# taz.de -- Freiheitskämpfe im März 1848: Die große Hoffnung | |
> Im revolutionären März 1848 kommt der polnische Freiheitskämpfer Ludwik | |
> Mierosławski in Berlin frei. Zum Jubel der Bevölkerung. Er dauert nicht | |
> lang. | |
Bild: Begeisterungsjubel am 20. März 1848 über den freigelassenen Ludwik Mier… | |
Die Barrikadenkämpfe rund um das Berliner Schloss sind schon zwei Tage her. | |
270 Menschen sind erschossen oder von Bajonetten getötet worden, doch die | |
Euphorie kennt an diesem 20. März 1848 keine Grenzen. Vor dem noch gar | |
nicht offiziell eingeweihten Gefängnis in Moabit warten Tausende auf die | |
Freilassung des prominentesten Gefangenen. | |
Ludwik Mierosławski, damals 34 Jahre alt, war ein Jahr zuvor zum Tod | |
durch das Fallbeil verurteilt worden, und nun, da sich die Tore des | |
Gefängnisses öffnen, ist er ein freier Mann. Als er die Kutsche besteigt, | |
die ihn in einem Triumphzug durch das revolutionäre Berlin bis zum | |
königlichen Schloss bringen soll, kennt der Jubel keine Grenzen. Es hätte | |
der Beginn einer europäischen Heldengeschichte sein können. | |
Auf einem Holzstich ist die Szene zu sehen. Mierosławski hält eine | |
schwarz-rot-goldene Fahne in der Hand, die Farben der deutschen Freiheits- | |
und Demokratiebewegung. Auch die weiß-rote polnische Fahne wird | |
hochgehalten. Für die Berlinerinnen und Berliner ist das kein | |
ungewöhnlicher Anblick. Seit dem gescheiterten Novemberaufstand von 1830 | |
und 1831 gegen die russische Zarenherrschaft gelten die polnischen | |
Aufständischen in Europa als Helden. Traurige und geschlagene Helden | |
zunächst, wie sie Dietrich Monten in seinem Gemälde „Finis Poloniae“ 1831 | |
dargestellt hat. Doch noch ist Polen nicht verloren. Der niedergeschlagene | |
Aufstand tat der sprichwörtlichen Polenbegeisterung in Deutschland keinen | |
Abbruch, eher hat er sie entfacht. Und nun der Höhepunkt. Im März 1848 soll | |
die Revolution nicht nur Deutschland vom Absolutismus befreien, sondern | |
auch die unterdrückten Völker Europas. Dem Zug der Kutsche vom Moabiter | |
Gefängnis zum Stadtschloss folgen nach Zeitungsangaben unglaubliche 100.000 | |
Menschen. | |
Ludwik Mierosławski, Sohn des emigrierten polnischen Offiziers Adam-Gaspard | |
Mierosławski und der Französin Camille Notté de Vaupleux, war festgenommen | |
worden, weil er 1846 in Posen einen Aufstand gegen Preußen angezettelt | |
hatte. Er war einer von 254 Polen, denen ab dem 2. August 1847 in Berlin | |
der Prozess gemacht wurde. Die Anklage lautete auf Hochverrat. In Berlin | |
sollte er als „Polenprozess“ in die Geschichte eingehen, in Polen wird er | |
proces berliński genannt, Berliner Prozess. | |
Schon damals war Mierosławski eine charismatische Gestalt. Vor allem die | |
Berlinerinnen umschwärmten ihn. „Neun Zehntel unserer heiratsfähigen Damen | |
würden Herrn Mierosławski heiraten“, schrieb der Braunschweiger Leuchtturm | |
im August 1847 über den berühmten Moabiter Häftling. Das Interesse am | |
Prozess war riesig, die preußischen Behörden, die die Symbolik des | |
Verfahrens offenbar unterschätzt hatten, hatten alle Mühe, den Ansturm auf | |
die 500 Zuschauerplätze in geordnete Bahnen zu lenken. Selbst Polizei und | |
Armee mussten eingesetzt werden. Es war nichts Geringeres als der Beginn | |
einer europäischen Öffentlichkeit, dem die Beobachter damals beiwohnten. | |
Die demokratischen „Vaterlandsblätter“ schrieben: „Die Augen von ganz | |
Europa sind auf den Ausgang dieses Riesenprozesses gerichtet.“ | |
Einen Tag nach Prozessbeginn trat Ludwik Mierosławski selbst auf. Über | |
seine Verteidigungsrede schrieb die Deutsche Zeitung: „Der Vortrag und | |
Aktion waren feurig und bewegt und übten auf die Landsleute ebenso mächtige | |
Wirkung aus, wie auf die Zuhörer, die des Polnischen unkundig, ihn nur mit | |
den Augen, nicht mit den Ohren vernahmen.“ Auch die Schriftstellerin | |
Bettina von Arnim setzte sich für ihn ein, sie schrieb einen Brief an den | |
preußischen König Friedrich-Wilhelm IV. Doch das alles half nicht. Am 2. | |
Dezember 1847 wurden Ludwik Mierosławski und sieben weitere Angeklagte | |
zum Tode verurteilt, weitere 97 Polen erhielten lange Haftstrafen. | |
## Preußen und Posen | |
„Ich bin schon erstaunt darüber, dass Ludwik Mierosławski in Posen heute | |
kaum präsent ist“, sagt Dorota Danielewicz. „Es gibt zwar in Warschau und | |
in Bydgoszcz eine Mierosławski-Straße, nicht aber in Posen.“ | |
Dorota Danielewicz ist in Posen, heute Poznań, geboren und lebt seit den | |
Achtzigern in Berlin. Die Schriftstellerin und Publizistin hat vor vielen | |
Jahren schon ein Buch über die Geschichte der Polen in Berlin | |
herausgegeben, sie kennt die Erinnerungskulturen in beiden Ländern. Sie | |
selbst, sagt sie, war von Mierosławski immer fasziniert. „Wenn man sich | |
die Zeichnungen anschaut, war er ein gutaussehender Mann mit langen Haaren, | |
charismatisch“, lächelt sie. „Heute würde ich sagen, er steht für den | |
revolutionären Geist der Polen, den wir wieder bei den Frauenprotesten | |
gegen das Abtreibungsverbot sehen.“ | |
Dennoch weiß Danielewicz allzu gut, dass dieser revolutionäre Geist nur | |
selten erfolgreich war. „Nach der gescheiterten Märzrevolution begann in | |
Posen der Kulturkampf von Bismarck gegen die polnische Bevölkerung“, | |
erklärt sie. „Es war im Grunde eine Germanisierung, in den Schulen durfte | |
kein Polnischunterricht mehr stattfinden.“ | |
Posen gehörte seit den polnischen Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts zum | |
preußischen Herrschaftsgebiet. Preußen, Russland und Österreich hatten die | |
polnisch-litauische Adelsrepublik erstmals 1772 unter sich aufgeteilt, nach | |
der zweiten und dritten Teilung 1793 und 1795 war Polen von der | |
europäischen Landkarte verschwunden. Die Niederlage von Tadeusz | |
Kościuszko, dem Anführer des polnischen Aufstands von 1793/94, bildete das | |
Motiv des Gemäldes von Dietrich Monten. „Finis Poloniae“, das Ende Polens, | |
soll Kościuszko damals gesagt haben. Auf den Barrikadenkämpfen gegen den | |
preußischen Absolutismus im März 1848 dagegen sangen die Revolutionäre den | |
berühmten Dąbrowski-Marsch, die spätere polnische Nationalhymne: „Jeszcze | |
Polska nie zginęła“: „Noch ist Polen nicht verloren“. | |
Vielleicht kann man diese These wagen: So wie es den Fall der Berliner | |
Mauer 1989 nicht ohne die Erfolge der polnischen Solidarność gegeben | |
hätte, wäre die Berliner Märzrevolution nicht denkbar gewesen ohne die | |
Polenbegeisterung der deutschen Revolutionäre. Und auch nicht die Befreiung | |
von Ludwik Mierosławski am 20. März 1848. | |
Auf dem Höhepunkt der Barrikadenkämpfe in der Nacht vom 18. auf den 19. | |
März 1848 trifft sich in der Taubenstraße 6 eine Gruppe von politisch | |
aktiven polnischen und deutschen Studenten und Beamten. Sie haben den | |
„Polenprozess“ im Jahr zuvor aufmerksam verfolgt und schreiben nun eine | |
Petition an den preußischen König, die sie ihm am 19. März überreichen. | |
Andere, wie die Arbeiter der Borsigwerke, fordern gar eine gewaltsame | |
Befreiung der inhaftierten Polen aus dem Moabiter Gefängnis. | |
„Die Nachricht von der Übergabe der Petition verbreitete sich blitzartig in | |
ganz Berlin“, schreibt die Historikerin Daniela Fuchs. „Schon am Morgen des | |
20. März versammelten sich Menschenmassen vor dem Schloss. Es wurden | |
Stimmen laut, bei Ablehnung das Gefängnis zu stürmen.“ Unter dem Druck der | |
Menge gibt Friedrich Wilhelm IV. schließlich nach. „Ein Augenzeuge | |
berichtete, dass alles, was Beine hatte, zum Moabiter Gefängnis eilte, um | |
die befreiten Polen zu begrüßen. Überall hörte man die Rufe ‚Es lebe | |
Polen!‘, ‚Es lebe die Freiheit!‘, ‚Es lebe Deutschland!‘.“ | |
Nach seiner Freilassung hält Ludwik Mierosławski eine Rede. Es ist der | |
Moment, den der Holzstich festhält. „Nicht du, edles deutsches Volk, hast | |
meinem unglücklichen Vaterlande Fesseln geschmiedet; deine Fürsten haben es | |
getan; sie haben mit der Teilung Polens ewige Schmach auf sich geladen“, | |
sprach Mierosławski zu seinen deutschen und polnischen Anhängern. „Und wie | |
es jüngst noch für euch und uns als Verbrechen galt, nach des Vaterlandes | |
Freiheit zu ringen, und wie sie uns darob, draußen im Kerker, in eiserne | |
Bande schlugen, so warst du es, hochherziges Volk, dessen Blut in diesen | |
Tagen der Befreiung auch für unsere Freiheit floß. Wir danken euch!“ | |
Pathos, ja. Aber dann fallen jene Worte, die wie ein Versprechen klingen | |
für eine bessere Zukunft. „Eure Freiheit ist unsere Freiheit, und unsere | |
Freiheit ist die Eure! Herr sein oder Sklave sein, eins wie das andere | |
läuft gegen die heiligen Gesetze der Natur. Nur freie Menschen, nur freie | |
Völker können sich achten.“ Schließlich bat Mierosławski: „O nehmet uns | |
auf, ihr Völker des Westens in euren Bund, dessen Kreis sich von Stunde zu | |
Stunde mit Riesenschritten erweitert!“ | |
Kurz darauf zieht die Menge von Moabit wieder vor das Berliner Schloss. Auf | |
dem Balkon steht der Berliner König. Er muss sich in diesen Tagen nicht nur | |
vor den Märzgefallenen verneigen, sondern auch vor einem zum Tode | |
verurteilten polnischen Freiheitskämpfer. | |
## Enttäuschung über einen Helden | |
2007 fährt Brandenburgs Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg mit seinem | |
Dienstwagen an die deutsch-polnische Grenze. An seinem Wagen ist, obwohl | |
streng verboten für Beamte, ein politischer Aufkleber angebracht. Er zeigt | |
das Konterfei Mierosławskis, gerahmt von der deutschen und polnischen | |
Nationalfahne. Auch die berühmte Losung ist, in beiden Sprachen, darauf zu | |
lesen: „Für unsere und eure Freiheit“ – „Za naszą i waszą wolność�… | |
Ein Jahr zuvor hatten Rautenberg und sein polnischer Kollege Mieczysław | |
Tabor, Staatsanwalt bei der Landesstaatsanwaltschaft in Poznań, einen | |
gemeinsamen Appell verfasst: „Ludwik Mierosławski ist für uns zu einer Art | |
Symbolfigur für gute deutsch-polnische Zusammenarbeit geworden“, schrieben | |
beide. „Wir bemühen uns, dass in Poznań, wo er 1846 in der Zitadelle | |
zunächst inhaftiert war, eine Straße nach ihm benannt wird.“ Nach einer | |
Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen in Berlin wohnte Rautenberg in | |
Słubice der Einweihung einer Gedenktafel bei. | |
Fast scheint es, als hatten der 2018 verstorbene Rautenberg und sein | |
damaliger polnischer Kollege ausgeblendet, was nicht ins Bild von der | |
Symbolfigur passte, die für „eure und unsere Freiheit“ kämpfte. Denn | |
unmittelbar nach seiner Befreiung aus Moabit geht Ludwik Mierosławski | |
wieder nach Posen. Nach der Nachricht von der Freilassung der polnischen | |
Gefangenen ist es dort erneut zu einem Aufstand gekommen – und Mierosławski | |
ist ihr Anführer. | |
Die polnische Nationalarmee in Posen ist inzwischen auf 10.000 Mann | |
angewachsen. Mierosławski fühlt sich stark genug, es nach 1846 ein | |
zweites Mal mit der preußischen Teilungsmacht aufzunehmen. Aber auch | |
Preußen ist vorbereitet. In Frankfurt (Oder), damals preußische | |
Garnisonsstadt, wird die Mobilmachung angeordnet. Mitte April 1848 stehen | |
den Truppen Mierosławskis rund 40.000 preußische Soldaten gegenüber. Zwei | |
Tage später ist der Aufstand niedergeschlagen. Ludwik Mierosławski wird | |
festgenommen und nach einer Intervention der Franzosen nach Frankreich | |
abgeschoben. | |
In diesen Tagen sickert zum ersten Mal der Vorwurf von den „undankbaren | |
Polen“ ins Bewusstsein der liberalen Deutschen. Anstatt Seite an Seite mit | |
den Deutschen für ein freies Europa zu kämpfen, pfeift der von ihnen | |
verehrte Freiheitskämpfer plötzlich auf den Völkerfrühling. Nationale | |
Unabhängigkeit ist ihm scheinbar wichtiger als demokratische und soziale | |
Rechte. | |
Entsprechend brüsk reagiert die Nationalversammlung in der Paulskirche in | |
Frankfurt am Main auf den Aufstand. „Die polenfreundliche Stimmung unter | |
den deutschen Demokraten“, schreibt der Slawist und Buchautor Thomas Urban, | |
„war umgeschlagen.“ Polen galt in Deutschland wieder „als Land des | |
Landadels, der egoistisch um seine Privilegien kämpfte und daher an einer | |
grundsätzlichen Veränderung der Verhältnisse nicht interessiert war“. | |
## Streit um Europa | |
Seitdem die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit PiS 2005 das erste Mal | |
und 2016 wieder die Regierungsgeschäfte in Polen übernommen hat, taucht das | |
Bild von den „undankbaren Polen“ in Deutschland erneut auf. Europa hat | |
Polen nach dem neuen Völkerfrühling 1989 den roten Teppich ausgerollt, die | |
„Völker Europas“ haben, wie es Mierosławski in seiner Rede am 20. März | |
1848 gefordert hatte, die Polen in ihren Bund aufgenommen, lautet der | |
Vorwurf. Und nun missachtet die Regierung in Warschau die europäischen | |
Werte, für die die Märzrevolution in Deutschland bis heute steht. Von wegen | |
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. | |
Doch war Ludwik Mierosławski wirklich ein Undankbarer? Oder symbolisiert | |
der lange gefeierte Revolutionär mit seiner Rückkehr nach Posen lediglich | |
den Zwiespalt, in dem er steckte. Freiheit, das waren für ihn nicht nur | |
demokratische Rechte, sondern es bedeutete auch nationale Unabhängigkeit. | |
„Mit seiner Rückkehr nach Posen hat Mierosławski die europäische Bühne | |
verlassen und den nationalen polnischen Boden betreten“, sagt Marcin Wiatr. | |
Der in Gleiwitz geborene Wiatr ist Historiker und Germanist, vor allem aber | |
ist er Mitarbeiter in der deutsch-polnischen Schulbuchkommission. Die hat | |
gerade den dritten Band des deutsch-polnischen Schulbuchs „Europa – Unsere | |
Geschichte“ herausgegeben. „Dort haben wir versucht, Mierosławski in einen | |
europäischen Zusammenhang einzuordnen. Als einen Revolutionär unter | |
anderen, darunter auch Michail Bakunin, Giuseppe Garibaldi und Friedrich | |
Hecker.“ Gerade diese europäische Perspektive sei für die Schülerinnen und | |
Schüler enorm wichtig, betont Wiatr. | |
Aber auch Wiatr weiß, dass es neben der europäischen Ebene auch noch die | |
der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte gibt: „Polen stellt mit dem | |
Aufstand in Posen 1848 die nationale Frage, und Mieroslawski ist dabei“, | |
sagt er. „Das ist sicher einer der Gründe dafür, dass die | |
Polenbegeisterung, auch in der Paulskirche, abflaut.“ | |
Aber auch in Polen wandelt sich die Stimmung. Gegen den erbitterten | |
Widerstand der polnischen Bevölkerung wird ein großer Teil des | |
Großherzogtums Posen am 22. April 1848 in den Deutschen Bund aufgenommen. | |
In der Nationalversammlung in der Paulskirche gibt es dafür eine große | |
Mehrheit, auch unter den demokratischen und liberalen Kräften. Auf den von | |
deutscher Seite als Verrat empfundenen Seitenwechsel von Ludwik | |
Mierosławski erfolgt der von polnischer Seite als Verrat empfundene Akt in | |
der Frankfurter Paulskirche. Nicht mehr nur preußisch war das mehrheitlich | |
polnische Posen, sondern nun auch deutsch. Der Völkerfrühling ist endgültig | |
zu Ende. | |
„Eine komplizierte Gemengelage zwischen Freiheitsbewegungen und nationaler | |
Frage“ nennt das Marcin Wiatr. Dass Ludwik Mierosławski kurz darauf in | |
Baden wieder an der Seite der Aufständischen steht, bedeute nicht, dass er | |
nun wieder die europäische Bühne betreten habe. „Es geht in Baden und auch | |
andernorts eher darum, im deutschen Bund ein Gegengewicht zu Preußen zu | |
schaffen.“ | |
Man könne da sehr gut einen Bogen in die Gegenwart schlagen, findet Wiatr. | |
„Um die Diskussionen in der EU um nationale Souveränität versus weitere | |
europäische Integration zu verstehen“, sagt er, „ist manchmal ein Blick in | |
die Geschichte hilfreich. Da ist es einfacher, die verschiedenen Interessen | |
und Perspektiven zu verstehen und dass es da nicht immer die eine Antwort | |
gibt.“ | |
## Revolution versus Reform | |
Auf dem Friedhof der Märzgefallenen in Berlin-Friedrichshain gibt es seit | |
2018 eine neue Außenausstellung. Provisorisch ist sie zunächst in einem | |
Seecontainer untergebracht. „Wir versuchen dort, die Geschichte der | |
Berliner Märzrevolution von 1848 in ihrem europäischen und nationalen | |
Kontext zu erzählen“, sagt Oliver Gaida. Der Historiker und Vorsitzende des | |
Paul-Singer-Vereins, der den Friedhof betreibt, nennt die verschiedenen | |
Stationen der Ausstellung, unter ihnen die europäischen Schauplätze der | |
Revolution, die Berliner Barrikadenkämpfe oder den Deutschen Bund. | |
Der Berliner Märzrevolution sind vier Unterthemen gewidmet. Es sind „Der | |
Umritt des Königs“, der am 21. März 1848 in eine schwarz-rot-goldene Fahne | |
gehüllt durch die Stadt reitet und bei einem Zwischenstopp an der Berliner | |
Universität behauptet, er werde die deutsche Einheit als absolutistischer | |
Fürst verwirklichen. | |
Ein weiteres Thema ist der Trauerzug mit den Opfern, der am 22. März am | |
Gendarmenmarkt beginnt und zum Volkspark Friedrichshain führt. Dem schließt | |
sich nach der Beerdigung die „Aufbahrung der Märzgefallenen“ an. Aber ganz | |
am Anfang steht das Thema „Die Befreiung der polnischen Freiheitskämpfer“. | |
Auf dieser Tafel ist auch der eingangs beschriebene Holzstich aus der | |
Illustrierten Chronik von 1848 abgebildet, der den Titel trägt: „Empfang | |
der Polen vor dem pennsylvanischen Gefängnis zu Moabit“. Das Adjektiv | |
„pennsylvanisch“ bezeichnet in diesem Zusammenhang die panoptische | |
Architektur des neuen Gefängnisses, von dem überall zu jeder Zeit die | |
Gefangenen überwacht werden konnten. Die Tafel im Container in | |
Friedrichshain selbst endet mit dem Satz: „Das Ersuchen einer polnischen | |
Delegation aus Posen nach nationaler Souveränität wird wenige Tage später | |
von Friedrich Wilhelm IV. abgelehnt.“ | |
Angedeutet ist er also, der Konflikt, für den Ludwik Mierosławski ebenso | |
steht wie für den Triumphzug am Tag seiner Freilassung. „Über seine Person | |
können viele Fragen aufgeworfen werden“, weiß Oliver Gaida. | |
Auch für Dorota Danielewicz ist Ludwik Mierosławski keine historische | |
Person, die bereits auserzählt wäre. „In Polen gibt es ein großes Faible | |
für revolutionäre Helden“, sagt sie. „Fast ist es so, als wären | |
Revolutionen Teil der polnischen DNA.“ Aber um der polnischen | |
Frauenbewegung, die derzeit das Bild der Proteste in Polen gegen die | |
Nationalkonservativen prägt, zum Erfolg zu verhelfen, brauche es neben dem | |
revolutionären Geist auch Ausdauer und Kontinuität. So wie es in Posen Ende | |
des 19. Jahrhunderts der Fall war. | |
Nach dem gescheiterten Januaraufstand 1863 nämlich waren es viele Polinnen | |
und Polen im preußischen Posen satt, immer nur ins offene Messer zu rennen. | |
Stattdessen wurden Vereine gegründet, polnische Banken und | |
Landwirtschaftsvereine, im Zentrum der Stadt wurde mit dem Hotel Bazar eine | |
Art Zentrum polnischer Lobbyarbeit errichtet. „Die polnische Bevölkerung in | |
Preußen arrangierte sich“, sagt Dorota Danielewicz. „Sie wollte nun | |
Reformen statt einer Revolution.“ | |
Ludwik Mierosławski dagegen kämpft weiter. Im Januaraufstand 1863 ist er | |
einer der Anführer im Kampf gegen die Zarenherrschaft. Nach seinem | |
Scheitern flieht er nach Paris. Als er 1878 stirbt, ist die Zeit der | |
Revolutionäre vorbei. Seit der Reichsgründung 1871 sind die Polen in Posen | |
deutsche Staatsbürger, im Reichstag bilden sie die polnische Fraktion. | |
17 Mar 2021 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Polen | |
Revolutionäre | |
19. Jahrhundert | |
Revolution | |
Revolution | |
Demokratie | |
Barrikaden | |
Weimarer Republik | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Friedrichshain-Kreuzberg | |
Geschichte | |
Theodor Fontane | |
Polen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ausstellung zum 18. März 1848 in Berlin: Revolutionärinnen auf den Barrikaden | |
Kugeln gießen und Vereine gründen: Eine Ausstellung erzählt die | |
Märzrevolution 1848 aus weiblicher Perspektive und als Beginn der | |
Frauenbewegung. | |
Historiker über die Märzrevolution: „Ich habe wie im Rausch geschrieben“ | |
Rüdiger Hachtmanns neuestes Werk untersucht die Märzrevolution in Berlin. | |
Darin geht er auch auf die Bedeutung von Frauen ein. | |
Märzrevolution in Berlin: „Ein Tag des Sieges der Demokratie“ | |
Die Initiative „Aktion 18. März“ will den Tag zum nationalen Gedenktag | |
erklären lassen. Warum, erklärt Gründer Volker Schröder. | |
Die Wochenvorschau für Berlin: Ein Fest der Demokratie feiern | |
900 Barrikaden wurden in Berlin am 18. März 1848 errichtet. Zu Erinnerung | |
an die Märzrevolution wird eine von ihnen wieder aufgebaut. | |
Vereinigung Republikanische Presse: Für die Farben der Republik | |
Im Juni 1927 gründeten Journalisten in Berlin einen Verein, um für die | |
Weimarer Republik zu kämpfen. Ihre Geschichte wurde noch nie erzählt. | |
Umbau von Parks wegen der Klimakrise: Zurück zur Natur | |
Parks sind für Großstädter in der Pandemie wichtiger denn je. In Berlin | |
wird der beliebte Volkspark Friedrichshain für den Klimawandel fit gemacht. | |
Berliner Ruinen aus dem 2. Weltkrieg: „Das ist ein Großstadtabenteuer“ | |
Die Ruinen unter den Bunkerbergen im Volkspark Friedrichshain sind | |
verschlossen. Dietmar Arnold vom Verein Berliner Unterwelten hat sie | |
erforscht. | |
Studie zur Ideengeschichte Europas: Über das Nationale hinaus | |
Die Oper und die Eisenbahn waren die Geburtshelfer Europas. Orlando Figes | |
erzählt in seinem Sachbuch vom Beginn eines europäischen Bewusstseins. | |
Fontane-Biograf über 200. Geburtstag: „Besonderes Gespür für Heuchelei“ | |
Theodor Fontanes Romane sind immer noch beliebt. Ein Gespräch mit seinem | |
Biografen Iwan-Michelangelo D’Aprile über Revolution und Realismus. | |
Polnische Politpiraten: Eine deutsch-polnische Geschichte | |
Ein Dokumentarfilm erzählt die Geschichte des Clubs der polnischen | |
Versager. Die haben soeben die erste Polnische Partei Deutschlands (PPD) | |
gegründet. |