# taz.de -- Japanische Kaiseki-Küche: Von allem etwas, von nichts zu viel | |
> In einem Kaiseki-Menü ist das Essen so präzise arrangiert wie | |
> Installationskunst. Das ist fast dekadent in seiner Vielfalt, aber | |
> niemals zu viel. | |
Bild: Elf Gänge sind beim Kaiseki kein Muss, aber auch keine Seltenheit | |
Die erste Yuzu vergisst man nicht so schnell. Wer nur südeuropäische | |
Zitrusfrüchte kennt, dem kann ihr unvergleichlicher, ätherisch-fruchtiger | |
Duft fast außerirdisch erscheinen. Nicht von dieser Welt. | |
Kentaro Fujita weiß die Kreuzung aus Mandarine und chinesischer Zitrone | |
einzusetzen. In dem Neujahrsmenü, das er als Chefkoch des Frankfurter | |
Restaurants „Nihonryori Ken“ Ende 2020 kreiert hat, spielte die Yuzu gleich | |
mehrere Rollen. Mit ihrem Saft aromatisierte Fujita einen Wolfsbarsch, ihre | |
Schale simmerte er süß, und die ausgehöhlte, noch immer unvergleichlich | |
intensive Frucht füllte er mit einem Salat aus weißem Winterrettich und | |
Karotte. | |
Dies waren nur drei Teile des insgesamt nicht weniger als 31 Kleinigkeiten | |
umfassenden Banketts für zu Hause, das mit zahlreichen feinen Zutaten in | |
effektvoller, aber keineswegs effekthascherischer Aufmachung aufwartete. | |
Klettenwurzel mit Meerbrasse zum Beispiel, Kastanienpüree mit japanischer | |
Süßkartoffel, schwarze Sojabohnen mit Blattgoldüberzug, ein traditioneller | |
Glücksbringer fürs neue Jahr – einiges eher außergewöhnlich für den | |
westeuropäischen Gaumen, aber puristisch im Geschmack. Dazu Gemüse, hübsch | |
geschnitzt zu Tulpen oder Blütenblättern, und geheimnisvolle Perlen, die | |
nach dem Zerplatzen im Mund einen Geschmack wie Fischbrühe-Limonade | |
hinterlassen. | |
Kentaro Fujita hat sich ganz auf [1][die hohe Kunst des Kaiseki] | |
spezialisiert, die so etwas wie die Haute Cuisine Japans ist. Es ist die | |
Traumküche für alle Menschen mit Entscheidungsschwäche: Kaiseki bietet von | |
allem etwas, aber von nichts zu viel. | |
## Jahrhundertealte kulinarische Einflüsse | |
Die moderne Kaiseki-Küche ist dabei ein Konglomerat verschiedener | |
kulinarischer Einflüsse, die teils bis in die Heian-Zeit (794–1185) | |
zurückreichen. Heute gibt es zwei grundlegende Ausprägungen, die im | |
Japanischen durch unterschiedliche Schreibweisen gekennzeichnet sind. Zum | |
einen das Cha Kaiseki (茶懐石), das mit seinen vegetarischen, leichten Speis… | |
die Teezeremonie begleitet. Und dann das Kaiseki-ryori oder schlicht | |
Kaiseki (会席), wie es heute in Restaurants serviert wird. | |
Diese Form der Haute Cuisine hat sich in den letzten dreihundert Jahren | |
immer weiter spezifiziert, bei der Verschmelzung zahlreicher kulinarischer | |
Traditionen und Schulen ist so ein Kanon ungeschriebener Gesetze | |
entstanden. Zu dem zählt beispielsweise, dass je ein gesimmertes, ein | |
gegrilltes und ein gedämpftes Gericht serviert werden sollen. Elf Gänge | |
sind im Kaiseki keine Seltenheit, aber auch kein Muss. Der zweite Gang | |
besteht häufig aus rohem Fisch und setzt das Menü-Thema, andere Gerichte | |
werden ausschließlich im Sommer serviert. | |
Daneben gibt es eine Handvoll weitere Ziele, die allerdings recht allgemein | |
gehalten sind und somit der Interpretation der Köchin oder des Kochs | |
vorbehalten bleiben: Alle Zutaten sollen frisch und saisonal sein und so | |
zubereitet, dass ihr natürliches Aroma bestmöglich zur Geltung kommt. Viele | |
Kaiseki-Küchen legen zudem Wert auf regionale Zutaten. Umgebung und | |
Jahreszeit sollen sich in der Menüfolge idealerweise widerspiegeln. | |
Beim Kaiseki kommt es ebenso auf die einzelnen Teile wie auf ihre Summe an. | |
Alles ist gleichermaßen wichtig, neben Textur und Geschmack auch die | |
optische Komponente. Der angestrebte Einklang aus Artifiziellem und | |
Natürlichem wird oftmals bildlich umgesetzt: durch Dekoration mit | |
ausgesucht schönen Blättern und Blüten oder durch Obst und Gemüse, das in | |
Form von Tieren und Pflanzen gereicht wird. | |
## Wie Blumenarragements auf dem Teller | |
Auf den unbedarften westeuropäischen ersten Blick erscheint das Ergebnis | |
nicht immer wie eine Portion Essen, eher schon wie eine Lektion in Ikebana, | |
der hohen japanischen Kunst des Blumenarrangierens. Es sind präzise | |
Kompositionen, die den Wunsch wecken, sie zu durchdringen. Man will | |
kapieren, was sie ausmacht, die ihnen innewohnenden Hierarchien und Codes | |
entschlüsseln. | |
Wer hin und wieder eine Ausstellung mit Installationskunst besucht, findet | |
durchaus Ähnlichkeiten. Manchmal ist es nur ein einzelnes Kraut, das quer | |
an einen Quader Fisch gelehnt wird wie eine geheime Skulptur, die man | |
sofort wertschätzen kann, auch wenn sich ihre Bedeutung noch nicht völlig | |
erschließt. Kaiseki wirkt üppig und spartanisch zugleich, ist poetisch und | |
übersichtlich, beinahe schon dekadent in seiner Vielfalt und doch an keiner | |
Stelle too much. | |
Außerhalb Japans hat es Kaiseki nie zu einer vergleichbaren Popularität wie | |
Sushi oder Teppanyaki geschafft. Was nur verständlich erscheint ob der | |
Komplexität, ob des finanziellen und organisatorischen Aufwands für die | |
zahlreichen Zutaten in für gastronomische Betriebe eher kleinen Mengen. So | |
gibt es in Deutschland nur wenige Lokale, die Kaiseki-Menüs anbieten, | |
gleich zwei davon in Frankfurt am Main. | |
## Japanische Küchentradition in Mitteleuropa | |
Neben dem „Nihonryori Ken“, das außerdem in Düsseldorf vertreten ist, ist | |
da noch das „The Sakai“. Dessen Küchenchef Hiro Sakai steht nun vor der | |
Aufgabe, eine so genuin japanische Küchentradition in Mitteleuropa | |
umzusetzen. „Natürlich kann man nicht dasselbe Kaiseki in Deutschland | |
anbieten wie in Japan“, sagt Sakai. Er koche meist mit saisonalen deutschen | |
Zutaten, die zum Landesklima und der Umgebung seines Restaurants passen, | |
erklärt er. Für die Zubereitung greife er aber auf japanische basics | |
zurück: Gemüse oder Fisch kocht er in Daschi-Brühe statt in Wasser, | |
mariniert wird mit Sojasauce oder Misopaste. | |
Sakai scheint es weniger um eine strenge Auslegung regionaler Küche zu | |
gehen, wie sie das deutsche Publikum [2][vielleicht im Sinn ha]t, wenn es | |
Schlagworte wie „lokal“ hört, oder um Zutaten streng nach dem | |
Saisonkalender. Stattdessen um eine Küche, die – ganz schlicht, aber nicht | |
banal – zum Ort und zur Zeit, an dem und zu der sie genossen wird, passt. | |
Das mag geschrieben recht allgemein klingen, doch auf dem Teller ergibt es | |
eine hochspezifische Komposition. | |
So gehören zu Hiro Sakais aktuellem Saisonmenü unter anderem Macarons mit | |
Lachs-Miso-Creme, Jakobsmuscheln mit Gurke und Yuzu-Pfeffer-Soße, ein | |
japanisches Schnitzel nach Millefeuille-Zubereitung und auch mal ein | |
Schokoladenkuchen – die Interpretation des Kaiseki-Kanons lässt durchaus | |
kreativen Spielraum. „Dieses Kaiseki kann man in Japan so nicht erleben“, | |
meint Sakai. „Beide Varianten kann man als ‚originell‘ bezeichnen, und ich | |
arbeite fleißig daran, immer originelle Kaiseki-Küche für meine Gäste | |
anzubieten.“ | |
31 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Katharina J. Cichosch | |
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