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# taz.de -- Zehn Jahre Arabischer Frühling: Die zweite Welle ist klüger
> Sudan, Algerien, Libanon, Irak: Was die arabischen Nachzügler aus der
> ersten Protestwelle von 2011 gelernt haben.
Bild: Bagdad, Irak 2020: Trauer nach dem Tod eines Freundes
Kairo taz | „I can't breathe“ – „Ich kann nicht atmen“: Die berühmten
letzten Worte George Floyds, welche die Black-Lives-Matter-Bewegung
befeuerten, sind auch so etwas wie eine permanente arabische
Lebenserfahrung. [1][Die arabischen Aufstände vor zehn Jahren] hatten zwar
zu einem kurzem Aufatmen geführt, doch seitdem wird den Menschen in den
meisten arabischen Ländern wieder die Luft abgeschnürt.
Auf der einen Seite [2][kämpfen sie mit wachsenden Armutsraten], einer
steigenden Ungleichheit und der höchsten Jugendarbeitslosigkeit der Welt.
Auf der anderen Seite verspüren sie täglich ihre Machtlosigkeit. Dekliniert
man die Möglichkeiten der Menschen in der arabischen Welt in den letzten
zehn Jahren durch, mit dieser Lebenssituation umzugehen, bleiben nur vier
Optionen:
Sie können als stillschweigend Besiegte resignieren, ein Lebensmodell, dem
sicherlich die Mehrheit folgt. Eine Minderheit wählt die Option der
Militanz und wird von Organisationen wie dem „Islamischen Staat“ (IS)
rekrutiert. Ein anderer Teil packt die Koffer und [3][flüchtet, oftmals
nach Europa]. Und schließlich gibt es nach jahrelanger Pause in letzter
Zeit wieder vermehrt jene, die voller Wut und Leidenschaft mutig auf die
Barrikaden steigen.
Die Arabellion 2.0 begann im Februar 2019, als die Menschen in Algerien und
im Sudan gegen die beiden Autokraten Abdelaziz Bouteflika und Omar
al-Bashir auf die Straße gingen. Es dauerte nur bis April und die beiden
arabischen Langzeitdiktatoren waren gestürzt. Im Oktober desselben Jahres
folgten dann große Protestbewegungen auch im Libanon und im Irak.
Dort geht es nicht darum, einen Diktator zu stürzen, sondern darum, ein
vollkommen ineffektives politisches System zu reformieren, in dem die
Konfession im Mittelpunkt der Politik steht. Ob in Algier, Khartum, Beirut
oder Bagdad: Die Demonstrant*innen haben nicht nur gelernt, ihre Angst zu
überwinden, sie haben auch wichtige Lehren aus den Aufständen vor zehn
Jahre gezogen.
Die erste Lektion: Um wirklich und langfristig etwas zu verändern, braucht
die arabische Protestbewegung einen sehr langen Atem. Sämtliche neue
Proteste, ob in Algerien, im Sudan, im Libanon oder im Irak, dauerten
wesentlich länger als die [4][Aufstände 2011]. Sie gingen über viele
Monate, bevor sie im Frühjahr 2020 von der Coronapandemie zumindest
vorläufig ausgebremst wurden. Die Ägypter waren 2011 nur 18 Tage auf der
Straße und brachen ihren permanenten Protest nach dem Sturz Hosni Mubaraks
weitgehend ab in dem trügerischen Gefühl, den Sieg bereits in der Tasche zu
haben.
Die zweite Lektion: „Salmiya“, „friedlich“, ist einer der wichtigsten
Slogans der neuen Protestbewegung, obwohl die Sicherheitskräfte in allen
vier Ländern immer wieder brutal gegen die Demonstrierenden vorgegangen
sind. Das ist vielleicht am bemerkenswertesten im Irak, da die
Demonstranten dort nicht nur von offiziellen Sicherheitskräften, sondern
oft auch von Parteimilizen erschossen wurden – eigentlich ein sicheres
Rezept für einen Bürgerkrieg. Aber hier gilt wohl Syrien als abschreckendes
Beispiel.
Nachdem das Assad-Regime dort völlig skrupellos auf die zunächst
friedlichen Demonstranten schießen ließ, begann sich die syrische
Opposition, auch mit Überläufern aus dem syrischen Militär, zu
militarisieren. Das war ihr wohl größter Fehler: Denn damit hatte das
Regime in Damaskus die Protestbewegung genau da, wo es sie haben wollte.
Schließlich ist es für das internationale Image besser, brutal gegen die
andere Seite vorzugehen, wenn diese auch bewaffnet ist und zurückschießt.
Die dritte Lektion: Vorsicht bei Übergangslösungen, in denen das Militär
als Retter der Nation auftritt, sowie bei Wahlen, die zu früh angesetzt
werden. Blickt man auf den Fall Ägypten 2011, wirkt es heute naiv, dass die
dortigen Tahrir-Aktivisten nach dem Sturz Mubaraks mit dem Slogan „Das Volk
und das Militär sind ein und dieselbe Hand“ die Einheit von Protestbewegung
und Armee beschworen.
Ihr zweiter großer Fehler war, sich zu schnell auf Wahlen einzulassen,
obwohl die verkrusteten Strukturen des „tiefen Staates“ weiterhin
existierten und noch keine einzige staatliche Institution und vor allem
weder der Sicherheitsapparat noch das Militär reformiert waren. So gab es
nur zwei alteingesessene politische Strukturen im Land: die des alten
Systems und die der islamistischen Muslimbruderschaft. Sich in dieser
Situation auf schnelle Wahlen einzulassen war für die jungen, unerfahrenen
Tahrir-Aktivisten Ägyptens politischer Selbstmord.
Dass der Wahlsieg an die Islamisten ging, lieferte Ägyptens Militär später
die Rechtfertigung, selbst die Macht zu übernehmen. Übergangsperioden, die
vom Militär organisiert werden, erweisen sich also als gefährliche Fallen.
Das ist der Grund, warum die algerischen Demonstranten die ersten Wahlen
nach dem Sturz Bouteflikas hinauszögern wollten. Und das ist auch der
Grund, warum die Sudanesen durchgesetzt haben, erst nach einer zweijährigen
Übergangsperiode erstmals zu wählen.
Die vierte Lektion: Um seine Forderungen zu formulieren, um einen langen
Atem zu haben, aber vor allem, um eine Übergangsperiode auszuhandeln,
braucht es irgendeine Form von politischer Organisation. Was zunächst als
Stärke der arabischen Protestbewegungen erschien, dass sie spontan und
unorganisiert und dadurch für die repressiven Sicherheitsapparate nur
schwer greifbar waren, erwies sich am Ende als Schwäche.
In Algerien übernahmen Bürgerinitiativen, Frauen- und
Menschenrechtsorganisationen, Oppositionsparteien und Studierendengruppen
die Rolle, den Aufstand in eine Organisationsform zu gießen. Die
ursprünglich zersplitterte sudanesische Opposition hatte sich im Januar
2019 zu einer Koalition, den „Forces for Freedom and Change“,
zusammengetan. Der Zusammenschluss von Berufsverbänden, Ärzten,
Ingenieuren, Lehrern, Anwälten und Journalisten spielte schließlich eine
Schlüsselrolle beim Aushandeln eines Machtteilungsabkommens mit dem
Militär.
Die fünfte Lektion könnte mit dem Titel „Vorsicht vor den Nachbarn“
überschrieben werden. In der arabischen Welt hat sich eine unheilige
Allianz aus den Kronprinzen Saudi-Arabiens und der Arabischen Emirate sowie
dem ägyptischen Präsidenten gebildet. Es ist ein restauratives Bündnis mit
dem Ziel, alle Veränderungen in der Region, die ihm am Ende selbst
gefährlich werden könnten, zu verhindern und ihre Pax Autocratica zu
verteidigen.
Der Sudan ist dafür ein gutes Beispiel: Keiner der drei Fürsten der
Restauration hat ein Interesse daran, dass die jetzt ausgehandelte
Übergangszeit tatsächlich mit dem Verschwinden des Militärs aus der Politik
in einen demokratischen Staat mündet. Das wäre ein Konstrukt, das ihre
Legitimität vor der eigenen Bevölkerung in Zweifel ziehen würde.
Natürlich haben auch die arabischen Autokraten dazugelernt. Sie wissen,
dass sie – egal wie brutal sie gegen ihre eigene Bevölkerung vorgehen –
keinerlei ernsthaften internationalen Gegenwind befürchten müssen. Sie
haben auch gelernt, wie sie Medien gleichschalten und die sozialen Medien
nicht nur überwachen, sondern auch selbst benutzen können, um bei jedem
Veränderungsdiskurs Zweifel zu säen. Sie haben gelernt, keinerlei
politischen Raum zuzulassen, in dem sich Dissens organisieren kann. Und sie
wissen, wie sie sich gegenseitig in der Pax Autocratica unterstützen
können, um in der Region alle Funken zu löschen, die ein Feuer in ihrem
eigenen Land auslösen könnten.
Und wenn dann tatsächlich ein Aufstand ausbricht, haben sie gelernt, ihn
einfach auszusitzen und zu hoffen, dass ihren Gegnern irgendwann die Luft
ausgeht, dass in dem Chaos, das Aufstände ohne Zweifel produzieren, bald
die Sehnsucht nach der alten Normalität wieder überhandnimmt. Und wenn das
alles nicht klappt, können sie immer noch hoffen, dass sich ihre Gegner wie
einst die syrische Opposition militarisieren und sich so angesichts der
allmächtigen arabischen Sicherheitsapparate damit den Todesstoß geben.
Aber all das ändert nichts daran, dass sich die Autokraten in der Defensive
befinden. Sie alle leben in einem Zustand, in dem sie jeden Tag die
Unsicherheit ihrer Macht spüren. Je mehr sie die repressiven Schrauben
anziehen, desto mehr Menschen entfremden sich von dem System und suchen
nach einem Weg, ihren Ärger loszuwerden. Das ist die Essenz der
autokratischen Unsicherheit.
21 Dec 2020
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## AUTOREN
Karim El-Gawhary
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