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# taz.de -- Performance über Avantgarde-Sängerin: Hemmungslos humorvoll
> Das Hamburger Künstler*innen-Kollektiv Picnic obduziert Cathy Berberian.
> Der Sängerin war Klangkunst-Avantgarde so nahe wie großes Entertainment.
Bild: Einte, „was die Mode streng getheilt“: Cathy Berberian vor Schiller-D…
Hamburg taz | Ein Tarzanschrei zum Auftakt. Mit Vorbeben folgt ein Nieser,
ein „Brrrrrrrr“ wellt die Tonleiter hoch und runter, mit Vibrato intoniert
ist [1][ein „Boinngg“], darauf ein spitz gepfiffenes „Zisch“, Katzen-Mi…
Hunde-Wau, Uhren-Ticktack, Reifen-Quietschen, Dialogfetzen, ein
schmatzender Kuss und zum Finale die erschossene Fliege: „Bang!“ Mit
lautmalerischem Comic-Jargon hat die US-amerikanische Mezzosopranistin
Cathy Berberian [2][das Nonsens-Lied „Stripsody“] komponiert – und kauzig
pantomimisch illustriert dargeboten.
1983, zum 100. Geburtstag von Karl Marx, wollte Berberian die
„Internationale“ intonieren, in Marilyn-Monroe-Piepsgesang – starb aber am
Tag zuvor an einem Herzinfarkt, mit nur 57 Jahren. Hier nimmt die Hommage
des [3][Künstler*innenkollektivs Picnic] ihren Ausgang. „Interdisziplinär
sein bedeutet bla-bla, da-da und pic-nic“, sagen die Hamburger
Künstler*innen, und mit Berberian wollen sie eine Freundin im
genreübergreifenden Geiste porträtieren, die mit humorvoller
Hemmungslosigkeit die Musikstile in einer geradezu surrealen Klangwelt
vereinte.
## Verzahnung vom Sprache und Musik
„A few words for a woman to sing“ ist die Stückentwicklung betitelt, die
jetzt im [4][Hamburger Lichthof-Theater] zur Uraufführung kommt – erst mal
nur als Livestream. So sollen drei Wochen Probenzeit, aber auch ein langer
Kampf um Fördermittel zumindest eine vorläufige Erlösung finden. Analoge
Aufführungen sind für den Februar geplant.
Der selbst gestrickten Legende nach hat sich Picnic, dem Namen gemäß,
draußen gegründet – vor coronabedingt geschlossenen Theatertüren nämlich.
Schauspielerinnen und Regisseur, Dramaturgin, Sängerin, Musiker/Komponist,
Bühnen-/Kostümbildnerin und Videokünstlerin: Zusammen suchen sie abseits
etablierter Institutionen einen eigenen Stil in der Verzahnung von Sprache
und Musik. „Kommt das klassische Stadttheaterschauspiel dabei doch selten
über das Einspielen von Popsongs hinaus“, so Dramaturgin Lena Carle, „der
Opernbetrieb ist zu verkrustet und zeitgenössische Musik viel zu verkopft.“
Musik, Texte, Schauspiel und Film will man gleichberechtigt nutzen:
Ausprobiert hat Picnic das bereits [5][ausgehend von einem
Klaus-Nomi-Video], um Facetten eines Menschen zu skizzieren hinter einer
abgründig ausgeleuchteten Kunstfigur. Nicht linear biografisch, sondern
assoziativ sucht das Kollektiv nun auch die bisher viel zu wenig gewürdigte
Berberian theatral zu obduzieren.
Der war eine Drei-Oktaven-Stimme als geradezu unbegrenztes Instrument zu
eigen: „Tristan und Isolde“ hätte sie damit singen können, entdeckte aber
lieber Claudio Monteverdi neu, widmete sich Volksliedern, stellte
Beatles-Hits als Barock-Koloratur-Arien satirisch aus und führte
gutbürgerliche Klassik in die Farce.
In den 1960er- und 1970er-Jahren Jahren war Berberian, geboren 1925 in
Attleboro, Massachusetts, aber auch [6][eine maßgebliche Sängerin der Neuen
Musik]. Darius Milhaud, Igor Strawinsky, Hans Werner Henze, John Cage,
Sylvano Bussotti, Bruno Maderna und Luciano Berio – mit dem sie 14 Jahre
lang verheiratet war – komponierten für Berberian und die von ihr
erforschten Stimmtechniken und -möglichkeiten. Sie war Muse, aber auch
Medium für Werke, die nicht nur konventionell schöne Töne feiern, sondern
genauso popkulturelle Bezüge, soziales Geräusch, alltäglichen Vokallaut.
Mit ihr war zeitgenössische Klangkunst nie todernst.
## „Posthumes Empowerment“
„Anlass für posthumes Empowerment ist diese Frau“, sagt Carle.
„Gleichzeitig fragen wir nach dem Werk-Begriff: Wer ist der Schöpfer, wer
bekommt die Anerkennung?“ Picnic argumentiert demnach gegen die Idee vom
männlichen Genius, dessen Schöpfung die Frau dann bestenfalls mit ihrer
Grazie präsentieren darf: „Wir glauben, Berberian war nicht nur maßgeblich
an der Rezeption, auch an der Entstehung der Kompositionen beteiligt“, sagt
Carle.
Deutlich werden soll auch, dass Berberian eine brillante Entertainerin war,
ein Konzert voller Theatermomente: Sie performte mit platinblonden Haaren,
selbst entworfenen Kostümen und Filmzuspielungen – und zelebrierte auch mal
zu fernöstlicher Musik Gymnastik-Übungen aus dem
Volksertüchtigungs-Programm der Kommunistischen Partei Chinas. Und durch
„historisch weit gespannte Programme“, so Carle schließlich, „lieferte s…
auch einen gewichtigen Beitrag zur Vermittlung von Musik“.
Um all dem zumindest ansatzweise gerecht werden zu können, hat Picnic die
Produktion als Lecture Performance strukturiert: „Wir arbeiten andersherum
als sonst üblich, erklären nämlich immer erst und spielen, zeigen es
anschließend“ – neben online gefundenen Video-Artefakten dienen dazu auch
Briefe Berberians. Deren Kunst analysiere man mithilfe von Susan Sontags
„Anmerkungen zu [7][Camp]“, also verstanden als eine Ästhetik in
Anführungszeichen, von Übertreibung und Künstlichkeit.
28 Nov 2020
## LINKS
[1] /!5361758/
[2] https://www.youtube.com/watch?v=0dNLAhL46xM
[3] http://www.team-picnic.com/
[4] https://www.lichthof-theater.de/
[5] /Musiktheater-in-Berlin/!5664319
[6] https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/zeitzeichen/berberian-100.html
[7] /!598407/
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Musik
Neue Musik
Avantgarde
Feminismus
Hamburg
Theater
Theater
Musikgeschichte
elektronische Musik
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