# taz.de -- Sängerin Aérea Negrot: „Berlin ist meine geile Sau“ | |
> Aérea Negrot gab beim House-Projekt Hercules & Love Affair die | |
> Disco-Diva, jetzt entfaltet sie ihre stimmliche Gewalt auf einem eigenen | |
> Album. | |
Bild: Geht jetzt eigene musikalische Wege: Aérea Negrot | |
BERLIN taz | Die Einbürgerungsprüfung hat sie noch nicht gemacht. Doch für | |
Aérea Negrot steht fest: „Ich will eine Deutsche werden.“ Nach sieben | |
Jahren in Berlin fühlt sich die Sängerin in der Stadt zu Hause. Und das, | |
obwohl die gebürtige Venezolanerin es dort zunächst als zu unfreundlich | |
empfand. Bisher kannte man Aérea Negrot als Sängerin des international | |
erfolgreichen House-Projekts Hercules & Love Affair. Auf dessen aktuellem | |
Album „Blue Lines“ und der anschließenden Welttournee konnte Negrot ihre | |
stimmlichen Fähigkeiten nebst ihren Qualitäten als Performerin | |
präsentieren. Jetzt hat sie ein eigenes Album herausgebracht. | |
Zum Singen gehören bei ihr gern ausladende Gesten. Sie musiziert mit dem | |
gesamten Körper, was unter anderem damit zu tun hat, dass sie vor ihrer | |
Karriere als Sängerin eigentlich zum Ballett wollte – bis eine Verletzung | |
die Pläne zunichtemachte. Schon ihre Eltern waren Tänzer. Und | |
musikbegeistert. „Ich bin durch Musik gezeugt worden. Meine Eltern waren | |
relativ jung, als ich geboren wurde, ungefähr 18. Die Musik war schuld.“ | |
Aérea Negrot, 1980 nördlich von Caracas als Roberto Gallegos Ascanio | |
geboren, wuchs in einem Umfeld auf, in dem neben Ballett auch die Oper eine | |
wichtige Rolle spielte. | |
Noch heute erinnert sie sich daran, dass sie mit zehn Jahren in Caracas zum | |
ersten Mal den House-Track „Gypsy Woman“ von Crystal Waters hörte – ihr | |
frühestes Schlüsselerlebnis mit elektronischer Musik. „Bald darauf bin ich | |
in Clubs und habe zu Techno und House getanzt.“ Bis sie auf den ganz großen | |
Bühnen zu ihrem eigenen Gesang tanzen durfte, war es aber noch ein etwas | |
weiterer Weg. Der führte unter anderem über Portugal, Holland und England. | |
Einem Freund in Venezuela, DJ Fata, einem „wandelnden Musiklexikon“, mit | |
dem sie in der Band La familia feliz zusammenarbeitete, verdankt sie ihr | |
Grundwissen der elektronischen Musik. Das ließ sie dann nicht mehr los. | |
2002 schließlich begann sie eine musikalische Ausbildung in London, wo sie | |
mit einem Stipendium am London Centre of Contemporary Music für mehrere | |
Jahre Gesang und Musikproduktion studieren konnte. All diese verstreuten | |
Einflüsse sind auf Aérea Negrots soeben erschienenem Debütalbum, | |
„Arabxilla“, zu hören. | |
In seinem Zentrum steht ihre Stimme, die sie so perfekt beherrscht, dass | |
sie scheinbar mühelos verschiedenste Stimmlagen, Timbres und Charaktere | |
abrufen und in Szene setzen kann. Ihr Spektrum reicht vom | |
opernhaft-volltönenden Duktus über nasales Kabarettgeflüster bis hin zu | |
cartoonesk quietschigen Parodien – dass sie im Gespräch als Vorbilder | |
durchweg Ausnahmesänger wie Yma Sumac, Klaus Nomi oder Nina Hagen nennt, | |
wirkt kein bisschen anmaßend. Sie experimentiert in ihrer Musik mit | |
Anleihen bei House und Techno, gelegentlich genügt ihr ein schlichtes | |
Klavier für eine Ballade. Ihre Stücke, die nur selten nach der Tanzfläche | |
schielen, hat sie im Wohnzimmer aufgenommen und weitgehend allein am | |
Rechner produziert. Koproduzent Tobias Freund ergänzte hier und da ein paar | |
Tonspuren und mischte den Klang ab. Er war es auch, der sie ermutigte, aus | |
ihren im Lauf der Jahre angesammelten Rechnerdateien ein Album zu machen. | |
## Drastische Einblicke | |
Negrot berichtet darauf recht offen aus ihrem Leben. In „Todeloo“ etwa | |
klärt sie ihr Verhältnis zu den Eltern, die sie lange Zeit nicht als | |
erwachsenen Menschen mit eigenen Gedanken wahrnehmen wollten, und „Listen | |
to the People“ bietet mitunter drastische Einblicke in ihr Sexualleben. Der | |
grotesk komische Song „Deutsche werden“ hingegen erzählt von den | |
bürokratische Hürden, die die Ausländerbehörde bereithält, trocken | |
zusammengefasst in dem Satz: „Man hat nie genug Dokumente.“ | |
Die Geschichte von ihrer Geburtsurkunde bewegt sich dann aber noch einmal | |
jenseits des üblichen Amtsstubenwahnsinns: „Ich komme aus einer | |
Küstenstadt, die nach einem schweren Erdrutsch 1999 verschwunden ist. Meine | |
Geburtsurkunde ließ sich daher nicht so einfach auffinden. Ich musste | |
zahlreiche Schulen absuchen, bis ich eine Kopie gefunden habe, von der dann | |
noch einmal ein Original gemacht wurde.“ Die Vielzahl an Dokumenten, die | |
man an einer deutschen Behörde vorlegen muss, empfand sie anfangs | |
unübersichtlich. „Bevor ich nach Deutschland kam, hatte ich auch nie von | |
Mülltrennung gehört.“ | |
Ein Problem mit der deutschen Müllbeseitigung hat sie trotzdem nicht. | |
Ebenso wenig mit der Bürokratie. Und mit Berlin schon gar nicht. „Berlin | |
ist meine geile Sau“, gibt sie unerwartet derb zu Protokoll. Ihre Erklärung | |
allerdings gerät umso beiläufiger: „Das hat ein bisschen mit dieser | |
Media-Markt-Werbung,Saubillig' zu tun. Ich habe nämlich ein Problem mit der | |
deutschen Sprache: Einerseits gibt es diese komprimierten und klaren Wörter | |
wie,benutzen' oder,werden' und all diese anderen starken Ausdrücke, doch | |
plötzlich hat man etwas wie,Sau', das fast nur aus Vokalen besteht. Für | |
mich sind das komische Wörter.“ | |
## Tränen schaffen Kontakte | |
Beiläufig muss man auch die Umstände nennen, unter denen Negrot ihren | |
späteren Kollegen Andrew Butler, den Produzenten von Hercules & Love | |
Affair, kennenlernte. 2005 besuchte sie ein Konzert von Antony and the | |
Johnsons in der Berliner Volksbühne: „Ich wurde von einer Frau | |
rausgeschickt, weil ich zu laut geweint habe.“ Draußen im Foyer begegnete | |
sie dann prompt Andrew Butler, der sie bei der Gelegenheit gleich mit dem | |
Sänger Antony Hegarty bekannt machte. Dann hörten sie erst einmal nichts | |
mehr voneinander. Nach drei Jahren meldete sich Butler wieder bei ihr, um | |
ihr vorzuschlagen, für Hercules & Love Affair zu singen. Das Angebot, mit | |
Butler und seiner Truppe auf Tournee um die Welt zu gehen, nahm sie gern | |
an. | |
Gegenwärtig möchte sie jedoch eine Pause einlegen, damit sie ihre eigene | |
„Musik ein bisschen begleiten und schützen kann“, wie sie diskret sagt. Man | |
darf sich schon jetzt freuen, denn im Konzert kommt ihre Persona fast noch | |
besser zur Geltung als auf Platte: Beim Berliner Konzert von Hercules & | |
Love Affair im Berghain etwa rief sie, fasziniert von den phonetischen | |
Eigenheiten des Deutschen, wiederholt und leidenschaftlich aus: „Berlin, du | |
geile Sau!“ | |
Aérea Negrot, „Arabxilla“ (BPitch control/Rough Trade) | |
17 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
Tim Caspar Boehme | |
## TAGS | |
Musik | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Performance über Avantgarde-Sängerin: Hemmungslos humorvoll | |
Das Hamburger Künstler*innen-Kollektiv Picnic obduziert Cathy Berberian. | |
Der Sängerin war Klangkunst-Avantgarde so nahe wie großes Entertainment. | |
Postgender-Pop von Nomi Ruiz: Größer als Gaga | |
Das Fun Girl hält ihr Versprechen: Die Band Jessica 6 bringt Spaß. Dei | |
transsexuelle Sängerin Nomi Ruiz musste sich aus dem Schatten | |
herausarbeiten. | |
House-Musikprojekt Hercules and Love Affair: "Fuck me tonight!" | |
Im ausverkauften Berghain huldigten Hercules and Love Affair mit ihrer | |
Housemusik dem Trieb und der "geilen Sau" Berlin. Leider fehlte dem | |
Kollektiv Dynamik und Improvisation. | |
Neues Album von Antony and the Johnsons: Danke für dein Lied | |
Auf ihrem Album "Swanlights" schaffen Antony and the Johnsons wunderbar | |
nuancierte sinfonische Miniaturen. Sogar Lennons "Imagine" verhelfen sie zu | |
neuer Würde. | |
Anthony Hegarty-Konzert in Frankfurt: Transgenderqueen der Hochkultur | |
Antony Hegarty beschließt seine Deutschlandtour in Frankfurt am Main. Die | |
eigenen Songs zur Kammermusik arrangiert, bietet er als Zugabe Stadionrock. |