| # taz.de -- Gespräch über Queeres – und Pilgern: „Eigentlich bin ich imme… | |
| > Nach über 14 Jahren beim Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg | |
| > geht Jörg Steinert jetzt andere Wege. Er hat das Pilgern für sich | |
| > entdeckt. | |
| Bild: Gibt zum Jahresende 2020 sein Amt auf: Jörg Steinert, Geschäftsführer … | |
| Zuerst erklärt uns Jörg Steinert das Setting: Wir sitzen mit gebührendem | |
| Abstand in einem frisch gelüfteten Raum am Sitz des Lesben- und | |
| Schwulenverbandes Berlin-Brandenburg (LSVD) in Schöneberg. Mehrere Tische | |
| sind durch hohe Plexiglasscheiben getrennt. | |
| Jörg Steinert: Hier entsteht gerade unser virtuelles Klassenzimmer. Unsere | |
| Schularbeit ist ja im März total zusammengebrochen. Vor den Sommerferien | |
| durften wir wieder in die Schulen, aber mittlerweile ist das auch wieder | |
| vorbei. | |
| taz: Das müssen Sie uns erklären. Was macht der LSVD in Schulen? | |
| Jörg Steinert: Aufklärungsarbeit zu LSBTI-Themen. Jugendliche sollen sich | |
| damit auseinandersetzen und können ihre Fragen loswerden, wir führen auch | |
| kleinere Projekte durch. Sonst haben wir lange Wartelisten, das hat sich | |
| durch Corona leider geändert. | |
| Aber die gute Nachricht ist, dass es eine so große Nachfrage gibt. | |
| Das stimmt. Als ich vor 14 Jahren hier angefangen habe, war das nicht so. | |
| Ich habe als Nichtpädagoge die Aufklärungsarbeit des LSVD aufgebaut, und | |
| wir sind damals den Schulen regelrecht hinterhergerannt. Jetzt ist es genau | |
| andersherum. Das ist zum einen dem für alle verbindlichen Ethikunterricht | |
| zu verdanken, zum anderen der Initiative „Berlin tritt ein für | |
| Selbstbestimmung und Akzeptanz geschlechtlicher und sexueller Vielfalt“ – | |
| ein Aktionsplan gegen Homophobie und Transphobie. | |
| Machen das alles EhrenamtlerInnen? | |
| Nein, zwei angestellte SozialpädagogInnen. Eigentlich haben wir auch einen | |
| Honorarkräfte-Pool von jüngeren Leuten, die näher dran sind an der | |
| Zielgruppe. Dieses Jahr kann dieser Etat nicht bedient werden, aber wir | |
| ringen mit der Bildungsverwaltung, dass die Mittel 2021 wieder fließen. Wir | |
| brauchen die Leute, wir gehen immer zu zweit in Klassen, was auch von der | |
| Diversität her Sinn macht. In diesem Pool haben wie sehr unterschiedliche | |
| Menschen, fachlich wie biografisch. Das kommt bei den Jugendlichen gut an. | |
| Fragen die Schulen das selbst nach? | |
| In der Regel die Lehrkräfte. Inzwischen haben alle Berliner Schulen | |
| Ansprechpersonen für LSBTI-Themen, die zum Teil selbst Aufklärung und | |
| Beratung leisten, aber Unterstützung brauchen. Dafür sind wir und andere | |
| Träger da – übrigens auch an den Grundschulen. | |
| Worüber wird da so gesprochen? | |
| Während es bei den Großen um Liebe, Beziehung und selbstbestimmte | |
| Sexualität geht, dreht es sich bei den Kleinen um Familie und Freundschaft. | |
| Als die ersten Nachfragen von Grundschulen kamen, war das auch neu für uns. | |
| Inzwischen ist es ein Standardangebot. | |
| Gibt es Kieze, in denen Ihre Arbeit weniger willkommen ist? | |
| Sicher. Das war schon sehr unterschiedlich, als wir angefangen haben. | |
| Anfangs waren es Schulen mit einer Schülerschaft aus dem Bildungsbürgertum, | |
| die sehr aufgeschlossen waren, dagegen haben Schulen in sozial abgehängten | |
| Kiezen mit hohem Migrantenanteil unser Angebot eher abgelehnt. Wir haben | |
| damals mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zusammengearbeitet – | |
| Stichwort Quartiersmanagement – und waren der Überzeugung: Wir müssen in | |
| der ganzen Stadt präsent sein. Und sind in diese Schulen rein. | |
| Und? | |
| Es hat gut funktioniert. Klar, wir mussten große Überzeugungsarbeit | |
| leisten, die Schulleitungen hatten Angst, dass ihnen das Thema um die Ohren | |
| fliegt. Was nicht geschehen ist. Und manche Jugendliche, die etwa aus sehr | |
| religiösen Haushalten kamen, wo das Thema LSBTI durch Abwertung geprägt | |
| war, hatten auf einmal eine Möglichkeit, sich zu artikulieren. Die sagten: | |
| „Endlich redet mit uns jemand darüber!“ Als das in den ersten Schulen gut | |
| ankam, haben die Schulleitungen es untereinander publik gemacht. Nach all | |
| den Jahren zeigt sich: Unsere Arbeit baut Vorurteile ab und eröffnet | |
| Möglichkeiten. | |
| Auf Schulhöfen ist „schwul“ aber immer noch ein Schimpfwort. | |
| Diskriminierung gibt es in allen Altersstufen und gesellschaftlichen | |
| Schichtungen. Aber wir haben die größte Chance, bei den Jugendlichen etwas | |
| zu verändern. Niemand kommt mit Vorurteilen zur Welt, die werden durch | |
| Sozialisation erworben. Und das Jugendalter bietet eine gute Möglichkeit, | |
| dass sich negative Muster nicht verfestigen. | |
| Klingt nicht einfach. | |
| Nein, manche Jugendliche bewegen sich gewissermaßen in zwei Welten: In der | |
| Schule erleben sie, wie ihr Umfeld sich verändert und aufgeschlossen ist, | |
| dann kommen sie nach Hause und hören am Abendbrottisch bedenklichere Dinge. | |
| Wir haben deswegen zum Beispiel mit dem Türkischen Bund in | |
| Berlin-Brandenburg Elternbriefe entwickelt. Ehrlicherweise muss man | |
| zugeben, dass es sehr schwierig ist, Eltern zu erreichen. Da sind wir nicht | |
| so gut vorangekommen. | |
| Und wo sind Sie vorangekommen? | |
| An vielen Stellen. Ein Beispiel, das vielleicht noch nicht so stark | |
| wahrgenommen wird, obwohl es uns sehr viel Kraft gekostet hat, ist der | |
| Opferschutz. Es gibt jetzt eine LSBTI-Zufluchtswohnung an einem geheimen | |
| Ort, für die wir die Arbeiterwohlfahrt als Träger gewinnen konnten. Seit | |
| Jahren haben wir im „Zentrum für Migranten, Lesben und Schwule“ mit | |
| Menschen zu tun, die vor ihren Familien geflohen sind, weil sie eine | |
| Zwangsverheiratung fürchten mussten. Oder die aus einer solchen Ehe | |
| geflohen sind. Die können in der Zufluchtswohnung nun zur Ruhe kommen, sie | |
| werden sozialarbeiterisch und psychologisch betreut. Viele mussten von | |
| heute auf morgen ihren Arbeits- oder Ausbildungsplatz verlassen und wurden | |
| aus ihrem sozialen Gefüge herausgerissen. | |
| Für diese Menschen gab es vorher kein Angebot? | |
| Nicht in dieser Form. Vor wenigen Jahren sprach mich jemand an und fragte: | |
| „Kennst du mich noch? Ihr habt damals mein Leben gerettet.“ Ich konnte mich | |
| erst nicht erinnern und war ganz baff. Aber er hat es mir erklärt: Er war | |
| vor Jahren vor seiner Familie geflohen und dann ohne Ausbildungsplatz und | |
| Wohnung in die Kleinkriminalität abgerutscht. Zu uns kam er, weil er zu | |
| Sozialstunden verurteilt wurde. Erst das war für ihn der Wendepunkt. Dass | |
| es jetzt die Wohnung gibt, ist ein großer Fortschritt. | |
| Sie haben es schon erwähnt: Sie sind kein Pädagoge, sondern Politologe. Wie | |
| haben Sie zum LSVD gefunden? | |
| Anfangs war ich ein ganz normaler Ehrenamtler, 2005 habe ich angefangen. | |
| Für die Respect Gaymes wurde 2006 ein Projektleiter gesucht, das habe ich | |
| übernommen. Die ersten Gaymes im August 2006 liefen nicht so erfolgreich, | |
| da drohte dem Event schon das Aus. Dann ist mir aber zur Überraschung | |
| vieler, auch in der Senatsverwaltung, gelungen, die Veranstaltung zu | |
| etablieren, sodass es auch eine Folgefinanzierung gab. Dann habe ich die | |
| Aufklärungsarbeit in den Stadtgebieten mit besonderem Entwicklungsbedarf | |
| aufgebaut und bin hängen geblieben. (lacht) | |
| Und wurden Geschäftsführer. | |
| Den sollte ich eigentlich für maximal ein Jahr vertreten, es wurden zehn | |
| daraus. | |
| Sie kamen aus Zwickau nach Berlin – Traumziel vieler schwuler Männer. | |
| Zwangsläufig, oder? | |
| Eher Zufall! Ich hatte während des Zivildienstes Urlaub in Berlin gemacht | |
| und fand das alles ganz toll. Und weil ich Politikwissenschaft studieren | |
| wollte, war das Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität nun mal das | |
| mit dem größten Angebot deutschlandweit. Aber ursprünglich wollte ich nach | |
| Bayern. | |
| Echt? | |
| Na ja, wir Sachsen und die Bayern sind uns von der Mentalität her irgendwie | |
| ähnlich. | |
| Den LSVD, eine ostdeutsche Erfindung, gibt es jetzt seit 30 Jahren. Volker | |
| Beck von den Grünen war mal Chef des Bundesvorstands. Wollten Sie nie in | |
| die Politik? | |
| Viele Politikwissenschaftsstudenten landen ja in Ministerien oder bei | |
| Abgeordneten oder werden selbst Abgeordnete. Ein Mitstudent von mir ist | |
| jetzt Staatssekretär in Berlin. Bei mir ergab sich ein anderer Weg. Ich | |
| finde es schön, für einen Verband aktiv zu sein, der sich im LSBTI-Spektrum | |
| breiter aufstellen kann als etwa eine Partei. | |
| Würden Sie sich als Lobbyist bezeichnen? | |
| Das habe ich auch immer wieder überlegt. Und ja: Eigentlich bin ich immer | |
| Lobbyist, ob privat oder dienstlich. Für mich ist das Wort nicht negativ | |
| oder schlüpfrig, im Sinne von Geldkoffern, die da hin- und hergeschoben | |
| werden oder so. Lobbyismus ist legitime Interessenvertretung in der | |
| Demokratie. Ich habe mich schon als Kind sehr für den Gewässerschutz | |
| eingesetzt, habe als Siebenjähriger Unterschriftenaktionen gemacht und | |
| später bei „Jugend forscht“ einen Umweltpreis gewonnen. Ich habe von Klaus | |
| Töpfer geschwärmt! (lacht) Das war mein erster Lobbyismus. Und jetzt habe | |
| ich mich zum Jakobsweg-Lobbyisten entwickelt. | |
| Darüber reden wir gleich ausführlich. Erst noch zum Lobbyismus in Sachen | |
| LSBTI: So etwas geht oft nicht ohne Blessuren ab. | |
| Das erste Mal nach zwei Monaten in meiner Funktion als Projektleiter, da | |
| sind die ersten Personen über mich hergefallen. Ich war 24 und wusste | |
| nicht, wie mir geschieht. Mit der Zeit nimmt man das etwas nüchterner zur | |
| Kenntnis. Welche Kontroversen es in der Szene gibt, bei Themen wie Ehe, | |
| aber auch Migration und Integration, wusste ich aus dem Studium, das hat | |
| mich nicht überrascht. Aber es ist natürlich etwas anderes, selbst im | |
| Schussfeld zu stehen. | |
| Scharf geschossen wurde auf Sie 2019, da kursierte ein Foto in den sozialen | |
| Medien, das Sie mit Gesundheitsminister Spahn und US-Botschafter Richard | |
| Grenell beim Lesbisch-Schwulen Stadtfest zeigte. Grenell ist offen schwul, | |
| stand aber als Vertreter der Trump-Regierung für hochproblematische | |
| Positionen. | |
| Ich hätte nie geahnt, dass dieses Foto je Wellen schlägt. | |
| Wirklich nicht? | |
| Als es publik wurde, war es schon ein Jahr alt! Und man muss | |
| berücksichtigen, wie es entstanden ist: Jens Spahn kam, wollte ein Foto und | |
| fragte: „Kann der Botschafter mit aufs Bild?“ Ich meinte, ja klar, warum | |
| nicht. Ich muss gestehen, ich hatte mich da mit Herrn Grenell noch nicht so | |
| beschäftigt. Und der legt beim Foto seine Hand auf meine Schulter. Im | |
| Übrigen ging es nicht um Smalltalk oder US-Politik. Ich habe mit dem | |
| Gesundheitsminister über die PrEP (HIV-Prä-Expositions-Prophylaxe – Anm. d. | |
| Red.) gesprochen und gesagt: „Bitte drückt durch, dass das eine | |
| Kassenleistung wird.“ Was es mittlerweile ist. | |
| Also ist das Lesbisch-schwule Stadtfest auch ein Ort für Lobbyismus. | |
| Ja sicher. Da kommt im 30-Sekunden-Takt jemand vorbei, und du verkaufst | |
| deine Ware und deine Botschaft: Das hier bieten wir an, nutzt das bitte, | |
| das hier wollen wir verändern, unterstützt uns, wenn ihr | |
| Entscheidungsträger seid. | |
| Es gab auch Glanzvolleres, wie die erste schwule Eheschließung Deutschlands | |
| am 1. Oktober 2017 im Rathaus Schöneberg – und Sie als Trauzeuge. | |
| Das war toll. Es gab jede Menge zu organisieren, denn das neue Gesetz trat | |
| am verlängerten Einheitswochenende in Kraft, da hatten viele Standesämter | |
| zu. Zum Glück haben wir eine sehr engagierte Bezirksbürgermeisterin. Das | |
| Paar musste sich völlig in meine Hände begeben und hat das auch getan. Am | |
| Ende durfte ich fast alles entscheiden, von der Regenbogentorte angefangen. | |
| Als Trauzeuge war ich ursprünglich gar nicht vorgesehen, aber dann meinten | |
| die beiden: Jetzt kannst du das eigentlich auch noch machen, Jörg. Ein | |
| wunderschöner Moment. | |
| Apropos Regenbogenfarben: Die tragen auch die sechs großen Calla-Lilien am | |
| Magnus-Hirschfeld-Ufer, das Denkmal für die erste homosexuelle | |
| Emanzipationsbewegung. Noch ein Meilenstein. | |
| Wir haben damit eine Sichtbarkeit geschaffen, die hoffentlich lange wirkt. | |
| Denn wenn man die LSBTI-Geschichte betrachtet, ist es zwar sehr wichtig, an | |
| die Verfolgung und Ermordung Homosexueller zu erinnern. Aber wir sollten | |
| uns nicht auf die Opferrolle reduzieren lassen. Wir haben schon vor über | |
| 100 Jahren einen wahnsinnig guten Beitrag in der Emanzipationsbewegung | |
| geleistet, den wollten wir sichtbar machen. Die meisten denken bei | |
| Emanzipation an Stonewall Inn und 1969, aber das | |
| Wissenschaftlich-humanitäre Komitee wurde schon 1897 in Berlin gegründet. | |
| Was gibt es denn noch zu tun für Ihre Nachfolgerin oder Ihren Nachfolger? | |
| Natürlich müssen wir noch besser werden, das kann ich ganz selbstkritisch | |
| sagen. Zum Beispiel bei der Frage, wie inklusiv wir sind. Vor drei Monaten | |
| haben wir einen Barrierecheck gemacht, das Ergebnis war ernüchternd. Nehmen | |
| Sie unsere Geschäftsstelle: vierter Stock Altbau, enger Lift. Jemand mit | |
| einem großen Rollstuhl kommt da nicht rein. Aber die Wünsche sterben | |
| manchmal an der Kasse. Und etwas anderes ist mir leider nicht gelungen: Ich | |
| hätte gerne stabilere finanzielle Strukturen hinterlassen. Der LSVD lebt | |
| von Projektzuwendungen, und ich habe viele Jahre daran gearbeitet, unsere | |
| Sozialarbeit organisatorisch von der politischen Arbeit zu trennen, sodass | |
| unser Bildungswerk institutionell gefördert werden kann. Nach zwei Wochen | |
| Lockdown im Frühjahr rief die Senatsverwaltung an und sagte: Vergesst es, | |
| das kommt so nicht in den nächsten Doppelhaushalt. | |
| Gab es eigentlich je Überlegungen, den LSVD umzubenennen? Viele | |
| Organisationen nennen sich heute „queer“. | |
| Wir haben diese Debatte auf dem Verbandstag vor drei Jahren geführt. Ich | |
| gehörte zu den Gegnern, weil ich finde, dass wir eine Marke mit einem | |
| tollen Namen etabliert haben. Eine große Mehrheit war meiner Meinung. | |
| Natürlich sind wir inzwischen breiter aufgestellt, aber eine Marke kann man | |
| durchaus pflegen. | |
| Und nun zum Pilgern. Da müssen wir erst mal fragen: Wie halten Sie ’s mit | |
| der Religion? 2011 haben Sie das kritische Bündnis „Der Papst kommt“ | |
| mitorganisiert. Jetzt hörten wir, Sie sind künftig für eine Moschee tätig. | |
| Was die Ibn Rushd-Goethe-Moschee betrifft: Da werde ich in der Anlaufstelle | |
| „Islam und Diversity“ und anderen interreligiösen Projekten mitwirken. Das | |
| hat viel mit dem sehr vertrauten Verhältnis zwischen mir und der Gründerin | |
| Seyran Ateş zu tun. Sie kann unheimlich hartnäckig und überzeugend sein. | |
| Und durch die Arbeit beim LSVD habe ich gelernt, dass man sich nicht nur | |
| auf Grundlage der eigenen Identität für etwas einsetzen kann. Und so bin | |
| ich jetzt als Protestant in einer liberalen Moschee aktiv. | |
| Sie sind bekennender Christ? | |
| Ja, auch Mitglied der evangelischen Kirche. Gleichzeitig sitze ich im | |
| Kuratorium des Humanistischen Verbands. Dessen strukturelle Diskriminierung | |
| fand ich nicht richtig, mir war immer wichtig, dass wir in religiöser und | |
| weltanschaulicher Vielfalt zusammenarbeiten. Man muss unterscheiden: Was | |
| bin ich selbst, und wofür setze ich mich ein? Dazu kommt nun, dass ich | |
| einen katholischen Pilgerweg laufe. | |
| Wie kam es dazu? | |
| Ich hatte durch eine Freundin davon gehört und dachte, ich brauche mal eine | |
| Woche Auszeit, das mache ich auch. Klar, ich dachte: Da wirst du ständig | |
| bequatscht. Aber ich habe gemerkt, wie religiöse Traditionen sich wandeln, | |
| wie inklusiv und vielfältig sie sein können. Auf dem Jakobsweg treffen sich | |
| Hunderttausende aus 190 Nationen und kommen friedlich miteinander aus. Wo | |
| sonst kriegt man das hin? Ich habe da sicher manche Despektierlichkeit | |
| abgebaut. Und seit ich einmal gepilgert bin, muss ich es immer wieder tun. | |
| Wie oft haben Sie es schon getan? | |
| Zwölf Mal. (lacht) Es gibt ja nicht nur den Camino Francés, der an den | |
| Pyrenäen beginnt und den Hape Kerkeling gegangen ist. Es gibt viele Wege, | |
| und der Jakobsweg beginnt per se vor der Haustür. Ich setze mich ja für die | |
| Ausschilderung in Berlin ein. Beim ersten Mal war es der Camino del Norte – | |
| der ist sehr anstrengend und verregnet, immer an der Küste entlang, | |
| Baskenland, Kantabrien, Asturien, Galicien. Galicien nennen ja manche „das | |
| Urinal von Spanien“, weil es da so viel regnet. | |
| Wie muss man sich den Pilger Jörg Steinert vorstellen? Knotiger Stock in | |
| der Hand, Hut auf dem Kopf? | |
| Ich bin ein typisch deutscher Pilger, der auf gute Ausstattung Wert legt. | |
| Also eher leichte Alustöcke. | |
| Was ist Ihnen da wichtig? Die Gemeinsamkeit oder das Zu-sich-Kommen? | |
| Beides. Man ist beim Pilgern oft allein, aber nie einsam. Es ist | |
| wunderschön, abends in einer Herberge anzukommen und mit den Leuten zu | |
| essen oder einen Wein zu trinken. Trotzdem läuft man am nächsten Morgen | |
| weiter und bleibt nicht. Dieses Freiheitsgefühl schätze ich sehr. Privat | |
| und beruflich hat man immer Verantwortung, man muss Termine wahrnehmen, was | |
| weiß ich. Auf dem Jakobsweg ist man nur sich selbst gegenüber | |
| verantwortlich. Ich war früher ein Mensch, der viel Heimweh hatte. Nach | |
| Hause kommen, geschützte Räumlichkeiten. Aber ich bin zu einem Menschen | |
| geworden, der Fernweh hat. Und zu meiner Überraschung finde ich den | |
| Jakobsweg vielfältiger als Berlin (lacht). | |
| Wirklich? | |
| Ach, Berlin kommt sich so weltstädtisch vor, aber viele leben oft nur in | |
| ihrer kleinen Blase. Auf dem Jakobsweg finde ich die Begegnungen | |
| vielfältiger und die Offenheit größer. Da begegne ich Menschen, mit denen | |
| würde ich in Berlin vermutlich nicht zusammenkommen. | |
| Kommen Sie sich nicht trotzdem komisch vor, wenn Sie religiöse Rituale | |
| befolgen, die nicht Ihre sind? | |
| Ich verstelle mich nicht. Wer sich in Santiago de Compostela seine Urkunde | |
| holt, kann aus drei Kategorien des Pilgerns wählen: religiös, sportlich | |
| oder „religiös/spirituell“. Ich wähle den letzteren Begriff. Ich habe | |
| Spiritualität früher mit Esoterik verwechselt, aber das ist etwas völlig | |
| anderes. Aber ich habe in der Kathedrale von Santiago, beim einzigen | |
| Gottesdienst, den ich auf der Reise besuche, noch nie eine Hostie | |
| entgegengenommen. Viele nichtkatholische Pilger tun das, auch Atheisten. | |
| Aber ich weiß, was die Aussagen in spanischer Sprache bedeuten und dass ich | |
| bei diesem Abendmahl nicht eingeladen bin. Ich dränge mich nicht auf. | |
| Sie waren schon zwei Mal mit Seyran Ateş auf dem Jakobsweg, die ja von | |
| Personenschützern begleitet werden muss. Wie war das? | |
| Ich glaube, Menschen sind zuletzt im Mittelalter mit Personenschutz | |
| gepilgert – von daher eine ungewöhnliche Erfahrung, die ich mit Seyran 2019 | |
| auf dem Jakobsweg in Frankreich gemacht habe. In 2020 wollten wir in | |
| Spanien pilgern. Aufgrund der Pandemie wurde daraus eine Deutschlandtour. | |
| Werden Sie weiterpilgern? | |
| Auf jeden Fall! 2021 ist ein „Heiliges Compostelanisches Jahr“, da winkt | |
| Pilgern ein vollständiger Erlass ihrer Sündenstrafen. Das ist jetzt nicht | |
| so sehr meine Motivation. (lacht) Aber es wird besonders schöne | |
| Feierlichkeiten geben, wenn Corona es zulässt. Ich würde mich freuen, am | |
| 25. Juli in Santiago zu sein. Es wäre aber auch das erste Mal, dass ich | |
| nicht auf dem CSD bin. | |
| Und was bringt die Zukunft nach dem LSVD noch so? | |
| Das werde ich von vielen Leuten gefragt. Ein paar Dinge stehen ja schon | |
| fest. Aber ich sage immer: Mir stehen jetzt alle Türen offen. Wie oft hat | |
| man in seinem Leben schon diese Möglichkeit? | |
| 26 Dec 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Hergeth | |
| Claudius Prößer | |
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