# taz.de -- Machtwechsel in Washington: Kampf der Traumatisierten | |
> Nicht der Effekt ihres Handelns, sondern die emotionale Genugtuung treibt | |
> die Anhänger Trumps an. Was zählt, ist die Gruppenzugehörigkeit. | |
Eine Frage bewegt derzeit alle: Sind wir Trump nach seinem Abgang aus dem | |
Weißen Haus nun wirklich los? Ist die Zeit für seine Spielart des | |
Populismus abgelaufen? Nun, da er über keine präsidentielle PR-Maschine | |
mehr verfügt, wird Trump uns wohl nicht mehr so oft auf den Wecker gehen. | |
Aber er wird weiter als Anführer einer Gegenregierung mit Sitz in | |
Mar-a-Lago wirken. Deren Tentakel reichen bis in den Kongress, und sie weiß | |
[1][bewaffnete Milizen hinter sich]. | |
Trumps Einfluss und seine Sicht der Welt bleiben nur dann bedeutsam, wenn | |
mächtige Republikaner wie Senator Mitch McConnell sie für nützlich halten – | |
weil sie wollen, dass ihre Basis weiter für eine Politik stimmt, mit der | |
sie sich letztlich schadet. Andererseits hängt die weitere Wirksamkeit von | |
Trumps Weltsicht davon ab, ob sich seine AnhängerInnen noch mit ihr | |
wohlfühlen – egal welche Politik dahintersteckt. In dieser Hinsicht kann | |
man schon beunruhigt sein. | |
Laut der Washington Post glauben [2][beinahe 70 Prozent der Republikaner], | |
dass es bei der Wahl im November Betrug gegeben hat – obwohl | |
republikanische Wahlbeamte die Auszählungen überprüft haben, obwohl diese | |
in mehr als 60 Gerichtsverfahren bestätigt wurden, zweimal sogar durch den | |
Supreme Court, und obwohl Wahlkontrolleure auf der nationalen Ebene die | |
Abstimmung als [3][„die sicherste in der amerikanischen Geschichte“] | |
bezeichnet haben. | |
Noch stärker besorgt bin ich über die Zahl der AmerikanerInnen, die | |
überzeugt sind, dass Trump ihre Interessen vertritt. Tatsächlich trifft das | |
nur auf einen Sektor der Trump-AnhängerInnen zu: reiche Einzelpersonen und | |
Unternehmen, die weniger Steuern zahlen wollen (was Trump 2017 durchgesetzt | |
hat) und die Schutzbestimmungen für VerbraucherInnen, Erwerbstätige und die | |
Umwelt aushebeln wollen. | |
## Trump vertritt nur die Reichen | |
Dieser Sektor handelt seinen Interessen gemäß, besonders, da Trumps | |
gelegentlich populistisch klingende Handelsrhetorik kaum Folgen für die im | |
Welthandel tätigen Unternehmen hat. Das ist schlüssig, wenn auch gierig; | |
das Gemeinwohl und die von allen genutzte Infrastruktur bleibt | |
unberücksichtigt. | |
Trump und die Politik der Republikaner zu unterstützen ist dann wenig | |
sinnvoll, wenn man zur Mittelschicht und zur Arbeiterschaft gehört, deren | |
Infrastruktur (Straßen, Internetzugang, Gesundheitsversorgung, Schulen und | |
Berufsbildung, Luft- und Wasserqualität) durch Trumps Steuer- und | |
Deregulierungspolitik Schaden genommen hat. Der Glaube an Trump bleibt | |
trotzdem bei vielen bestehen. Oder genauer: | |
Das Bedürfnis, an Trump zu glauben, bleibt bestehen. Welchen Glauben | |
braucht man und warum? Das kann man auf zweierlei Weise betrachten: Zum | |
einen gibt es die menschliche Fähigkeit, zu hoffen, zu glauben, dass man | |
den Übeln, die uns begegnen, wirksam entgegentreten kann. Ja, die | |
Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen ist deutlich gewachsen, wie uns das | |
Economic Policy Institute sagt. | |
Und in der Zeitschrift Forbes kann man lesen, dass große Bereiche der | |
Wirtschaft durch technologischen Wandel und die Steigerung der | |
Produktivität ins Aus gedrängt wurden. Einige Regionen unseres Landes | |
wurden zum [4][„Rust Belt“]. In unserer von Wissen und Daten getriebenen | |
Wirtschaft verengt sich der Horizont für Menschen ohne College-Abschluss | |
immer mehr. Aber Hoffnungslosigkeit ist eine Sackgasse und führt für immer | |
mehr Menschen zu Abhängigkeit von Drogen oder Alkohol. | |
## Die Leute wollen an Trump glauben | |
„Todesursache Verzweiflung“ haben dies Anne Case und Angus Deaton im | |
vergangenen Jahr in [5][ihrem New-York-Times-Bestseller] genannt. Menschen | |
müssen daran glauben können, dass sie ihre eigenen Lebensumstände | |
beeinflussen und verbessern können. | |
Um in einer schwierigen Lage effektiv handeln zu können – sei sie durch | |
wirtschaftliche Not, raschen demografischen Wandel oder Veränderungen im | |
Lebensstil bedingt –, muss man erkennen können, was schiefgelaufen ist, | |
gegen wen man sich wehren muss und wer einem zur Seite steht. Falls dies | |
gelingt, wachsen Zugehörigkeitsgefühl und Selbstbewusstsein, und man findet | |
Gleichgesinnte, die einem Unterstützung leisten. | |
Dies gilt für Unterstützer Trumps genauso wie für Fans von Bernie Sanders | |
oder der linken Kongressabgeordneten [6][Alexandria Ocasio-Cortez]. Doch es | |
funktioniert auch andersherum: Zur Beseitigung wirtschaftlicher oder | |
anderer gesellschaftlicher Missstände befürworten Trumps AnhängerInnen | |
Maßnahmen, die sich gar nicht dafür eignen. Allein die Überzeugung, dass | |
man mit diesem oder jenem Mittel Probleme lösen könnte, reicht ja nicht | |
aus. Die schwierige Lage bleibt schwierig. | |
Aber der emotionale Zugewinn, der daraus resultiert, in einer Gemeinschaft | |
aktiv geworden zu sein, stellt sich dennoch ein. Im Ergebnis streiten Leute | |
dann für unwirksame Maßnahmen, weil es ihnen emotionale Genugtuung | |
verschafft. Je weiter die Unterstützungsnetzwerke und das emotionale | |
Wohlgefühl wachsen, desto überzeugter wird man von der „Lösung“, die die… | |
Netzwerke zusammenhalten. | |
## Moderne Hexenjagd | |
Dabei ist es wichtig, dass die angebotene „Lösung“ der Probleme auch sehr | |
lange Zeit weiterverfolgt werden kann, sofern daraus psychologischer Nutzen | |
entsteht. Jahrhundertelang wurden unzählige Hexen verbrannt, doch kein | |
einziges Problem des mittelalterlichen Dorflebens wurde so gelöst. Heute | |
wird auf [7][Twitter] über Hexen getuschelt. | |
Der aus Frankreich stammende Anthropologe [8][René Girard] hat dies in | |
Büchern wie „Der Sündenbock“ oder „Le Sacrifice“ den | |
„Sündenbock-Mechanismus“ genannt. Wenn Knappheit und Wettbewerb | |
gesellschaftliche Spannungen produzieren, wird ein Ziel ins Visier | |
genommen, das angeblich Urheber des Problems ist. | |
Wenn sich die Mehrheit darauf verständigt, diesen Sündenbock zu töten, | |
lösen sich die Spannungen zunächst auf, vor allem aber fühlen sich die | |
Angreifer als Gruppe, die ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Tatkraft | |
eint. Die Psychologin Carol Gilligan und ihre Studentin Naomi Snyder | |
erläutern in ihrem Buch [9][„Why Does Patriarchy Persist?“], dass die erste | |
emotionale Verteidigung bei Verlust oder Bedrängnis darin besteht, auf | |
Abstand zur Außenwelt zu gehen, um sich vor weiteren Verletzungen zu | |
schützen. | |
Dies geschieht oft in persönlichen Beziehungen – wenn sie an dich nicht | |
herankommen, können sie dir auch nichts anhaben –, aber auch bei | |
wirtschaftlichen oder politischen Rückschlägen. Wer Schwierigkeiten oder | |
Traumata verarbeiten muss, kann anderen kein Vertrauen schenken und keine | |
Nähe herstellen. Dies ist nicht nur in Kriegen oder Hungersnöten der Fall, | |
sondern auch bei Verlust des Arbeitsplatzes, raschem Wandel | |
gesellschaftlicher oder Geschlechterrollen sowie demografischen | |
Veränderungen. | |
Also immer wenn die eigene gewohnte Lebensweise und die Erwartungen an die | |
Mitmenschen infrage gestellt werden. Die Fähigkeit, Beziehungen wieder | |
anzuknüpfen, Sympathie und Freundschaft zu empfinden und anderen zu | |
vertrauen, ist ein Prozess der Heilung. Er kann aber nur stattfinden, wenn | |
der „Ich gegen sie“-Schutzmechanismus nicht durch ein „Wir gegen sie“ | |
ersetzt wird: Meine Gruppe gegen die der „anderen“. Der Reiz ist, dass | |
damit beide Formen des emotionalen Zugewinns locken: | |
## Etwas ausrichten zu können, ist Illusion | |
Man fühlt sich effektiv (wir lösen unsere Probleme, indem wir „sie“ | |
angreifen) und einer Gruppe zugehörig (wir handeln gemeinsam, wenn wir | |
„sie“ angreifen). Man weiß, wer „wir“ sind, wer „sie“ sind, wer �… | |
Unrecht getan hat und gegen wen „wir“ uns zu Recht mit aller Kraft zur Wehr | |
setzen. „Sie“ anzugreifen als „Lösung“ allgegenwärtiger Probleme muss | |
nicht einmal langfristig von Erfolg gekrönt sein, es reicht völlig, wenn | |
der psychologische Gewinn durch die Zusammenarbeit beim Angriff fühlbar | |
bleibt. | |
Dies ist eine der Möglichkeiten, wie Psychologie Politik beeinflusst. | |
„Große Gruppen regredieren genauso wie Individuen, wenn sie gemeinsam unter | |
Druck geraten“, schreibt der Psychiater Vamik Volkan in | |
Hyperlink:=„Blutsgrenzen“. „Sie nehmen ihre Umgebung als gefährlicher wa… | |
als sie ist, und andere als mächtiger als sie selbst.“ Und er ergänzt: „Je | |
mehr Stress eine Situation erzeugt, desto argwöhnischer betrachten sich | |
benachbarte Gruppen.“ | |
Diese psychologisch-politische Situation kann lange Zeit überdauern. Jeanne | |
Knutson ist die Gründerin der Internationalen Gesellschaft für Politische | |
Psychologie. Verletztheitsgefühle und die Angst vor zukünftigen | |
Verletzungen halten lange an, schreibt sie ebenfalls in „Blutsgrenzen“, und | |
sie erfordern den Balsam, den das Gefühl der Gemeinschaft und des Erfolgs | |
bringt. „Man kann die Identität eines Opfers nicht auslöschen. | |
Die ersten Schläge erzeugen permanente Wachsamkeit, und man macht sich auf | |
die nächste Attacke des nächsten Angreifers gefasst. Selbst falls der – sei | |
es ein Stamm, eine ethnische Gruppe oder ein Land – seine Macht oder die | |
glaubwürdige Fähigkeit zum Angriff verliert, bleibt die Angst des Opfers | |
bestehen.“ Politische Gewalt nimmt ihren Ausgang, so Knutson, mit der | |
Überzeugung, dass „allein fortgesetzte Anstrengungen, sich oder seine | |
Gruppe angemessen zu verteidigen, die eigene Bedrohung verringern“. | |
Trumps AnhängerInnen sind überzeugt, die „Schuldigen“ identifiziert zu | |
haben – also den Staatsapparat/„Deep State“, der von lügnerischen und | |
elitären Medien dabei unterstützt wird, es Schwarzen, neu Eingewanderten | |
und [10][bisweilen auch Juden] zu ermöglichen, „ihre“ Jobs, ihre Region und | |
ihre Lebensweise zu zerstören. | |
Dies erlaubt ihnen, sich als Gemeinschaft zu empfinden, ihr | |
Selbstwertgefühl und die Illusion des Erfolgs aufzubauen – selbst wenn die | |
Bedrohung ihres wirtschaftlichen Wohlergehens und ihrer Lebensweise | |
unverändert besteht. Es kann sein, dass Trump diese Denkweise weiter | |
verkörpern wird – oder er gerät ins Vergessen. Aber solange es keine | |
Alternativen zu den psychologischen Vorteilen des Trumpismus gibt, werden | |
viele von ihm nicht ablassen. | |
Joe Biden, Kamala Harris und die Demokraten wissen, dass sie die Wirtschaft | |
in Gang bringen, die Gesundheitsversorgung, das Erziehungswesen und die | |
Infrastruktur verbessern müssen. Aber ihr Auftrag ist auch, Alternativen zu | |
der verfänglichen Denkstruktur des „Wir gegen sie“ zu entwickeln. | |
Übersetzung aus dem Englischen von Stefan Schaaf | |
23 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] /USA-vor-der-Amtseinfuehrung-Bidens/!5741466 | |
[2] https://www.washingtonpost.com/politics/2020/12/04/many-republicans-think-e… | |
[3] /US-Wahlen-und-Trumps-Betrugsverdacht/!5724030 | |
[4] /General-Motors-streicht-tausende-Stellen/!5554103 | |
[5] https://press.princeton.edu/books/hardcover/9780691190785/deaths-of-despair… | |
[6] /Impeachment-gegen-US-Praesident-Trump/!5738388 | |
[7] /Twitter-loescht-QAnon-Accounts/!5744081 | |
[8] https://sciencev2.orf.at/stories/1764371/index.html | |
[9] https://politybooks.com/why-does-patriarchy-persist/ | |
[10] https://www.washingtonpost.com/news/acts-of-faith/wp/2017/08/14/jews-will-… | |
## AUTOREN | |
Marcia Pally | |
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