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# taz.de -- Die GroKo und die Digitalisierung: Ministerium für Flugtaxis
> Man hört das Desinteresse und die Ideenlosigkeit heraus, wenn die GroKo
> über Technik spricht. Für den digitalen Impfpass verheißt das nichts
> Gutes.
Als Kanzleramtsminister Helge Braun, seines Zeichens Digitalstratege der
Bundesregierung und übrigens auch Arzt, kürzlich bei „Anne Will“ zu Gast
war, offenbarte er für einen kurzen Moment den vollen Charme eines
Menschen, der mit dem Rücken zur Wand steht. Es ging um die Corona-Warn-App
der Bundesregierung, die nicht ganz schlecht ist, aber eben auch nicht ganz
gut und ganz sicher an vielen Stellen verbesserungswürdig. Dummerweise
wurde Braun in diesem Moment auf die Schwächen der App hingewiesen und gab
daraufhin, offensichtlich eingeschnappt, zurück: „Warum muss der Staat
alles anbieten?“
Man hätte es ihm in dem Moment nicht verdenken können, hätte er zeitgleich
mit dem Fuß aufgestampft. Denn natürlich hat er recht: Der Staat muss nicht
alles anbieten. Flugtaxis zum Beispiel. Muss sich der Staat nun wirklich
nicht drum kümmern. Werden vom Verkehrsministerium trotzdem mit einem
Förderprogramm von mehr als 15 Millionen Euro unterstützt.
Der Satz von Helge Braun offenbart eine zentrale Problematik, die der
Technologiedebatte in der bundesdeutschen Politik, allen voran bei Union
und SPD, innewohnt: eine weitverbreitete Haltung, die aus einer Kombination
aus Ideenlosigkeit und Desinteresse besteht. Nicht ein Desinteresse, das
dazu führt, das Thema ganz links liegen zu lassen, das nicht, dazu ist es
einfach zu präsent. Die Zeiten, in denen sich auch die eine oder der andere
Bundespolitiker:in unsicher war, was eigentlich ein Browser ist, sind
ja wohl hoffentlich vorbei. Aber es gibt ein Desinteresse, das verhindert,
Technologie, ihren Einsatz, die Möglichkeiten, die Folgen wirklich ernst zu
nehmen und im Detail zu durchdenken.
Das zeigt sich in vielen Bereichen: in der merkwürdig inkonkreten Debatte
über den Einsatz von künstlicher Intelligenz beispielsweise. Auch bei
selbstfahrenden Autos, die eher als eine Art Science-Fiction-Adaption
dargestellt werden, ohne konkretes Konzept dafür, wie ihre Nutzung etwas
Gutes schaffen könnte. Wenn Technologie ein Thema ist, dann am liebsten in
Kombination mit Überwachung. Die Faustregel: Wenn die Regierungskoalition
über Technik spricht, kommen Flugtaxis heraus und Vorratsdatenspeicherung.
Oder eben die [1][Corona-Warn-App], der das Wort „vergurkte“ mittlerweile
so oft vorangestellt wurde, dass man meinen könnte, es handle sich um die
offizielle Beschreibung.
## An der Corona-App ist gar nicht alles falsch
Dabei ist an dieser App gar nicht alles falsch. Einiges ist gut, zum
Beispiel die datensparsame Architektur. Oder dass sie in einem erstaunlich
offenen Prozess als Open-Source-Anwendung programmiert wurde, was möglich
gemacht hat, dass es mittlerweile einen Fork gibt, also eine Abspaltung
anderer Entwickler:innen mit anderen Features. Anderes ist dagegen
schlecht gelaufen. So hatte die Bundesregierung erst auf ein weniger
datensparsames Modell gesetzt, der Schwenk zu einem besseren Modell kostete
Zeit, und die Entwicklungskosten sind exorbitant.
Aber das zentrale Problem ist: Die App ist nicht ganzheitlich gedacht. Rund
um die App fehlt es – abgesehen von eigens eingerichteten Hotlines – an
allem. An einer zuverlässigen und flächendeckenden Anbindung sämtlicher
relevanten Akteure, Arztpraxen, Gesundheitsämter und Labore. Es gibt nicht
einmal ein verlässliches Konzept dafür, was Menschen tun sollen, deren App
auf einmal eine rote Warnung ausspuckt. Zwar können Ärzt:innen auch dann
einen PCR-Test abrechnen. Jedoch berichten Patient:innen, die eine Warnung
erhalten haben, aber keine Symptome zeigen, immer wieder von
Schwierigkeiten, einen Test zu bekommen.
Zudem sind die Weiterentwicklungen sehr überschaubar, eine seit Monaten
vorgeschlagene datenschutzfreundliche Cluster-Erkennung ist nicht absehbar.
Stattdessen gibt es schon Kommunen, die die private [2][App Luca], die
weder Open Source ist noch mit Transparenz glänzt, einbinden und damit de
facto zum Standard für Nutzer:innen machen.
Die Corona-App steht damit symptomatisch für die Folge der eingangs
beschriebenen desinteressiert-ideenlosen Haltung: Technologien werden fast
immer isoliert betrachtet, losgelöst vom Ökosystem, in dem sie sich
befinden oder befinden werden. Noch einmal zum Beispiel autonomes Fahren.
In der Debatte über die Gesetze, die dazu schon beschlossen wurden und noch
beschlossen werden sollen, geht es viel um herausragende Schnelligkeit bei
der Entwicklung und Zulassung, um den Wirtschaftsstandort Deutschland, um
Shuttleverkehr, vielleicht auch noch mal um die Reduktion von Unfällen.
Aber wenig um folgende Fragen: Was heißt das denn für andere
Verkehrsteilnehmer:innen? Für die Stadtentwicklung? Für uns als
Gesellschaft? Welche Ziele wollen wir erreichen, und wie können wir diese
Technologie dafür nutzen?
## Pandemie als Brennglas
Wer Technologien nur als kontextlose Inselphänomene betrachtet, verkennt
ihre Bedeutung für die Gesellschaft und macht sie zum Selbstzweck. Und
nimmt sich gleichzeitig die Chance, sie in positive Bahnen zu lenken. Wer
zu spät kommt, kann nur noch regulieren, nicht mehr gestalten.
Die Pandemie wirkt hier, wie auch bei zahlreichen anderen Problemen, als
Brennglas. Denn einerseits hat sie zu einem [3][Digitalisierungsschub]
geführt, der praktisch sämtliche Lebensbereiche erfasst. Digitaler
Unterricht und Arbeiten im Homeoffice sind wahrscheinlich die sichtbarsten
Beispiele, aber auch: digitale Ausstellungen, virtuelle Konferenzen,
gestreamte Clubnächte, Opern und Kindertheatervorstellungen. Menschen, die
Weihnachten und Silvester per Videokonferenz zusammen feiern.
Patienten, die ihre Ärztinnen über Videosprechstunde treffen. Kleine Läden,
die mangels Onlineshop eine Videoberatung per Smartphone anbieten samt
anschließender Lieferung des Gekauften. Vieles davon ist aus der Not
entstanden, nicht alles passt für alle, und nicht alles wird bleiben oder
in dem Maße weiter genutzt werden, wenn eine ausreichende Menge an
Geimpften unterwegs ist. Aber ein Teil schon.
Gleichzeitig war – Stand Jahreswechsel 2020/21, also knapp ein Jahr nach
Beginn der Pandemie in Deutschland – bei rund zwei Dritteln der
Gesundheitsämter noch nicht die Open-Source-Software im Einsatz, die sich
auch bei der Kontaktverfolgung im Kampf gegen Ebola bewährt hat.
Stattdessen gab es Excel-Tabellen oder eigene Softwarelösungen. Mit der
Konsequenz, dass die Kommunikation zwischen den Ämtern länger dauert und
sich die Kontaktverfolgung verzögert. Auch hier zeigt sich der Mangel an
ganzheitlichem Denken.
## Wäre der digitale Impfpass fälschungssicher?
Für den digitalen Impfpass, dessen rechtlichen Rahmen die EU-Kommission
kommende Woche vorstellen will und den die Bundeskanzlerin vorantreibt,
verheißt dieser Befund nichts Gutes. Denn auch hier kommt die vermeintliche
Lösung vor der Problemanalyse. Es ist sinnvoll, über eine Entwicklung
frühzeitig nachzudenken und nicht erst dann, wenn man festlegt, dass es
unterschiedliche Regeln für immune und nicht immune Personen geben wird.
Nehmen wir also an, die Idee eines digitalen Impfpasses erweist sich als
sinnvoll, weil das Papierdokument nicht in ausreichendem Maße
fälschungssicher gemacht werden kann und es daher zu Betrügereien kommen
kann, die zu neuen Virusherden führen. Aber auch dann stellen sich einige
Fragen, etwa: Was heißt so eine Entwicklung für die Anonymität im halb
öffentlichen Raum, etwa im Restaurant oder beim Friseur?
Diese Einrichtungen werden für die Überprüfung des Impfstatus auch einen
Identitätsnachweis brauchen. Sonst ließen sich die Impfnachweise einfach
weitergeben. Kommt es durch neue Ausweispflichten dazu, dass Menschen auf
diese Angebote verzichten? Solche chilling effects gibt es bereits in
anderen Bereichen. Müssen wir diese in Kauf nehmen, um die Pandemie zu
kontrollieren? Und, unabhängig davon: Was ist mit Menschen, die aus
gesundheitlichen Gründen oder weil für sie noch kein Impfstoff zugelassen
wurde, nicht geimpft werden können?
In wessen Hände kann die Entwicklung einer solchen Technologie für
Gesundheitsdaten überhaupt gelegt werden? Ist es vielleicht geradezu
geboten, dass Europa einen eigenen digitalen Impfpass entwickelt, weil
Nutzer:innen sonst das Angebot von Microsoft, Oracle und Co. nutzen
werden oder eines der großen Fluglinien, die ebenfalls Interesse am Einsatz
eines derartigen Produkts haben? Es muss dabei keineswegs sofort eine
Antwort auf diese und die zahlreichen weiteren offenen Fragen geben. Aber
abzuwarten führt nicht zu den besten Ergebnissen. Sondern zu einer
Stolperaktion à la Corona-App.
## Hin zur digitalen Souveränität
Die gute Nachricht ist: Ein ganzheitliches Technologieverständnis ist
möglich. Ein machbarer Ansatz dazu wäre das Konzept der digitalen
Souveränität. Damit ist weniger die beliebte Politiker:innen-Forderung
gemeint, dass das nächste Google bitte schön aus Deutschland, zumindest
aber aus Europa stammen solle. Auch nicht ein nationalistisches oder
protektionistisches Verständnis von Technologie.
Vielmehr könnte Souveränität hier eine Art von Grundversorgung meinen, für
die sich der Staat verantwortlich fühlen sollte und die eben spätestens im
21. Jahrhundert neben der analogen Infrastruktur auch eine digitale
umfasst. Mit dem tückischen Unterschied, dass diese um einiges komplexer
ist, was auch die Diskussion darüber komplexer macht, was nun
Grundversorgung sein müsste und was nicht.
Bleiben wir daher beim Beispiel Pandemie. Für diese Situation bedeutet
digitale Souveränität einen Staat, der sich nicht nur um Impfstoff und
Masken kümmert, sondern unter anderem auch darum, dass die digitale
Anbindung der Gesundheitsämter und Labore funktioniert und dass die
Kontaktnachverfolgung schnell und zuverlässig klappt. Dafür sind auch
digitale Hilfsmittel wie Apps und andere Software sinnvoll.
Genauso ist es aber Teil einer Grundversorgung, dass digitaler Unterricht
an Schulen stattfinden kann. Und zwar nicht, indem der Staat
Microsoft-Produkte einkauft, die nicht im Ansatz die Persönlichkeitsrechte
der Nutzer:innen respektieren. Sondern indem er dafür sorgt, dass es die
Privatsphäre sichernde, barrierefreie, inklusive und bedienbare Tools gibt,
die den Bedürfnissen der Nutzenden gerecht werden. Diese muss er nicht
selbst entwickeln, aber er muss eben dafür sorgen, und dafür gibt es ja
Möglichkeiten. Notfalls hilft dabei sicher gern das Ministerium für
Flugtaxis.
15 Mar 2021
## LINKS
[1] /Corona-App-im-Einsatz/!5745251
[2] /Kontaktverfolgung-in-Coronapandemie/!5752526
[3] /Ende-der-ersten-digitalen-Berlinale/!5752446
## AUTOREN
Svenja Bergt
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