# taz.de -- Wie TikTok das Musikverhalten ändert: Die Challenge der Demenz | |
> Durch Tiktok wird ein Postbote zum Popstar und die Aufmerksamkeitsspanne | |
> auf 15 Sekunden verkürzt. Auch ein Ambient-Werk wurde dort gehypt. | |
Bild: Der schottische Postbote Nathan Evans aus Airdrie | |
Am 27. Dezember 2020 stellte der schottische Postbote Nathan Evans eine | |
A-cappella-Version des alten Shantys „Soon May the Wellerman Come“ ins | |
Netz. Nach vier Wochen ist dieses Video über 8,8 Millionen mal gestreamt. | |
Die Plattform, auf der der 28-Jährige diesen unerwarteten Erfolg verbuchen | |
konnte, heißt Tiktok. | |
Die auf kurze Videos spezialisierte Social-Media-App bietet eine | |
„Duett“-Funktion an, mit der andere User*innen Evans’ Original um ihre | |
eigene Stimme ergänzen können. Aus einem im Wohnzimmer vor sich hin | |
singenden Briefträger und Hobbymusiker wurde binnen weniger Tage ein | |
globaler Seemanns-Chor. Evans hat mittlerweile seinen Job als Postbote | |
gekündigt und einen Plattenvertrag beim Majorlabel Polydor unterzeichnet. | |
Tiktok wurde im Jahr 2016 gestartet, sie erhielt ihre entscheidenden | |
Features aber erst durch Fusion mit der ebenfalls chinesischen App | |
Musical.ly im Jahr 2017. Seitdem stiftet die App in der Musikindustrie | |
[1][kreatives Durcheinander]. | |
## 15 Millionen Streams | |
Das zeigte sich etwa beim Playback-Video der philippinischen Userin Bella | |
Poarch, durch das ein vier Jahre alter Grime-Track namens „M to the B“ | |
über 15 Millionen Mal auf [2][Spotify] gestreamt wurde. Und 2019 hielt sich | |
ein US-Teenager mit seiner Debütsingle, einem unkonventionellen Mix aus | |
Country und Trap, sogar 19 Wochen an der Spitze der Charts: „Old Town Road“ | |
von Lil Nas X verdankte seinen rekordverdächtigen Erfolg einer | |
Cowboy-Dance-Challenge auf Tiktok. | |
Bei allen stilistischen Unterschieden vereint die Tiktok-Hits bisher ein | |
Merkmal: Sowohl „M to the B“ als auch „Old Town Road“ und „The Weller… | |
dauern etwa zwei Minuten. Die Dominanz von Streamingdiensten wie Spotify | |
und Apple Music, die in ihrem Geschäftsmodell die ersten 30 Sekunden eines | |
Songs favorisieren, führt zu immer kürzeren Hits, wie der | |
US-Musikwissenschaftler Nate Sloan 2019 in seinem Podcast [3][„Switched on | |
Pop“] analysierte. Auch Tiktok profitiert davon. Die populärsten Videos | |
sind hier 15 Sekunden lang. Wer einen Song durch Tiktok kennen lernt, | |
bekommt ihn nur als Ausschnitt zu hören, als Loop, der nur wenige Momente | |
anhält. | |
Wer auf Tiktok einen Song-Hashtag entlangklickt, hört diese Schleife immer | |
und immer wieder. Ein Refrain braucht Loop-Potenzial, um sich in den | |
aktuellen Charts als Hit durchzusetzen. Das verändert sowohl die | |
Hörgewohnheiten des auf Memes geeichten Publikums als auch die | |
Kompositionen der Hitmacher*innen. Mit den Erfolgsformeln des | |
Streamingmarkts kombiniert entsteht eine Feedback-Schleife: Je kürzer der | |
Song, desto mehr gleicht er dem Ausschnitt, durch den man ihn kennengelernt | |
hat. Und desto erfolgreicher ist er. Zumindest in der Theorie. | |
## „Everywhere at the end of time“ | |
In der Realität ist es komplizierter. Kein Phänomen demonstriert das besser | |
als [4][„Everywhere at the End of Time“,] die Tiktok-Sensation von 2020. | |
Dahinter steckt The Caretaker, ein britischer Musiker, der mit bürgerlichem | |
Namen Leyland James Kirby heißt. Sein Alter ist nicht das Einzige, was den | |
46-Jährigen von den meisten, eher jungen Tiktok-Profiteur*innen | |
unterscheidet: „Everywhere at the End of Time“ ist ein Ambient-Album. Und | |
spielt sechseinhalb Stunden lang. Auch die Musik von The Caretaker basiert | |
auf Schleifen. Die sind aber weder besonders Meme-tauglich noch besonders | |
catchy: Kirby sampelt Ballroom-Jazz aus den frühen Tagen der | |
Unterhaltungskultur – und verzerrt die Loops mit geisterhaften | |
Hall-Effekten und Störgeräuschen. | |
In den letzten Jahren seiner Karriere konzentrierte sich Kirby auf das | |
Thema Demenz. Seine zugleich nostalgische und unheimliche Musik meditiert | |
über das Vergessen. Einst fröhlich klingende Jazzklänge mutieren zum Echo | |
der Vergangenheit, wie eine ferne, langsam schwindende Erinnerung. | |
Jedes der sechs Kapitel von „Everywhere at the End of Time“ steht für eine | |
Stufe der Demenz, von ersten Symptomen über die bewusste Realisierung bis | |
zum körperlichen und geistigen Verfall. Im ersten Abschnitt klingt die | |
Musik noch klar, doch mit jedem Kapitel wird sie verzerrter, bis am Ende | |
nur noch weißes Rauschen und schlussendlich Stille übrig bleibt. | |
## Super gruseliges Album | |
„Everywhere at the End of Time“ durchzuhören ist eine zutiefst viszerale | |
Erfahrung – die in ihrer schieren Länge und musikalischen Abstraktion am | |
Streamingmarkt mit seinen kurzen Aufmerksamkeitsspannen zum Scheitern | |
verurteilt sein sollte. „Sucht ihr etwas Trauriges zum Hören oder Lesen? | |
Checkt ‚Everywhere at the End of Time‘ aus!“, postete der Tiktok-User | |
„ech0inc“ im August 2020 und empfahl das „super gruselige“ Album seinen… | |
Followern, gemeinsam mit einer detaillierten Zusammenfassung des | |
Demenz-Konzepts. | |
Sein Video trat eine Lawine los. Im September teilten zahlreiche | |
User*innen ihre Erfahrungen mit Kirbys Epos. Die Nutzerin „dprwrld“ | |
schrieb in ihrem Video: „Ich werde jetzt meinen Nachmittag damit verbringen | |
und meine Reaktionen mit euch teilen.“ | |
Nach jedem Abschnitt postete sie ein neues Video und verkündete ihre | |
jeweilige Stimmung. „Während das Lied vorbeizieht, vergesse ich, wie das | |
vorherige klang“, schreibt sie nach Stufe 4. Bei Stufe 6 blickt sie | |
tränenüberströmt in die Kamera. Nicht nur die Emotionen, sondern auch die | |
Zahlen sind überwältigend. „Dpwrld“s sieben Reaktions-Videos wurden | |
insgesamt eineinhalb Millionen Mal angeschaut. Seit „ech0inc“s erstem Post | |
wurde die komplette Version von „Everywhere at the End of Time“ 6,7 | |
Millionen Mal auf Youtube gestreamt. Was diese Videos eint: User*innen | |
setzen sich mit dem ganzen Werk auseinander. | |
## Sechsstündige Erfahrung | |
Es beginnt mit einem 15-sekündigen Ausschnitt und endet mit einer | |
sechsstündigen Erfahrung. Für viele ist auch das nur eine „Challenge“. Im | |
Teilen dieser Erfahrungen entsteht aber mehr als ein über den Globus | |
verteilter Shanty-Chor – ein Dialog. „Dank diesem Video hab ich direkt | |
meine [demenzkranke] Großmutter besucht“, schreibt ein Hörer auf Youtube. | |
„Mein Großvater leidet seit zwei Jahren an Demenz“, schreibt eine | |
Tiktok-Userin in den Kommentaren. „Ich habe zu viel Angst [vor diesem | |
Album], aber ich würde ihn so gerne verstehen und will nicht, dass er | |
alleine leidet.“ | |
Auch der Komponist weiß um den Wert des Teilens. Kirby sagte im Interview | |
mit dem britischen Musikmagazin The Quietus: „Das Format der | |
Tiktok-Challenge ist unter jungen Menschen eine der vorherrschenden | |
Social-Media-Tropen.“ Solch eine Challenge sorgt für Gruppengefühl, für ein | |
starkes Gemeinschaftserlebnis. Dass alleine die ständige Verwendung von | |
„Challenge“ und „Demenz“ trivialisierend, ja zynisch wirkt, ist ihm | |
bewusst. „Demenz ist kein triviales Thema. Was ich als Feedback bekomme, | |
hilft aber, jungen Menschen die Symptome dieser Krankheit begreifbar zu | |
machen.“ | |
Trotzdem scheint eher unwahrscheinlich, dass Kirbys sechsstündige Suite | |
einen neuen Trend zum Longlistening auslösen wird. Denn seine Langform wird | |
auf Tiktok in 15-sekündige Clips heruntergebrochen. Die aus Schleifen | |
konstruierte Musik von The Caretaker scheint auf perverse Art perfekt für | |
Tiktok zu sein. Sie ist aber eine faszinierende Anomalie, keine | |
Revolution. | |
Außerdem verpuffen auf Tiktok die meisten Hypes innerhalb weniger Stunden. | |
Schwer zu sagen, wie lange die [5][Debütsingle „Drivers Licence“] der | |
17-jährigen US-Künstlerin Olivia Rodrigo durch Tiktok in die Charts gepusht | |
wird. Vermutlich werden in ein paar Monaten Sea-Shanties und | |
Demenz-Ambientsound vergessen sein. Spannend an TikTok bleibt: Wie es | |
weitergeht, kann niemand vorhersehen. | |
8 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Streit-um-Streaming-Modelle/!5737347 | |
[2] /Studie-zu-Spotify-Geschaeftspraktiken/!5613333 | |
[3] https://switchedonpop.com/episodes/whosafraidoftiktok | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=wJWksPWDKOc&t=4997s | |
[5] https://www.youtube.com/watch?v=ZmDBbnmKpqQ | |
## AUTOREN | |
Marius Magaard | |
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