# taz.de -- Islamkritik: Die andere Freiheit | |
> Rücksichtnahme auf religiöse Empfindlichkeit ist keine Selbstzensur und | |
> Macrons Variante von Laizismus kein universeller Wert. | |
Bild: Plakate mit „Mohammed“-Herzen beim Protest gegen Macron in Pakistan | |
Lange bevor Prophetenkarikaturen ein globales Thema wurden, hörte ich mir | |
in Malaysia die Freitagsansprache eines Predigers an, dessen | |
Scharfzüngigkeit gerühmt wurde. Es war Ramadan und ich bat meine | |
Dolmetscherin, mir aus dem Malaiischen nur politische Aussagen zu | |
übersetzen. Lange sagt sie nichts. Ich wurde ungeduldig: Wovon spricht er | |
denn? Sie antwortete: Wie der Prophet duftete. Nach einer Weile fragte ich | |
erneut: Und jetzt? Sie sagte: Wie gepflegt sein Bart war. Und beim dritten | |
Versuch: Wie zart seine Haut war. | |
Vielleicht ist die Liebe zu Mohammed, sogar seine Körperlichkeit umfassend, | |
eine Möglichkeit, dem transzendenten, fernen, nicht abbildbaren Gott des | |
Islams ein wenig näher zu kommen. Jedenfalls ist dieses ganz besondere | |
Verhältnis eine Voraussetzung dafür, dass die [1][Herabsetzung des | |
Propheten] von vielen Muslimen – nicht von allen – als Stich ins eigene | |
Herz empfunden wird. | |
An Religionen wirkt vieles bizarr – umso mehr an einer, in die man selbst | |
nicht von Kind an hineingewachsen ist. Die Frage ist vielmehr, ob das | |
eigene Nichtverstehen ausgehalten wird. In Deutschland, wo bald 40 Prozent | |
konfessionslos sind, hat sich eher das Dogma durchgesetzt, alles müsse in | |
medialer Kürze verständlich sein und für Unverstandenes brauche die Mühe | |
der Toleranz eigentlich nicht aufgebracht zu werden. | |
Nein, ich verkehre hier nicht die Fronten; [2][niemand muss mich über | |
Terror] aufklären. Aber ich definiere Freiheit anders als Emmanuel Macron. | |
Zurückhaltung und Respekt für die Sensibilität anderer ist weder ein | |
Einknicken vor Islamismus noch Selbstzensur. Seit vor anderthalb | |
Jahrzehnten eine dänische Zeitung den jüngeren Reigen der | |
Mohammedkarikaturen eröffnete, hat diese Auseinandersetzung nichts Gutes | |
hervorgebracht, nur vermehrten Hass. Ist etwas deshalb wertvoll, weil es | |
angegriffen wird? Die sexualisierte Häme, wie sie im Stil von Charlie Hebdo | |
gepflegt wird, berührt mich unangenehm. Die Ermordung der Zeichner war | |
entsetzlich, so wie jüngst die von Samuel Paty. Aber ist es deswegen | |
untersagt, für den Verzicht auf diese Art von Karikaturen zu plädieren? | |
Tagtäglich wird vieles nicht kritisiert, nicht verspottet, aus Rücksicht | |
auf die Interessen anderer, oft die von Mächtigen. Und wenn die Verletzung | |
religiöser Gefühle ein Lackmustest auf die Meinungsfreiheit ist, wo sind | |
dann vor Weihnachten die gehässigen Karikaturen der Jungfrau Maria? | |
Tatsächlich wird die Freiheit des Spotts unterschiedlich dosiert. | |
Frauenfeindliche Karikaturen sind seltener geworden, weil viele sie nicht | |
mehr als Meinungsfreiheit, sondern als Diskriminierung empfinden. | |
Beim Thema Antisemitismus bleibt hingegen, wie der Fall Lisa Eckhart zeigt, | |
hoch umstritten, was Satire ist und was sie darf. Im antirassistischen | |
Milieu, sonst sensibel gegenüber Beleidigungen, wird kaum über eine | |
fortschrittliche Haltung gegenüber religiösen Schmähungen debattiert. Wenn | |
wir es falsch finden, die Verwendung des N-Wortes mit Redefreiheit zu | |
legitimieren, sollten uns anders gelagerte Verletzungen nicht gleichgültig | |
lassen. Von links werden Muslime gern abstrakt umarmt, soweit sie als Opfer | |
von antimuslimischem Rassismus gelten können, doch mit ihrer Religiosität | |
will man lieber nichts zu tun haben. | |
## Tätergemeinschaft? | |
Die [3][überwiegende Zahl der Opfer von islamistischem Terror sind | |
Muslime], meistens Nichtweiße. Was in Europa geschieht, ist ein sehr | |
kleiner Ausschnitt des weltweiten Terrorgeschehens. Dennoch bilden Muslime | |
aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft stets eine Tätergemeinschaft, nie eine | |
Opfergemeinschaft. Als parallel zu dem Anschlag in Wien die Universität | |
Kabul angegriffen wurde, ging niemand zu den österreichischen Muslimen, um | |
zu kondolieren. | |
Gewiss, nahes Leid berührt mehr als fernes. Aber das allein ist es nicht. | |
Was ein Menschenleben wiegt, bemisst sich weiter nach kolonial geprägten | |
Maßstäben; außereuropäische Tote zählen weniger. Ihre Missachtung hat | |
gerade der War on Terror erhärtet: Unschuldige für einen höheren Zweck zu | |
töten wurde unausgesprochen legitim. In einem seltenen Fall von Ahndung | |
wird nun eine australische Eliteeinheit der Kriegsverbrechen in Afghanistan | |
angeklagt. | |
Nach einer verbreiteten Annahme sind Attentate in Westeuropa ein „Angriff | |
auf Werte“, während der Terror in muslimischen Ländern einfach nur eine | |
beliebige Zahl von Menschen umbringt. Die Studenten und Dozenten von Kabul | |
waren indes kein beliebiges Ziel. Sie starben bei einem Angriff auf | |
säkulare Bildung, auf Wissenschaft. Oder können nur weiße Karikaturisten | |
und ein weißer Lehrer einen überpersönlichen gesellschaftlichen Wert | |
verkörpern? | |
## Politischer Missbrauch | |
Sechs Wochen nach dem Tod von Samuel Paty, der als Individuum meine größte | |
Achtung hat, ist deutlich geworden, wie sehr dieser Hingerichtete politisch | |
missbraucht wurde. Er diente der französischen Regierung nach den Worten | |
von Amnesty International dazu, ihren eigenen Angriff auf die | |
Meinungsfreiheit zu starten, mit Sicherheitsgesetzen und Verboten. | |
Halal-Food im Supermarkt steht nun ebenso im Verdacht, den vielzitierten | |
Nährboden für Extremismus zu bereiten, wie Kritik am Kolonialismus. Ein | |
rechtsnationaler Antiislamismus, im Wettstreit mit Marine Le Pen. | |
Aber da ist noch etwas anderes: europäische Selbstüberschätzung. Glaubt | |
Macron wirklich, er könne die Welt auf das französische Verständnis von | |
Laizismus und die französische Wertschätzung von Blasphemie verpflichten? | |
In die Erregung der vergangenen Wochen fiel maulid, der Geburtstag des | |
Propheten, ein Fest, das radikale Muslime ablehnen und friedliebende, | |
besonders Sufis, mit großer Hingabe feiern. In Mali war zu sehen, wie | |
Tausende von ihnen ihre Entrüstung über Macron zum Ausdruck brachten. | |
Das weiße Europa hat noch die Macht zu provozieren, doch längst nicht mehr | |
das Vermögen zu überzeugen. | |
1 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Charlie-Hebdo-Karikaturen/!5722491 | |
[2] /Europas-Versagen-in-Mali/!5700145 | |
[3] /Terrorbekaempfung-in-Mali/!5657094 | |
## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
## TAGS | |
Glaube, Religion, Kirchenaustritte | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Charlie Hebdo | |
Schlagloch | |
Emmanuel Macron | |
Islamkritik | |
Laizismus | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt 9/11 | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Charlie Hebdo | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Abaya-Verbot an französischen Schulen: Der Anfang vieler neuer Debatten | |
Das Verbot des Ganzkörper-Gewandes Abaya ist eine politische Gratwanderung: | |
entschlossene Verteidigung des Laizismus oder Ende der Toleranz? | |
Ermordung des Lehrers Samuel Paty: Lüge mit dramatischen Folgen | |
Die Ausrede einer Schülerin hat in Frankreich offenbar die Hass-Eskalation | |
gegen Samuel Paty ausgelöst. Ihr Vater hatte ein Hetzvideo veröffentlicht. | |
Laizität in Frankreich: Das französische Dilemma | |
Immer stärker wächst sich staatliches Misstrauen in Frankreich zum | |
Generalverdacht gegen Muslim:innen aus. Wird die Laizität zum | |
Kampfbegriff? | |
Die Linke und der Islamismus: Selektive Erblindung | |
Das Glück des Salman Rushdie oder warum linke Solidarität gegen Islamisten | |
keine Selbstverständlichkeit mehr ist. | |
Urteile im „Charlie Hebdo“-Prozess: 30 Jahre Haft für Hauptangeklagten | |
14 Komplizen wurden zu Haftstrafen von bis zu 30 Jahren verurteilt. Der | |
Hauptbeschuldigte des Anschlags auf „Charlie Hebdo“ will Berufung einlegen. | |
Journalismus in Frankreich: Der Gelbwesten-Versteher | |
Mit seiner Berichterstattung erreicht Rémy Buisine Menschen, die sich von | |
anderen Medien nicht gehört fühlen. Das hat auch Macron kapiert. | |
„Charlie Hebdo“-Karikaturen: Noch mal abgewendet | |
Die rechtspopulistische dänische Partei Nye Borgerlige wollte Karikaturen | |
von „Charlie Hebdo“ drucken lassen. Die Satirezeitschrift verhinderte das. | |
Erdoğan und die Mohammed-Karikaturen: Steilvorlage für Populisten | |
Frankreichs Präsident Macron bauscht den islamistischen Mord an einem | |
Lehrer zu einer Grundsatzfrage auf. Das kommt Erdoğan gerade recht. | |
Terrorbekämpfung in Mali: Mit Dschihadisten reden | |
In Mali zeigt sich: Verhandlungen mit Dschihadisten sind politisch heikel. | |
Aber ohne solche Initiativen bleiben die Militäreinsätze wirkungslos. |