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# taz.de -- Die Wahrheit: Hart aber ungerecht
> Maximal einen guten Freund sollen Kinder außerhalb der Schule jetzt haben
> dürfen. Das hat Folgen für die Blagen wie für ihre Eltern.
Bild: Statt Abstand Händchen halten: dubiose Freunde
„Der Nächste!“, ruft Justus M. (11 Jahre) und schlägt das Dossier des
gleichaltrigen Jungen auf, der nun vorsichtig das Kinderzimmer betritt.
„Carsten! Schön, dass du kommst. Du möchtest also offiziell mein bester
Freund sein. Schauen wir mal in deine Akte … Mmhhh, Zwerghamster als
Haustier, lässt Sitznachbarn in Heimatkunde abschreiben, du hast den
Stunt-Racer von Lego Technic, keine Sommersprossen, solide Wohnlage, gut,
gut, gut …“
„Wenn ich ergänzen darf“, ergreift Carsten das Wort, „ich habe dich mal …
einem brennenden Karussell gezogen.“ – „Ja, ja, sicher, ich erinnere mich…
nickt Justus ernst. „Die Sache ist nur die: Hier steht, dass du eine
Erdnussallergie hast. Das ist ein gewichtiger Negativpunkt, weißt du?
Anaphylaktische Schocks sind voll peinlich, und ich könnte bei dir zu Hause
nicht mal ein Snickers essen. Es tut mir leid, Carsten, aber wir sind hier
fertig. Ich wünsche dir alles Gute. Next!“
Szenen wie diese gehören mittlerweile zum Alltag in Deutschland. Seit nach
dem Gipfeltreffen am Montag die sogenannte Ein-Freund-Regel als neue
Maßnahme zur Pandemie-Eindämmung angekündigt wurde, suchen Abertausende von
Kindern ihre „Nummer 1“. Dabei gab es zunächst Unklarheiten: Bedeutete die
Schlagzeile „Kinder sollen nur noch einen Freund haben“, dass bundesweit
eine einzige Person diese Rolle einnehmen müsse? Nein, stellte Angela
Merkel klar: „Jedes Kind darf jeweils eine Freundin oder einen Freund haben
und sollte alsbald mit entsprechenden Castings beginnen.“ Die Kanzlerin
selbst plant, mit gutem Beispiel voranzugehen.
## Bote als Freund
„‚Ein Freund, ein guter Freund, das ist im Grunde genommen das Beste, was
es sozusagen gibt auf der Welt‘, heißt es in einem beliebten Schlager.
Betonung auf: ein Freund“, schwor Merkel im Podcast das Volk ein. „Auch ich
habe mir einen besonderen Menschen als einzigen Freund auserkoren. Herr
Sauer … wie heißt dieser nette Hermes-Bote, der uns die Pakete immer bis
ins Wohnzimmer trägt?“
Wie zu erwarten, hat die Berliner Start-up-Szene bereits die erste
Freundevermittlungs-App hervorgebracht, „Kindr“. Potenzielle BFFs (Best
Friends Forever) aus demselben Gesundheitsamtsbezirk registrieren sich mit
wichtigen Daten wie Größe, Taschengeldgehalt und Anzahl der Milchzähne
sowie Auszug aus dem Stickeralbum.
Justus M. hat die Anwendung ausprobiert: „Ich hatte den perfekten Freund
gefunden! Die Angaben waren fast zu schön, um wahr zu sein: ‚Kenne prima
Popelwitze, kippe freihändig Roller um, Papa schafft eine Million
Klimmzüge‘. Dann stellte sich heraus: Das Match war ein Mädchen! Und die
sind doof und stinken.“ Deswegen setzt Justus klassisch auf physische
Vorstellungsgespräche. Doch die Eltern haben auch noch ein Wörtchen
mitzureden.
Clarissa F., Mutter einer „sehr beliebten“ Zehnjährigen: „Gerade erst ha…
wir uns die neue Playstation 5 gesichert, da passt doch niemand, der noch
eine 4er oder gar eine Xbox One daheim hat!“ Selbstverständlich spielen
auch gesundheitliche Bedenken eine Rolle. „Wer ein positives
Corona-Testergebnis vorlegt, ist automatisch draußen“, so Frau F. „Oder ein
negatives. Wir wollen überhaupt kein Kind einer Familie, die an dieses
angebliche Virus glaubt!“
## Aus zwei mach eins
Die Kritik an der Ein-Freund-Regel nimmt täglich zu. „Wie wollen die das
denn durchsetzen?“, heißt es in einem Kommentar in der Facebook-Gruppe „PRO
Datenschutz – KONTRA Überwachung!“. „Was, wenn sich zwei kleinere Kinder
übereinanderstellen und sich als ein größeres Kind ausgeben?“
Auch vonseiten der Politik gibt es Einwände, etwa von Christian Lindner
(FDP): „Hier werden Minderjährige gezwungen, sich womöglich lebenslang zu
binden. Das ist unverantwortlich, weil es soziale Auf- oder Abstiege nicht
berücksichtigt. Klar, mit sieben kann der Squash-Partner dein bester Kumpel
sein, aber schämst du dich vielleicht nicht doch mit zwanzig für ihn, weil
er Kunstgeschichte studiert? Kinder spielen doch Squash, oder?“ Auch
Pädagogen schlagen Alarm. „Uns droht die erste Generation, die das Konzept
Mobbing nur aus dem Fernsehen kennt“, warnt Soziologe Harald Welzer (null
Freunde). „Für Grüppchenbildung und Cliquenstrukturen brauchen Sie nun mal
mindestens drei.“
Wird die Regierung die Beschränkungen tatsächlich durchsetzen? Auf Anfrage
an Franziska Giffey (SPD) erhält man seit gestern nur ein leeres Formular:
„Soll ich deine Familienministerin sein? Kreuze an: [ ] ja [ ] nein [ ]
vielleicht.:*)“
20 Nov 2020
## AUTOREN
Torsten Gaitzsch
## TAGS
Kinder
Schwerpunkt Coronavirus
Freunde
Ernährung
Fitness
Kunst
Schwerpunkt Coronavirus
Eisenbahn
Film
Black Friday
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