# taz.de -- Geflüchtete aus Syrien in Berlin: Allein auf Chios | |
> Seit fünf Jahren lebt die syrische Familie Kurdi mit drei Kindern in | |
> Berlin – doch der älteste Sohn sitzt im griechischen Lager fest. | |
Bild: Abu Raschid Kurdi und Christiane Beckmann von Moabit hilft | |
BERLIN taz | Abu Raschid Kurdi* kann nicht mehr. Seit sechs Jahren hat er | |
seinen Sohn Hassan nicht gesehen. Damals, als die syrisch-kurdische Familie | |
noch in Afrin lebte, im Norden Syriens, hat er Hassan wegen des Krieges in | |
die Türkei geschickt aus Angst, der 14-Jährige würde zum Militär eingezogen | |
– vom Assad-Regime, der PKK oder dem IS. | |
Ein Jahr später floh auch der Rest der Familie, so kamen Vater, Mutter und | |
drei Kinder nach Berlin. Seither versuchen sie Hassan nachzuholen, aber der | |
steckt mittlerweile in einem [1][Flüchtlingslager auf der griechischen | |
Insel Chios] fest. Abu Raschid telefoniert jeden Tag mit seinem ältesten | |
Sohn. „Ich kann nicht schlafen“, sagt er. „Ich gehe zum Deutschkurs, kann | |
mich aber nicht konzentrieren. Auch meine Frau weint immerzu. Ich werde | |
noch verrückt vor Sorge.“ | |
Zum Glück kennt er „Moabit hilft“. Oft geht Abu Raschid ins „Haus R“ a… | |
dem Lageso-Gelände an der Turmstraße, hilft mit Spenden sortieren, | |
unterhält sich mit anderen Flüchtlingen. „Hier bekommt er etwas Ablenkung�… | |
sagt Christiane Beckmann, eine der drei Chefinnen des Vereins, und lächelt | |
Abu Raschid aufmunternd zu. Wir sitzen einander gegenüber an einem der | |
leeren Beratungstische in Haus R, coronakonforme Plexiglasscheiben trennen | |
uns. Es ist wenig los: Drei Erwachsene suchen im Spendenraum nach | |
Passendem, eine Frau mit Baby ruht sich in der Kinderecke aus, eine als | |
Weihnachtsmann verkleidete Ehrenamtliche packt Päckchen. „Die meisten | |
wissen nicht, dass wir trotz Lockdown-light offen haben“, erklärt Beckmann | |
die relative Ruhe. | |
Mithilfe Husseins, eines anderen Ehrenamtlichen bei „Moabit hilft“, der | |
übersetzt, erzählt Abu Raschid seine Geschichte. „Früher ging es uns gut�… | |
sagt er. In Afrin hatte er 500 Olivenbäume und ein Taxiunternehmen mit fünf | |
Autos. Aber als der Krieg kam, wuchs die Angst um seine Kinder. Er schickte | |
Hassan fort, der Arbeit fand in einer Werkstatt in Istanbul. | |
## Angst vor der türkischen Polizei | |
Als der Rest der Familie ein Jahr später ebenfalls in die Türkei floh, | |
dachte Abu Raschid, nun könnten sie wieder vereint werden. „Hassan hatte | |
nur Papiere für Istanbul, wir waren in Izmir.“ Zwischen beiden Städten | |
liegen gut 470 Kilometer. „Wir hatten Angst, dass die türkische Polizei ihn | |
abfängt und zurückschickt nach Syrien.“ Gerade mit kurdischen Flüchtlingen | |
geschehe dies oft, erklärt Beckmann. | |
So flohen die Kurdis ohne ihren Ältesten weiter: über Griechenland, wo man | |
2015/16 noch recht zügig nach Nordeuropa durchgewunken wurde, über die | |
Balkanroute und Österreich nach Deutschland. Sie hätten gedacht, dass sie | |
Hassan von hier aus leichter zu sich holen könnten, sagt Abu Raschid. | |
Doch sie hatten nicht mit den Tücken des deutschen Asylrechts gerechnet. | |
Die Kurdis bekamen [2][kein „richtiges“ Asyl], sondern – wie die meisten | |
Syrer seit 2016 – nur subsidiären Schutz. Und für Geflüchtete mit diesem | |
Status untersagte die Große Koalition von 2016 bis 2018 den | |
Familiennachzug. Seit August 2018 dürfen zwar pro Monat 1.000 | |
Familienangehörige von „Subsidiären“ nachgeholt werden – viel zu wenige… | |
die betroffenen Zehntausenden Familien, die meisten müssen Monate oder gar | |
Jahre auf ein Wiedersehen warten. Für Hassan war es zudem zu spät, 2018 | |
wurde er volljährig und kam damit nicht mehr für eine | |
Familienzusammenführung infrage. | |
Nun ruhen alle Hoffnungen auf Christiane Beckmann. Die Familie Kurdi ist | |
eine von vielen Einzelfällen, um die sie sich neben dem Management von Haus | |
R kümmert. Sie besucht die Familie in ihrem Wohnheim in Lichtenberg, wo | |
drei Kinder zur Schule gehen und die Jüngste, in Berlin geboren, in die | |
Kita. Zweimal hat „Moabit hilft“ schon Geld und Kleidung an Hassan | |
geschickt, vor ein paar Tagen hat sie ein Foto von ihm bei Facebook | |
gepostet, wie er im Lager von Chios in einer riesigen Pfütze steht, die bis | |
zu den Zelteingängen schwappt | |
„Dieses Foto zeigt die aktuelle Situation von Menschen, die flüchten und es | |
nur bis zu den griechischen Inseln schaffen. Könnt ihr euch erinnern, als | |
damals die EU den Friedensnobelpreis gewann?“, hat Beckmann darunter | |
geschrieben. Die Wut über Europas Flüchtlingspolitik und das daraus | |
resultierende menschliche Leid spricht aus vielen ihrer Beiträge. Oft enden | |
sie mit „Schäm dich, Europa“ oder „Schäm dich, Deutschland.“ Mit dem … | |
über Hassan will sie Öffentlichkeit schaffen und „Druck machen“ auf die | |
Politik, damit die Familie zusammengeführt wird. „Zusammen mit dem | |
Flüchtlingsrat wollen wir versuchen, dass sie eine Härtefallregelung | |
bekommen.“ | |
## Schimmeliges Brot | |
Abu Raschid ruft Hassan in Griechenland an und gibt das Handy weiter an | |
Hussein, den Übersetzer. Nachdem dieser erklärt hat, worum es geht, macht | |
Hassan eine Videoführung durch da Lager. Er zeigt den Weg von seinem Zelt | |
zum Sanitärcontainer, überall liegen kaputte PET-Flaschen, zerfetzte | |
Planen, dazwischen Steine als Brückenköpfe über Pfützen und Matsch. Auch | |
der Sanitärbereich ist von Müll umgeben. „Es gibt nur 2 oder 3 Container | |
für über 3.000 Menschen“, sagt Hassan aus dem Off. Für alles müsse man | |
Schlange stehen: Toilette, Dusche, Handyaufladen, Arzt, Essen. „Das Essen | |
ist eigentlich nicht essbar“, teils verdorben, meint er damit, das Brot sei | |
manchmal schimmelig. | |
Abu Raschid vergräbt sein Gesicht in den Händen, Beckmann streichelt ihm | |
sanft den Arm. 70 Euro im Monat bekomme er von der griechischen | |
Lagerverwaltung, erzählt Hassan weiter, aber wegen Corona könnten sie | |
ohnehin nicht mehr aus dem Lager, um Lebensmittel zu kaufen. | |
Hassan ist zurück in seinem Zelt, das er sich mit einem älteren Mann teilt. | |
Es besteht aus Planen und Holzlatten, sie haben es selbst gebaut, erzählt | |
er. Eine dünne Matratze liegt auf einer Europalette, immerhin scheint der | |
Boden – soweit erkennbar – trocken. „Es ist jetzt sehr kalt, vor allem in | |
der Nacht frieren wir“, übersetzt Hussein, „Und wenn es stark regnet, geht | |
das Zelt kaputt.“ | |
Dreimal mussten sie es schon neu aufbauen, so gehe es hier allen. Manchmal | |
machen sie vor dem Zelteingang ein Feuer, um sich zu wärmen und Tee zu | |
kochen. Was denn die Behörden sagen zu seinem Fall, will die Journalistin | |
wissen. „Gar nichts“, erwidert Hassan. „Ich wurde registriert, hatte ein | |
Interview, seither ist nichts passiert.“ Die Behandlung durch die Griechen | |
sei sehr schlecht, „nicht menschlich“, sagt er. „Und wenn man sich | |
beschwert, sagen sie: ‚Wenn es euch hier nicht gefällt, warum seid ihr dann | |
hier?‘“ | |
Zum Glück gebe es Helfer von Nichtregierungsorganisationen: Sie dürften | |
zwar wegen Corona nicht mehr ins Lager, aber sie kämen an den Zaun, | |
brächten Kleidung und Mund-Nasen-Schutzmasken. „Ich bin psychisch kaputt“, | |
sagt Hassan, in seinem zugigen Zelt sitzend, das er nur selten verlässt, er | |
kann ja eh nirgendwohin. „Ich will nur weg hier zu meiner Familie. Ich bin | |
seit über einem Jahr hier und weiß nicht, warum. Ich floh aus einem Krieg, | |
jetzt bin ich in einem anderen.“ | |
Abu Raschid weint still, Beckmann drückt seine Hand. Laut ruft sie Richtung | |
Handy: „Wir versuchen alles, um dich herzuholen, Hassan, bitte gibt nicht | |
auf. Wir können nur nichts versprechen“ Als sich Hassan bedanken will für | |
ihre Hilfe, winkt sie ab. „Das ist doch das Mindeste, das schulden wir dir. | |
Ich schäme mich für Europa!“ | |
*Name geändert | |
23 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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