# taz.de -- Nationalmannschaft in der Krise: Wenn der Kick fehlt | |
> Früher fieberten alle mit, wenn die Nationalmannschaft spielte, heute | |
> nicht mehr. Unser Autor hat das Team lange begleitet. Ein Rückblick. | |
Bild: Deutschlandflaggen schienen 2006 Botschafter eines freundlichen Landes. N… | |
Es war der 8. Juli 1990. Wir hatten uns zum Fußballschauen verabredet. Das | |
Wetter in München war nicht besonders gut an dem Tag. Wir waren um die 20, | |
kannten uns aus der Schule, aus der Westkurve des Grünwalder Stadions oder | |
einfach so vom gemeinsamen Trinken in irgendeiner Wirtschaft. Weil wir uns | |
damals auch ein bisschen für Tennis interessiert haben, sind wir schon am | |
frühen Nachmittag zusammengekommen. Eine Deutschlandfahne in Schwarz, Rot | |
und Gelb, die einer von uns aufgetrieben hatte, hängten wir über die | |
Balkonbrüstung, bevor wir den Fernseher einschalteten. Als Boris Becker das | |
Endspiel von Wimbledon nach fünf Sätzen verlor, waren wir schon lange nicht | |
mehr nüchtern. Als endlich das Finale der Fußball-WM zwischen Deutschland | |
und Argentinien in Rom angepfiffen wurde, hatten wir noch mehr gesoffen. | |
Wie das Spiel verlaufen ist, hätte wahrscheinlich keiner von uns genau | |
sagen können. Später haben wir erfahren, dass das gar nicht so schlimm war, | |
weil eh nicht viel los war auf dem Platz. Dass die Auswahl des DFB | |
Weltmeister wurde, haben wir natürlich schon mitbekommen. Nach dem | |
Schlusspfiff sind wir in Richtung Siegestor gelaufen, um zu schauen, ob und | |
wie dort gefeiert wurde. Am nächsten Tag haben wir auf Fernsehbildern von | |
der Spontanfeier gesehen, dass einer von uns zu denjenigen gehörte, die das | |
Siegestor erklommen haben, um von oben auf München hinunterzujubeln. | |
Das WM-Turnier 1990 war für mich der Auftakt zu einer mal sehr, mal weniger | |
intensiven Beziehung zur deutschen Fußballnationalmannschaft. Begonnen hat | |
sie mit dem Versuch, so etwas wie ein Fan der DFB-Elf zu werden. Natürlich | |
wollte ich kein echter Anhänger sein. Das ging ja auch nicht wirklich in | |
einer Fußballnation, in der vor allem Vorstopper angehimmelt wurden. Jürgen | |
Kohler, Fußballgott! Es gab Andi Möller, Pierre Littbarski und Lothar | |
Matthäus. Angebetet wurden aber auch Spieler wie Hans-Peter Briegel, der | |
den Spitznamen „Walz aus der Pfalz“ trug. | |
Das schöne Spiel gehörte anderen. Ein Plakat der Weltmeistermannschaft von | |
1990 habe ich dennoch damals über mein Bett gehängt. Es sollte irgendwie | |
auch ein ironisches Statement sein. In den 90er Jahren begann, was bald in | |
die Polenwitze von Harald Schmidt mündete. Man fand etwas gut, wovon man | |
eigentlich wusste, dass es scheiße ist. War ja alles ironisch gemeint. | |
Dass es nicht ganz frisch ist, mit einer Deutschlandfahne über die | |
Leopoldstraße in München zu laufen, war mir durchaus klar. Es war | |
Wendezeit. Deutschland befand sich im Größenwahn. Bundeskanzler war Helmut | |
Kohl. Der ließ sich im Osten von Leuten feiern, die schwarz-rot-goldene | |
Fahnen schwenkten, und freute sich, wenn sie „Wir sind ein Volk!“ brüllten. | |
Nazis hatten angefangen, selbstbewusst ihre blanken Schädel durch die | |
Innenstädte zu tragen, und aus dem Osten hörte man die ersten Geschichten | |
über Baseballschläger schwingende Rassisten. Und da lief ich hinter einer | |
Deutschlandfahne durch die Stadt. | |
Heute fällt es mir schwer, das zu erklären. Aber weil es irgendwie anders | |
gemeint war, als es aussah, fand ich es damals in Ordnung. Und es gab genug | |
Leute in meinem Freundeskreis, die das ebenso hielten. Man hörte deutsche | |
Schlager, obwohl man sie eigentlich kaum ertragen konnte oder klebte sich | |
einen weiß-blau rautierten „Mia san mia“-Aufkleber auf den Aktenkoffer, | |
obwohl man eigentlich mit dieser CSU-vergifteten Bayerntümelei nichts | |
anfangen konnte. Deutschtümelei kam schon gar nicht infrage. Höchstens | |
ironisch. Da ging alles. | |
Später habe ich eine professionelle Beziehung zur Nationalmannschaft | |
entwickelt. Seit 2006 begleite ich als Sportreporter Spiele der | |
DFB-Auswahl. Auch diese Beziehung ist nicht immer einfach. Es war ein Auf | |
und Ab. Mal hatte das etwas mit den spielerischen Leistungen des Teams zu | |
tun, mal mit dem Auftreten des DFB-Stabs. Mal habe ich die | |
Nationalmannschaft als ein Abbild des modernen Deutschlands beschrieben, in | |
dem sich die Realität der Einwanderungsgesellschaft fast schon beispielhaft | |
widerspiegelt. Mal war ich fassungslos, wie wenig Sensibilität der DFB im | |
Umgang mit dem Thema Rassismus hat. Bisweilen habe ich den Spielvortrag der | |
deutschen Elitekicker wie ein Kunstwerk wahrgenommen. Und dann war es | |
wieder einmal kaum auszuhalten, wie sich der DFB und seine | |
Nationalmannschaft präsentierten. | |
Es gab einen natürlichen Höhepunkt mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft | |
2014 in Brasilien. Und eigentlich dachte ich, der Tiefpunkt sei erreicht, | |
als die Deutschen bei der folgenden WM 2018 in Russland bereits nach der | |
Vorrunde ausschieden. Doch es ging noch weiter bergab. | |
Ablesen konnte ich das immer an den Reaktionen von Freunden und Kollegen, | |
wenn ich mich wieder aufgemacht habe zu einem Länderspiel. Neben | |
Desinteresse, das es in linken Zusammenhängen beim Thema Fußball immer noch | |
gibt, ist es mal Neid, mal Mitleid gewesen, mit dem ich zu den Spielen der | |
Auswahl geschickt wurde. Es gab Zeiten, da hätte ich viel Geld verdienen | |
können, wenn ich Möglichkeiten gehabt hätte, Freunden Karten für ein | |
Länderspiel zuzuschanzen. Heute würde es mir wahrscheinlich schwerfallen, | |
jemanden zu finden, der mich begleitet. | |
Das Desinteresse an der Nationalmannschaft hat selbst große Fußballfans | |
erreicht. Gegen wen spielt Deutschland am kommenden Donnerstag? Viele | |
werden nicht wissen, dass mit dem Spiel gegen Island die WM-Qualifikation | |
für das Turnier in Katar 2022 beginnt. Katar? Das auch noch! Der DFB ist im | |
Beliebtheitskeller und spielt um die Teilnahme an einer WM in einem Land, | |
in dem Bauarbeiter ausgebeutet werden und zu Tode kommen, Homosexualität | |
verboten ist und von dem aus Terrororganisationen unterstützt werden. Der | |
Nationalmannschaftsfußball scheint am Ende zu sein. Wie konnte es so weit | |
kommen? | |
Am Ende ist auch Joachim Löw. Seit 15 Jahren ist er Cheftrainer der | |
DFB-Auswahl. Nach der Europameisterschaft im Sommer wird er aufhören. Das | |
Land braucht einen neuen Bundestrainer. Es gab Zeiten, da versetzte die | |
Trainersuche ganz Fußballland in einen Ausnahmezustand. Das ist in diesen | |
Tagen anders. Der DFB sucht einen neuen Bundestrainer, und keiner sucht | |
mit, undenkbar in früheren Zeiten. | |
Als Franz Beckenbauer nach dem Vorrundenaus der Deutschen bei der EM 1984 | |
zum Teamchef gemacht wurde, gab es beinahe niemanden, der dazu keine | |
Meinung hatte. Und das war erst recht so, nachdem sich die Deutschen bei | |
der EM 2000 blamiert hatten. Christoph Daum sollte danach eigentlich | |
Bundestrainer werden. Doch es kursierten Gerüchte, er habe auf | |
Halbweltpartys Drogen konsumiert. Mit einer Haarprobe wollte er beweisen, | |
dass er kein Kokser ist. Doch der Test war positiv, und schließlich wurde | |
Rudi Völler Bundestrainer. Kein Thema hat die Republik in diesem Jahr mehr | |
aufgewühlt als die Bundestrainersuche. | |
Ich hatte sicher auch eine Meinung dazu. Oder mehrere. Auf jeden Fall kann | |
ich mich an heiße Diskussionen erinnern. Auch 2004, als Jürgen Klinsmann | |
installiert wurde, der spätere Sommermärchentrainer der Heim-WM 2006, | |
verfolgten nicht nur Fußballfans das Wirken einer damals eingesetzten | |
Trainerfindungskommission. Mit Klinsmann kam Joachim Löw als | |
Assistenztrainer zum DFB. | |
Löw war also ganz nah dran, als 2006 die deutsche Nationalmannschaft einen | |
wahren Nationalrausch ausgelöst hat. Die schwarz-rot-goldenen Männlein und | |
Weiblein in den Fanzonen haben es dem bürgerlichen Feuilleton angetan. Und | |
so mancher WM-Tourist hat sich gewundert über dieses lässige Deutschland, | |
wo niemand etwas sagte, wenn man laut singend, eine Flasche Bier in der | |
Hand, mit seinen Kumpanen durch die Innenstadt eines WM-Orts torkelte. Die | |
Deutschen malten sich die mexikanischen Farben auf die Backe, wenn Mexiko | |
in ihrer Stadt spielte, und wenn Trinidad und Tobago in Kaiserslautern | |
antrat, dann wurde in der Pfalz karibischer Karneval gefeiert. Die | |
Deutschlandfahnen, die in jenem Sommer ohne Regen aus so vielen Autos | |
wehten, schienen Botschafter eines freundlich gewordenen Landes zu sein. So | |
heiter kam der Nationalismus daher, dass man ihn beinahe für ironisch | |
hätte halten können. | |
So habe sich der Herrgott das Paradies vorgestellt, sagte Franz | |
Beckenbauer, den damals noch viele ganz unironisch „Kaiser“ nannten, bei | |
der Abschlusspressekonferenz der WM, bei der er als omnipräsenter Chef des | |
Organisationskomitees mit dem Hubschrauber von Spiel zu Spiel geflogen war. | |
Er ist mir vor der Pressekonferenz regelrecht in die Arme gelaufen. Ich war | |
ein wenig spät dran und stürmte in den Raum der Pressekonferenz tief unten | |
in den Katakomben des Berliner Olympiastadions. Der Kaiser war gerade auf | |
dem Weg zum Podium. Ich war zu schnell zum Ausweichen. Um ihn nicht | |
umzurennen, entschied ich, ihn zu umarmen, hob ihn ein wenig an und stellte | |
ihn, nachdem ich selbst zum Stehen gekommen war, wieder auf den Boden. Die | |
WM 2006 hatte durchaus etwas Erhebendes – auch für mich. | |
Dritte wurden die Deutschen bei diesem Turnier. Es brachte ein Traumpaar | |
hervor, das viele Deutsche ähnlich zum Knuddeln fanden wie den Eisbären | |
Knut, der im WM-Jahr 2006 im Zoo von Berlin zur Welt kam. Schweini und | |
Poldi wollten alle sehen. Michael Ballack, seinerzeit Deutschlands einziger | |
Spieler von Weltformat, musste ein wenig Platz machen im Sonnenlicht für | |
Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski. Sie waren nicht viel älter als | |
20 und hatten den Deutschen schon während der Weltmeisterschaft Spaß | |
gemacht. Nach dem Turnier setzte sich das fort. | |
Joachim Löw war nun alleiniger Trainer. Ein ausgewiesener Antimacho | |
regierte Deutschlands Nationalelf mit süßlich klingendem, stark alemannisch | |
eingefärbtem Zungenschlag. Er eilte von Erfolg zu Erfolg. Und alle wollten | |
seine Mannschaft spielen sehen. Am 7. Oktober 2006 stand ein | |
Freundschaftsspiel gegen Georgien an, die ganze Fernsehrepublik freute | |
sich darauf. Ein völlig bedeutungsloses Spiel gegen einen Gegner aus den | |
Untiefen der Weltrangliste vermochte die Menschen zu begeistern. 15 Jahre | |
später blicke ich ratlos auf diesen uninspirierten Kick in Rostock zurück, | |
bei dem Schweini ein wunderbares Tor schoss, und Poldi des Feldes verwiesen | |
wurde, weil er einen am Boden liegenden Gegenspieler getreten hatte. | |
Die meisten fanden es dennoch schön und freuten sich auch über das | |
Transparent mit der Aufschrift „Wir sagen NEIN zum Rassismus“, mit dem die | |
deutsche Mannschaft auf das Spielfeld gelaufen kam. Ein paar Wochen zuvor | |
war der schwarze Nationalspieler Gerald Asamoah bei einem Pokalspiel von | |
Schalke 04 hier in Rostock mit Affenlauten bedacht worden. Jetzt war wieder | |
alles gut, man konnte mit einer schwarz-rot-goldenen Blumenkette um den | |
Hals den Rassismus einfach weglächeln. | |
Auch ich habe vielleicht ein paar Mal zu oft mitgelächelt. Dabei wurden da | |
schon die ersten Studien erarbeitet, die später nachweisen sollten, dass | |
sich mit dem ach so freundlichen Nationalismus bei der Heim-WM rassistische | |
Denkmuster in einem Teil der Bevölkerung verfestigt haben. Am positiven Ruf | |
des Turniers konnte das nichts ändern. Ob ich ihm ein Programmheft | |
mitbringen könnte, hat mich damals der Mann an der Rezeption des Hotels | |
gefragt, in dem ich in Rostock übernachtete. Nach dem Spiel nahm er es | |
beinahe schon zärtlich in Empfang und bedankte sich überschwänglich. Es war | |
die Zeit, in der die deutsche Nationalmannschaft Menschen glücklich machen | |
konnte. | |
Diese Stimmung wurde auch geprägt durch einen wie Heiligenverehrung | |
anmutenden Dokumentarfilm, der – wie kann es anders sein – am Tag der | |
Deutschen Einheit des Jahres 2006 Premiere feierte. „Deutschland – ein | |
Sommermärchen“ hieß das Werk von Sönke Wortmann, das zeigt, was so los war | |
in der deutschen Mannschaft vor und während der WM. | |
Einer der Protagonisten ist Oliver Bierhoff. Der ehemalige Nationalspieler | |
war als Manager der Nationalmannschaft zu sehen. Hinter einem Laptop | |
sitzend wird er bei der Planung des Turniers gezeigt. Er soll es also | |
gewesen sein, der dem Land jenen paradiesischen Sommer beschert hat. Oliver | |
Bierhoff, der Mann, der die Nationalmannschaft in den Folgejahren bis zur | |
Seelenlosigkeit vermarkten sollte, wurde als genialer Produktentwickler | |
präsentiert, und niemand störte sich daran. | |
Während Joachim Löw die Nationalmannschaft zunächst ins Finale der EM 2008 | |
führte, bei der WM 2010 in Südafrika dann ins WM-Halbfinale, taxierte | |
Bierhoff den Marktwert der Nationalmannschaft. Löw ließ sich nach seinen | |
Erfolgen als großer Taktiker feiern, der der Nationalmannschaft eigene | |
Spielphilosophien verpasste, statt wie viele seiner Vorgänger einfach nur | |
die elf Besten des Landes in irgendeiner tauglichen Grundformation auf den | |
Platz zu stellen; er wurde zum Espresso trinkenden Fußballphilosphen | |
verklärt. Oliver Bierhoff versuchte derweil, die Außendarstellung der | |
Nationalmannschaft den Wünschen der Sponsoren gemäß zu organisieren. | |
Schnell war der Mercedesstern auf den Trainingsjacken der Spieler größer | |
als das DFB-Wappen. Der offizielle Fanklub der Nationalmannschaft, der | |
unter dem Dach des DFB organisiert ist, kommt seitdem daher wie ein | |
Marketinginstrument von Coca-Cola. | |
Löw gelang es, eine Mannschaft zu formen, die ohne Leithammel seine | |
Spielidee auf dem Platz umsetzte. Von flachen Hierarchien im Team war die | |
Rede. Der sportliche Erfolg gab dem Bundestrainer recht. Man kann eine | |
Mannschaft auch managen, man muss sie nicht führen. Es entstand eine im DFB | |
nie gekannte Stimmung. | |
Auch ich war bisweilen davon beeindruckt. Bei einem Pressetermin während | |
der WM in Südafrika begegnete mir Löw vor dem Teamhotel. Er begrüßte mich, | |
den er nicht wirklich kennt, mit Handschlag und fragte, wie es mir gehe. | |
Gut. Ihm auch? Es sei viel zu tun heute, sagte er und lächelte. Es war der | |
Tag, an dem Philipp Lahm – ohne Absprache mit dem DFB – in einer Münchner | |
Zeitung bekannte, Kapitän der Nationalmannschaft bleiben zu wollen, auch | |
wenn der verletzte Altstar Michael Ballack zurückkehren sollte. | |
Ein paar Tage später spielte Deutschland gegen Spanien im Halbfinale. Es | |
war der Versuch zweier Mannschaften, einfach Fußball zu spielen. Beide | |
konnten das sehr gut. Einen Schiedsrichter hätte es in diesem Spiel, in dem | |
die Spanier um genau das Tor besser waren, das sie geschossen haben, nicht | |
gebraucht. Ich war beeindruckt. | |
Vier Jahre später beeindruckte die Mannschaft in Brasilien die ganze Welt. | |
Das 7:1 gegen die WM-Gastgeber im Halbfinale des Turniers ist eines der | |
irrsten Spiele in der Geschichte des Weltfußballs. Der Sieg im Finale gegen | |
Argentinien schien danach nur folgerichtig. Joachim Löw hatte das Glück, | |
mit einer überaus begabten Gruppe zusammenarbeiten zu können, gewiss. Aber | |
überragend war das Turnier, das die Deutschen gespielt haben, keineswegs. | |
Im Achtelfinale gegen Algerien war Deutschlands bester Spieler Torwart | |
Manuel Neuer, und im Vorrundenspiel gegen Ghana hat sich die Mannschaft ein | |
2:2 hart erarbeiten müssen. | |
Mit der Rückkehr des Teams aus Brasilien erfolgte ein Abstieg, wie er | |
brutaler nicht hätte sein können. Es begann mit dem missglückten Auftritt | |
der Weltmeister auf der Berliner Fanmeile. „So gehen die Gauchos“, sangen | |
die Spieler und tanzten im tief gebückten Gang über die Bühne. „So gehen | |
die Deutschen“, sangen sie weiter und richteten sich wieder auf. Der | |
damalige DFB-Präsident Wolfgang Niersbach musste sich dafür entschuldigen. | |
Es gibt schlechte Verlierer. Schlechte Sieger gibt es auch. Gut, dass ich | |
mich nicht mehr erinnere, wie ich die Argentinier nach dem WM-Finale 1990 | |
bezeichnet habe. Wenn es schlimm war, dann war es gewiss ironisch – ganz | |
sicher! | |
Der Auftritt auf der Fanmeile bildete den Abschluss eines überaus | |
arroganten Auftretens, das die Deutschen in Brasilien an den Tag gelegt | |
hatten. Das manifestierte sich schon in der Wahl des WM-Quartiers. Statt | |
sich in eines der von den WM-Gastgebern gelisteten Mannschaftsquartiere | |
einzumieten, beschloss Teammanager Bierhoff, die Mannschaft in einer von | |
Münchner Immobilienentwicklern neu errichteten Ferienanlage | |
unterzubringen. Dass für den Bau des Trainingsplatzes ein Naturschutzgebiet | |
umgewidmet werden musste, gehört zu dieser Geschichte, in der sich die | |
Nationalmannschaft zum Marketinginstrument eines Immobilienprojekts hat | |
machen lassen. Unter „Campo Bahia“ kann man bei Wikipedia bis heute | |
nachlesen, dass DFB-Präsident Niersbach die Anlage als „bestes Quartier | |
aller Zeiten“ bezeichnet hat. Mit der WM 2014 begann die Nationalmannschaft | |
jegliche Bodenhaftung zu verlieren. | |
Der Bundestrainer setzte auf Dominanz auf dem Platz. Sein Team konnte jede | |
Mannschaft beinahe bis an deren eigene Grundlinie herspielen. So tat sie es | |
auch bei der Europameisterschaft 2016 in Frankreich. Dass sein Team im | |
Halbfinale gegen die Gastgeber dennoch verlor, wollte Löw einfach nicht | |
verstehen. Aus den schlechten Gewinnern waren schlechte Verlierer geworden. | |
Dafür hatte das Team jetzt einen neuen Namen. „Die Mannschaft“ wurde 2015 | |
beim deutschen Patent- und Markenamt als Wort-Bild-Marke eingetragen. Wer | |
sich als deutscher Fan Karten für die EM in Frankreich kaufen wollte, | |
musste zunächst in den Fanklub Nationalmannschaft powered by Coca-Cola | |
eintreten. Die Fans waren Kunden geworden, im besten Fall wurden sie | |
Stakeholder genannt. Zum Ticketpreis war der Jahresbeitrag für den Fanklub | |
fällig. Und während die sogenannte Sommermärchenaffäre den Verband | |
erschütterte, begann Oliver Bierhoff die Kampagne zur Titelverteidigung zu | |
planen. Der fünfte Stern auf dem Trikot der Nationalmannschaft für den | |
fünften Weltmeistertitel, so ließ die Kampagne vermuten, wird ein | |
Mercedesstern sein. | |
Als sich der Mannschaftsbus in Richtung WM 2018 nach Russland auf den Weg | |
machte, war immer noch nicht klar, wofür das Geld gedacht war, das der DFB | |
besorgt hatte und das über ein Privatkonto von Franz Beckenbauer bei einer | |
Gerüstbaufirma in Katar gelandet war. Die gehörte Mohamed bin Hammam, einem | |
der berüchtigtsten Korruptionäre des Weltfußballverbands. Der Verdacht, | |
dass es etwas mit der Vergabe der WM 2006 zu tun hatte, konnte nicht | |
ausgeräumt werden. | |
Als sich Deutschlands Spielmacher Mesut Özil vor der WM mit dem türkischen | |
Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan fotografieren ließ, zeigte sich die | |
Hilflosigkeit des DFB in gesellschaftlichen Debatten. Bei aller | |
gerechtfertigten Kritik an der Werbung für den Alleinherrscher hat der DFB | |
nichts gegen die Flut rassistischer Beschimpfungen unternommen, die | |
letztlich dazu geführt haben, dass sich Özil aus der deutschen | |
Nationalmannschaft verabschiedet hat. Özil ist von seinem eigenen Verband | |
regelrecht ausgebürgert worden. Er gehörte für viele schon nicht mehr zu | |
Deutschland, als das DFB-Team sich im letzten Vorrundenspiel bei der WM in | |
Kasan gegen Südkorea vergeblich gegen das frühzeitige Ausscheiden zu | |
stemmen versuchte. | |
Ich war an jenem Tag im Juni 2018 in Kasan, um über das Spiel zu berichten. | |
Auf dem Weg ins Stadion hatte ich eine unangenehme Begegnung mit etwa 30 | |
Jungdeutschen. Die pöbelten jeden an, der sich ihnen hätte in den Weg | |
stellen können. Der Busfahrer war ein „Wichser“, eine Asiatin im | |
Deutschland-Trikot wurde als „Behinderte“ bezeichnet und ich als „Spast�… | |
weil ich die Augen verdreht habe, als der wahrscheinlich speziell für | |
Russland ausgewählte Kurvenhit „Hurra, hurra, die Deutschen, die sind | |
wieder da!“ angestimmt wurde. „Die Nummer eins der Welt sind wir“, sangen | |
sie. Ich konnte nichts Ironisches daran finden. | |
Es war noch nicht lange her, dass die diverse DFB-Auswahl in der taz als | |
Internationalmannschaft gefeiert worden war. Sie galt als Botschafterin | |
eines modernen Deutschlands, als Kraftzentrum einer integrativen | |
Gesellschaft. Auch ich habe sie so beschrieben. Hatte der DFB nicht noch | |
vor Kurzem souverän jene Bemerkung des AfD-Vordermanns Alexander Gauland | |
niedergebügelt, den schwarzen Profi Jérôme Boateng würden die Deutschen als | |
Fußballer durchaus schätzen, als Nachbarn wolle ihn indes keiner? „Wir sind | |
Vielfalt“, war der Titel eines Videoclips, mit dem sich die | |
Nationalmannschaft hinter ihrem Abwehrrecken formierte. Und jetzt, im | |
Sommer 2018, die Özil-Affäre und nationalistische Fans vor Ort. Der | |
Auftritt der Deutschen in Russland machte mich ratlos. Er war wie eine | |
Bankrotterklärung. Moralisch, und sportlich sowieso. | |
Später folgte die Selbstkritik. Joachim Löw sagte, sein Team habe „fast | |
schon arrogant“ gespielt, weil es meinte, aus Ballbesitz müsse ein Tor | |
folgen. Das zahle sich aber eher in der Liga über einen langen Zeitraum | |
aus, bei einem Turnier müsse man anders spielen. | |
Oliver Bierhoff versprach mehr Fannähe, er organisierte eine öffentliche | |
Trainingseinheit in Berlin, zu der vor allem Kinder- und Jugendmannschaften | |
aus der Hauptstadt kamen, um zuzusehen, wie ein Haufen Millionäre über den | |
Platz trabt. Es war der hilflose Versuch, etwas zu erden, was längst in | |
andere Sphären abgehoben war. Bis auf Mats Hummels hat keiner freundlich | |
dreingeblickt an diesem Nachmittag. Mit anzusehen, wie lustlos die gnädigen | |
Herrschaften sich für ein paar Selfies zu ihren zehnjährigen Fans | |
heruntergebückt haben, tat beinahe weh. | |
Bald präsentierte Bierhoff einen neuen Autosponsor der Nationalmannschaft. | |
Die Begeisterung darüber hielt sich in Grenzen. Die Nationalmannschaft hat | |
ihre Anziehungskraft verloren. Die Qualifikationsspiele für die EM, die nun | |
in diesem Sommer stattfinden soll, waren nur mäßig besucht, und fast | |
scheint es, als sei die Coronapandemie dem DFB ganz gelegen gekommen. So | |
gibt es wenigstens einen triftigen Grund für die leeren Arenen. | |
Auch sportlich hat die Mannschaft einen neuen Tiefpunkt erreicht. Mit dem | |
0:6 gegen Spanien im letzten Gruppenspiel eines Wettbewerbs namens Nations | |
League im vergangenen November begann eine Trainerdiskussion, die | |
merkwürdig emotionslos verläuft. | |
Auch nach der Ankündigung Löws, nach der EM im Sommer aufzuhören, tut sich | |
nicht allzu viel. Deutschlands Lieblingstrainer Jürgen Klopp will nicht, | |
weil er den FC Liverpool lieber mag als die Nationalmannschaft. Egal. Ralf | |
Rangnick, der professorale Macher des mit Limomilliarden gepamperten | |
Leipziger Fußballprojekts, wäre zwar zu haben, hat sein Herz aber offenbar | |
an den verrückten Schalke 04 verloren. Auch wurscht. Und dass Lothar | |
Matthäus, der Kandidat der Bild-Zeitung, mögen würde, wenn ihn jemand mögen | |
würde, löst nun auch nicht gerade große Emotionen aus. So plätschert die | |
Karriere eines Trainers aus, der immerhin den Weltmeistertitel geholt hat. | |
Moment. Da ist ja noch die EM. Auch wenn der Mannschaft kaum einer etwas | |
zutraut, sie könnte mit einem guten Abschneiden die Bilanz von Löw, die | |
jetzt schlechter wirkt, als sie war, ein wenig aufhübschen. Ob das dann | |
wirklich interessieren wird, bleibt abzuwarten. | |
Sollte Deutschland das Finale erreichen und in meiner Straße würde jemand | |
eine Deutschlandfahne an seiner Balkonbrüstung anbringen, ich würde mich | |
wundern. Wahrscheinlich würde es mir sogar Angst machen. Die ironischen | |
Zeiten sind vorbei. Vielleicht hat es sie nie wirklich gegeben. | |
22 Mar 2021 | |
## AUTOREN | |
Andreas Rüttenauer | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Nationalismus | |
Deutscher Fußballbund (DFB) | |
GNS | |
Deutsche Fußball-Nationalmannschaft | |
Joachim Löw | |
Kommerzialisierung | |
Fußball-WM 2022 Katar | |
Kolumne Press-Schlag | |
Hansi Flick | |
Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
Kolumne Home | |
Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Rumänien | |
Kolumne Frühsport | |
Fußball | |
Deutscher Fußballbund (DFB) | |
Kolumne Frühsport | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Abgang von DFB-Teammanager Bierhoff: Der Macher macht nicht mehr | |
Oliver Bierhoff hat als Manager der Nationalmannschaft ausgedient. Nach 18 | |
Jahren hinterlässt er ein beinahe zu Tode vermarktetes Gebilde. | |
Ein Jahr vor der Fußball-WM: Schleichende Normalisierung | |
Von wegen Skandal-WM – Katar ist ein Traum. 28 Sätze über das Emirat am | |
persischen Golf, die wirklich so erschienen sind. Eine Presseschau. | |
DFB-Team in der WM-Qualifikation: Gegen den Trend | |
Sehr bitter nennt DFB-Direktor Oliver Bierhoff die coronabedingten | |
Ausfälle. Wie das deutsche Nationalteam dennoch gegen Liechtenstein | |
gewinnen kann. | |
Große Sportevents zur selben Zeit: Wembley vs. Wimbledon | |
Früher haben sich die Organisatoren des mächtigen Tennisturniers mit | |
Olympia angelegt. Heute fordern sie den Fußball heraus. | |
Duell der EM-Favoriten: Oberklasse, diese Typen! | |
Wer gewinnt dieses EM-Turnier? Ein Blick auf die Marktwerte der einzelnen | |
Mannschaften offenbart Erstaunliches. | |
München im EM-Fieber: Polizei, Fußball und Bier | |
In der EM-Stadt München laufen die Turniervorbereitungen auf Hochtouren. | |
Wirte, Polizei und Seuchenbekämpfer scheinen gerüstet für das Spektakel. | |
Löw gibt EM-Kader bekannt: Abbruch vom Umbruch | |
Bundestrainer Joachim Löw holt Thomas Müller und Mats Hummels zurück. | |
Überraschender sind die Nominierungen von Christian Günter und Kevin | |
Volland. | |
Doku über schwarze Fußballprofis: Der unerreichbare Adler | |
Die Doku „Schwarze Adler“ erzählt Geschichten schwarzer Fußballprofis in | |
Deutschland. Und zeigt, wie wenig sich nach fast 50 Jahren getan hat. | |
DFB-Elf und WM-Qualifikation: Der Glanz fehlt | |
Joachim Löw kann nach dem 1:0 über Rumänien auch mit Pflichtsiegen gut | |
leben. Ein Neun-Punkte-Start in die WM-Qualifikation ist möglich. | |
Deutschlands Sieg über Island: Eine Überraschung namens 3:0 | |
Nichts ist noch normal im Weltfußball. Da sollte man auch nicht so tun, als | |
sei ein Sieg über Island die Rückkehr zum Fußball-Alltag. | |
Auslaufmodell Jogi Löw: Zeit der Umbrüche | |
Das liberale Modell „Joachim Löw“ läutete einst eine neue und erfolgreiche | |
Ära ein. Als Blaupause für die Zukunft taugt es allerdings nicht mehr. | |
Bundestrainer hört nach EM auf: Gratulation zum Rücktritt | |
Joachim Löw wird nach der Europameisterschaft vorzeitig aus dem Amt | |
scheiden. Gut so! Zu lange hat er sich von einer fixen Idee leiten lassen. | |
Profisport in Zeiten der Pandemie: Vorbild Profifußball | |
Mitten in der Pandmie reisen Profiklubs quer durch Europa. Geht's noch? Ja, | |
das geht. Der Fußball ist alles andere als ein Pandemietreiber. |