# taz.de -- Kunstfilme im Berliner Netz: Skelette im Arm | |
> Die Reihe „Falling Apart Together“ aus dem n. b. k.-Videoarchiv zeigt | |
> Kurzfilme aus den USA der 60er, 70er und 80er, die heutige Wucht | |
> entfalten. | |
Bild: Sheryl Sutton in Robert Wilsons, „Deafman Glance“, 1981, aus der Samm… | |
Sie nannten ihn „Plastic Man“: Der aus Irland migrierte Les Levine wird in | |
den 1960ern in Kanada und den USA nicht nur als Video- und Medienkünstler | |
bekannt, sondern auch für seine „Disposable Art“ (Wegwerfkunst). Für seine | |
„Environments“, Rauminstallationen aus Kunststoffen, wählte er | |
beispielsweise das NASA-erprobte Mylar, um silberne, luftbefüllte Wände zu | |
gestalten, durch die das Publikum erst einmal gelangen muss. Zu sehen ist | |
solch eine Szene etwa in dokumentarischen Auszügen auf Youtube, die die | |
Eröffnung seiner Ausstellung „Slipcover“ (1967) zeigen. | |
Beginnen wir mit Les Levine also am Ende der Online-Screenings „Falling | |
Apart Together“ auf [1][n.b.k.org], weil es als Finale zu einem höchst | |
politischen Videokunstprogramm ein so wunderbar ironischer Kommentar auf | |
künstlerische Des-Involviertheit ist. Les Levines Kurzfilm „I Am an Artist“ | |
(16:37 min) ist die letzte Arbeit im zwei-teiligen Programm, das Anna Lena | |
Seiser im Kontext der Ausstellung [2][„Lost in America“] zusammengestellt | |
hat: Eine gute Virtel Stunde lang läuft Levine die Bowery Street in | |
Manhatten entlang und wiederholt beschwörend immer wieder die gleichen | |
Sätze – „I just want to do art / I don't wanna be involved“ – in die | |
Kamera. | |
Permament rückwärtsgewandt ist er also, im doppelten Sinne. Denn die | |
Floskeln, die er an die Außenwelt/Kamera richtet, die seine Künstlerfigur | |
anscheinend mit sozialen Problemen behelligt und zum Anthropologen – oder | |
noch schlimmer, zum Psychologen – machen will, sie sind Klischees der | |
„reinen Ästhetik“. Gehüllt in diese Rolle ist Levine der paranoide | |
Künstler, der soziale Probleme nicht nur negiert, sondern direkt | |
verweigert. Obdachlose Passant_en ignoriert er, auch wenn sie sprechen | |
möchten. Wer nicht gefilmt werden will, bekommt wieder „I don't wanna be | |
involved with you“ vor die Füße geworfen. Es braucht künstliche | |
Scheuklappen, um (sich in) die „pure Kunst“ zu retten. Womit wir wieder | |
beim Plastik wären, der ultimativen artifiziellen Konstruktion. | |
In [3][Ira Schneiders] „The 11th (Downtown Manhattan) Greenwich Village | |
Halloween Parade“ (1984, 13:53 min) sieht der Umzug durch New York auch nur | |
auf den ersten Blick apolitisch aus. Es sind die frühen 80er und der Beginn | |
der AIDS-Krise macht sich in Nixon-Masken und Sensemann-Kostümen bemerkbar. | |
Es scheint kein Zufall, dass hier die queere Community aus dem Village | |
gegen den Tod anläuft. Einige tragen Skelette in den Armen. | |
„Free Society“ (1988) heißt [4][Paul Garrins] mit knalligen Farben | |
gespickte Videoarbeit. Ein schnell getaktetes Musikvideo von einer Collage, | |
in dem Militär und Polizei bedrohlich aufmarschieren, nur um von | |
Fernsehpriestern zu „God's special evoys“ erklärt zu werden. Als sich 1988 | |
Proteste gegen die Vertreibung von Obdachlosen vom Tompkins Square in New | |
York regen, fächert sich die High Society noch Luft zu – bis die Bilder | |
buchstäblich auseinanderfallen unter den prügelnden Staatsbeauftragten. | |
[5][Martha Roslers] feministischem Klassiker „Vital Statistics of a | |
Citizen, Simply Obtained“ (1977, 39:16 min) ist die Gewalt der Medizin | |
eingebrannt: Körperliche Zurichtung und Gendernormierung findet hier ebenso | |
brutal als anatomische Vermessung wie als Internalisierung statt, als nach | |
Innen gewandter taxonomischer Blick. | |
Am wenigsten schnell zu entziffern und umso eindringlicher ist [6][Robert | |
Wilsons] „Deafman Glance“ (1981, 27:00 min). Unter dem selben Titel | |
entstanden auch eine 7-stündige [7][„Stille Oper“] und eine | |
[8][Videoinstallation], die Wilson in Kollaboration mit Raymond Andrews als | |
Thematisierung von Gehörlosigkeit erarbeitete. In allen Versionen agiert | |
die Schauspielerin Sheryl Sutton als Mutter zwischen Tötungsfantasien und | |
Fürsorgegesten mit einer Intensität, über die man sofort mehr erfahren | |
will. [9][„Conversations with Sheryl Sutton: The Novel of a Dialogue“] | |
(1992), ein Gespräch zwischen Sutton und dem Dichter János Pilinszkys in | |
Paris, das dieser als Erzählung zwischen Fakt und Imagination aufschrieb, | |
könnte ein Anfang sein. | |
25 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nbk.org/diskurs/fallingaparttogether.html | |
[2] /Politische-Kunst-aus-den-USA/!5711179 | |
[3] https://www.nbk.org/video-forum2/werk/The_11th_Greenwich_Village_Halloween_… | |
[4] https://www.nbk.org/video-forum2/Paul_Garrin.html | |
[5] https://www.nbk.org/video-forum/Martha_Rosler.html | |
[6] https://www.nbk.org/video-forum2/Robert_Wilson.html | |
[7] http://www.robertwilson.com/deafman-glance/ | |
[8] https://www.paulacoopergallery.com/exhibitions/robert-wilson-deafman-glance… | |
[9] https://www.worldcat.org/title/conversations-with-sheryl-sutton-the-novel-o… | |
## AUTOREN | |
Noemi Molitor | |
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