# taz.de -- Geflüchtete an EU-Außengrenzen: Europas Schande auf 1.500 Seiten | |
> Das „Schwarzbuch“ sammelt Fälle illegaler Rückweisungen an den | |
> Außengrenzen der EU. Viele Geflüchtete berichten darin von exzessiver | |
> Gewalt. | |
Bild: Grenzregion zwischen Türkei und Griechenland: Viele Geflüchtete werden … | |
AMSTERDAM taz | Mehrmals hätten ihn die Polizisten mit dem Gesicht auf den | |
Boden gedrückt. Einer habe ihn mit einem Stock geschlagen, der andere | |
Stromstöße mit einem Taser verabreicht. Wenig später hätten ihn drohend | |
bellende Polizeihunde umringt. Auf der Wache habe man ihm wiederholt | |
verweigert, die Toilette zu benutzen. Schließlich hätten ihn die Polizisten | |
mit der Fähre zurück in die griechische Hafenstadt Patras geschickt. | |
Dieser Bericht stammt von einem 28-jährigen Afghanen, der Ende Februar auf | |
einem Lkw versteckt auf die Fähre nach Venedig gelangte und dort nach der | |
Ankunft entdeckt worden war. Dokumentiert hat sein Schicksal die NGO No | |
Name Kitchen, die entlang europäischer Migrationsrouten aktiv ist. Es ist | |
eine von 892 Aussagen, die in einem „Black Book of Push Backs“ betitelten | |
Dokument enthalten sind, das am heutigen Internationalen Tag der Migranten | |
veröffentlicht wird. | |
Zusammengestellt hat das „Schwarzbuch“ das Border Violence Monitoring | |
Network (BVMN), ein Zusammenschluss von Menschenrechtsinitiativen, der seit | |
Jahren die zunehmende Zahl von Pushbacks, also Rückschiebungen und | |
[1][Abweisungen von Migranten an europäischen Grenzen], sowie die fehlenden | |
staatlichen Kontroll- und Sanktionsmechanismen kritisiert. In Auftrag | |
gegeben und finanziert hat es die Fraktion der Linken (GUE/NGL) im | |
Europaparlament, wo es diesen Freitag auch präsentiert werden soll. | |
[2][Pushbacks], betont das 1.500 Seiten fassende Dokument, verstoßen gegen | |
das in der universellen Erklärung der Menschenrechte enthaltene Recht auf | |
Asyl, die Grundrechtecharta der EU sowie das in der Genfer | |
Flüchtlingskonvention festgelegte Prinzip der Nichtzurückweisung. | |
## Gewalt von Grenzbeamten bei Pushbacks | |
Nichtsdestotrotz hätten sie sich vor allem seit [3][Schließung der | |
sogenannten Balkanroute 2016] zunehmend zu einer „gut koordinierten, | |
systematischen Praxis“ entwickelt, die im Grenzregime der EU zunehmend | |
verbreitet sei, aber nicht offiziell eingestanden werde. | |
Die aufgelisteten Fälle, die 12.654 zurückgeschobene Personen betreffen, | |
sind dabei nur ein Bruchteil des tatsächlichen Umfangs dieser Praxis. Das | |
Schwarzbuch widmet sich in seiner detaillierten Dokumentation auch | |
Kettenrückschiebungen, die etwa von Italien oder Österreich über Slowenien | |
und Kroatien verlaufen – ein gesetzwidriger Transport, rückwärts entlang | |
der stillgelegten Balkanroute bis jenseits der europäischen Außengrenzen. | |
Besonders im Blick steht dabei das Vorgehen der Grenzbeamten. Das BVMN | |
spricht von „endlosen Berichten gnadenloser, sadistischer und | |
erniedrigender Gewalt, die an brutale Diktaturen erinnern“. Zudem habe sich | |
die Situation 2020 noch verschlimmert: „Es ist selten, nicht eine oder | |
mehrere Formen von [4][Missbrauch bei einem Pushback] zu erleben. In | |
Kroatien und Griechenland betrifft dies beinahe 90 Prozent der | |
dokumentierten Fälle.“ | |
Konkret genannt werden unter anderem exzessive und unangebrachte Gewalt, | |
der Einsatz elektrischer Waffen, erzwungenes Entkleiden, Drohen mit | |
Feuerwaffen, Haft ohne die grundlegendsten Standards. Die Zerstörung oder | |
Konfiszierung persönlichen Besitzes wie Telefone ist gängige Praxis. Das | |
Buch zeigt auch Fotos von Platzwunden am Kopf oder Rücken mit Striemen und | |
Blutergüssen. | |
Cornelia Ernst, Europaabgeordnete der Linken, zeigt sich angesichts dieser | |
Dokumentation „fassungslos“. Die Recherche des Netzwerks belege endlich, | |
dass die Gewalt an den EU-Außengrenzen staatlich organisiert und | |
strukturell sei. „Täglich wird an den EU-Außengrenzen gegen EU-Prinzipien | |
und Menschenrechte verstoßen. Hundert- bis tausendfach in den letzten | |
Jahren. Das ist eine Schande.“ | |
18 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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