zu tun heute, sagte er und lächelte. Es war der
Tag, an dem Philipp Lahm – ohne Absprache mit dem DFB – in einer Münchner
Zeitung bekannte, Kapitän der Nationalmannschaft bleiben zu wollen, auch
wenn der verletzte Altstar Michael Ballack zurückkehren sollte.
Ein paar Tage später spielte Deutschland gegen Spanien im Halbfinale. Es
war der Versuch zweier Mannschaften, einfach Fußball zu spielen. Beide
konnten das sehr gut. Einen Schiedsrichter hätte es in diesem Spiel, in dem
die Spanier um genau das Tor besser waren, das sie geschossen haben, nicht
gebraucht. Ich war beeindruckt.
Vier Jahre später beeindruckte die Mannschaft in Brasilien die ganze Welt.
Das 7:1 gegen die WM-Gastgeber im Halbfinale des Turniers ist eines der
irrsten Spiele in der Geschichte des Weltfußballs. Der Sieg im Finale gegen
Argentinien schien danach nur folgerichtig. Joachim Löw hatte das Glück,
mit einer überaus begabten Gruppe zusammenarbeiten zu können, gewiss. Aber
überragend war das Turnier, das die Deutschen gespielt haben, keineswegs.
Im Achtelfinale gegen Algerien war Deutschlands bester Spieler Torwart
Manuel Neuer, und im Vorrundenspiel gegen Ghana hat sich die Mannschaft ein
2:2 hart erarbeiten müssen.
Mit der Rückkehr des Teams aus Brasilien erfolgte ein Abstieg, wie er
brutaler nicht hätte sein können. Es begann mit dem missglückten Auftritt
der Weltmeister auf der Berliner Fanmeile. „So gehen die Gauchos“, sangen
die Spieler und tanzten im tief gebückten Gang über die Bühne. „So gehen
die Deutschen“, sangen sie weiter und richteten sich wieder auf. Der
damalige DFB-Präsident Wolfgang Niersbach musste sich dafür entschuldigen.
Es gibt schlechte Verlierer. Schlechte Sieger gibt es auch. Gut, dass ich
mich nicht mehr erinnere, wie ich die Argentinier nach dem WM-Finale 1990
bezeichnet habe. Wenn es schlimm war, dann war es gewiss ironisch – ganz
sicher!
Der Auftritt auf der Fanmeile bildete den Abschluss eines überaus
arroganten Auftretens, das die Deutschen in Brasilien an den Tag gelegt
hatten. Das manifestierte sich schon in der Wahl des WM-Quartiers. Statt
sich in eines der von den WM-Gastgebern gelisteten Mannschaftsquartiere
einzumieten, beschloss Teammanager Bierhoff, die Mannschaft in einer von
Münchner Immobilienentwicklern neu errichteten Ferienanlage
unterzubringen. Dass für den Bau des Trainingsplatzes ein Naturschutzgebiet
umgewidmet werden musste, gehört zu dieser Geschichte, in der sich die
Nationalmannschaft zum Marketinginstrument eines Immobilienprojekts hat
machen lassen. Unter „Campo Bahia“ kann man bei Wikipedia bis heute
nachlesen, dass DFB-Präsident Niersbach die Anlage als „bestes Quartier
aller Zeiten“ bezeichnet hat. Mit der WM 2014 begann die Nationalmannschaft
jegliche Bodenhaftung zu verlieren.
Der Bundestrainer setzte auf Dominanz auf dem Platz. Sein Team konnte jede
Mannschaft beinahe bis an deren eigene Grundlinie herspielen. So tat sie es
auch bei der Europameisterschaft 2016 in Frankreich. Dass sein Team im
Halbfinale gegen die Gastgeber dennoch verlor, wollte Löw einfach nicht
verstehen. Aus den schlechten Gewinnern waren schlechte Verlierer geworden.
Dafür hatte das Team jetzt einen neuen Namen. „Die Mannschaft“ wurde 2015
beim deutschen Patent- und Markenamt als Wort-Bild-Marke eingetragen. Wer
sich als deutscher Fan Karten für die EM in Frankreich kaufen wollte,
musste zunächst in den Fanklub Nationalmannschaft powered by Coca-Cola
eintreten. Die Fans waren Kunden geworden, im besten Fall wurden sie
Stakeholder genannt. Zum Ticketpreis war der Jahresbeitrag für den Fanklub
fällig. Und während die sogenannte Sommermärchenaffäre den Verband
erschütterte, begann Oliver Bierhoff die Kampagne zur Titelverteidigung zu
planen. Der fünfte Stern auf dem Trikot der Nationalmannschaft für den
fünften Weltmeistertitel, so ließ die Kampagne vermuten, wird ein
Mercedesstern sein.
Als sich der Mannschaftsbus in Richtung WM 2018 nach Russland auf den Weg
machte, war immer noch nicht klar, wofür das Geld gedacht war, das der DFB
besorgt hatte und das über ein Privatkonto von Franz Beckenbauer bei einer
Gerüstbaufirma in Katar gelandet war. Die gehörte Mohamed bin Hammam, einem
der berüchtigtsten Korruptionäre des Weltfußballverbands. Der Verdacht,
dass es etwas mit der Vergabe der WM 2006 zu tun hatte, konnte nicht
ausgeräumt werden.
Als sich Deutschlands Spielmacher Mesut Özil vor der WM mit dem türkischen
Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan fotografieren ließ, zeigte sich die
Hilflosigkeit des DFB in gesellschaftlichen Debatten. Bei aller
gerechtfertigten Kritik an der Werbung für den Alleinherrscher hat der DFB
nichts gegen die Flut rassistischer Beschimpfungen unternommen, die
letztlich dazu geführt haben, dass sich Özil aus der deutschen
Nationalmannschaft verabschiedet hat. Özil ist von seinem eigenen Verband
regelrecht ausgebürgert worden. Er gehörte für viele schon nicht mehr zu
Deutschland, als das DFB-Team sich im letzten Vorrundenspiel bei der WM in
Kasan gegen Südkorea vergeblich gegen das frühzeitige Ausscheiden zu
stemmen versuchte.
Ich war an jenem Tag im Juni 2018 in Kasan, um über das Spiel zu berichten.
Auf dem Weg ins Stadion hatte ich eine unangenehme Begegnung mit etwa 30
Jungdeutschen. Die pöbelten jeden an, der sich ihnen hätte in den Weg
stellen können. Der Busfahrer war ein „Wichser“, eine Asiatin im
Deutschland-Trikot wurde als „Behinderte“ bezeichnet und ich als „Spast�…
weil ich die Augen verdreht habe, als der wahrscheinlich speziell für
Russland ausgewählte Kurvenhit „Hurra, hurra, die Deutschen, die sind
wieder da!“ angestimmt wurde. „Die Nummer eins der Welt sind wir“, sangen
sie. Ich konnte nichts Ironisches daran finden.
Es war noch nicht lange her, dass die diverse DFB-Auswahl in der taz als
Internationalmannschaft gefeiert worden war. Sie galt als Botschafterin
eines modernen Deutschlands, als Kraftzentrum einer integrativen
Gesellschaft. Auch ich habe sie so beschrieben. Hatte der DFB nicht noch
vor Kurzem souverän jene Bemerkung des AfD-Vordermanns Alexander Gauland
niedergebügelt, den schwarzen Profi Jérôme Boateng würden die Deutschen als
Fußballer durchaus schätzen, als Nachbarn wolle ihn indes keiner? „Wir sind
Vielfalt“, war der Titel eines Videoclips, mit dem sich die
Nationalmannschaft hinter ihrem Abwehrrecken formierte. Und jetzt, im
Sommer 2018, die Özil-Affäre und nationalistische Fans vor Ort. Der
Auftritt der Deutschen in Russland machte mich ratlos. Er war wie eine
Bankrotterklärung. Moralisch, und sportlich sowieso.
Später folgte die Selbstkritik. Joachim Löw sagte, sein Team habe „fast
schon arrogant“ gespielt, weil es meinte, aus Ballbesitz müsse ein Tor
folgen. Das zahle sich aber eher in der Liga über einen langen Zeitraum
aus, bei einem Turnier müsse man anders spielen.
Oliver Bierhoff versprach mehr Fannähe, er organisierte eine öffentliche
Trainingseinheit in Berlin, zu der vor allem Kinder- und Jugendmannschaften
aus der Hauptstadt kamen, um zuzusehen, wie ein Haufen Millionäre über den
Platz trabt. Es war der hilflose Versuch, etwas zu erden, was längst in
andere Sphären abgehoben war. Bis auf Mats Hummels hat keiner freundlich
dreingeblickt an diesem Nachmittag. Mit anzusehen, wie lustlos die gnädigen
Herrschaften sich für ein paar Selfies zu ihren zehnjährigen Fans
heruntergebückt haben, tat beinahe weh.
Bald präsentierte Bierhoff einen neuen Autosponsor der Nationalmannschaft.
Die Begeisterung darüber hielt sich in Grenzen. Die Nationalmannschaft hat
ihre Anziehungskraft verloren. Die Qualifikationsspiele für die EM, die nun
in diesem Sommer stattfinden soll, waren nur mäßig besucht, und fast
scheint es, als sei die Coronapandemie dem DFB ganz gelegen gekommen. So
gibt es wenigstens einen triftigen Grund für die leeren Arenen.
Auch sportlich hat die Mannschaft einen neuen Tiefpunkt erreicht. Mit dem
0:6 gegen Spanien im letzten Gruppenspiel eines Wettbewerbs namens Nations
League im vergangenen November begann eine Trainerdiskussion, die
merkwürdig emotionslos verläuft.
Auch nach der Ankündigung Löws, nach der EM im Sommer aufzuhören, tut sich
nicht allzu viel. Deutschlands Lieblingstrainer Jürgen Klopp will nicht,
weil er den FC Liverpool lieber mag als die Nationalmannschaft. Egal. Ralf
Rangnick, der professorale Macher des mit Limomilliarden gepamperten
Leipziger Fußballprojekts, wäre zwar zu haben, hat sein Herz aber offenbar
an den verrückten Schalke 04 verloren. Auch wurscht. Und dass Lothar
Matthäus, der Kandidat der Bild-Zeitung, mögen würde, wenn ihn jemand mögen
würde, löst nun auch nicht gerade große Emotionen aus. So plätschert die
Karriere eines Trainers aus, der immerhin den Weltmeistertitel geholt hat.
Moment. Da ist ja noch die EM. Auch wenn der Mannschaft kaum einer etwas
zutraut, sie könnte mit einem guten Abschneiden die Bilanz von Löw, die
jetzt schlechter wirkt, als sie war, ein wenig aufhübschen. Ob das dann
wirklich interessieren wird, bleibt abzuwarten.
Sollte Deutschland das Finale erreichen und in meiner Straße würde jemand
eine Deutschlandfahne an seiner Balkonbrüstung anbringen, ich würde mich
wundern. Wahrscheinlich würde es mir sogar Angst machen. Die ironischen
Zeiten sind vorbei. Vielleicht hat es sie nie wirklich gegeben.
22 Mar 2021
## AUTOREN
Andreas Rüttenauer
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