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# taz.de -- Die Wahrheit: Das Eiweiß der Vielen
> „High Protein“ ist in. Ob Fruchtriegel oder Käse, selbst Schokopudding
> gibt es jetzt als Protein-Plus-Version. Eine Bestandsaufnahme.
Bild: Proteinfreundin Julia Klöckner auf Nahrungssuche
Kitaleiterin Eva Masius knallt zwei schwere Aktenordner auf den Tisch.
„Ganze 166 Beschwerdebriefe haben wir im vergangenen Jahr erhalten – und da
war unsere Einrichtung die meiste Zeit geschlossen!“ Tenor der Eingaben:
Das Essen in der internationalen Kindertagesstätte „Entitled Wonneproppen“
sei nicht proteinhaltig genug.
„Einmal haben wir panierte Jagdwurst mit Kartoffelbrei und schokolierten
Weintrauben aufgetischt“, erinnert sich Masius, „am nächsten Morgen
klingelte ohne Pause das Telefon und empörte Erwachsene standen
scharenweise auf der Matte.“ Die Elite von morgen soll, so der Wunsch
vieler Eltern, die Anforderungen der rauen Geschäftswelt nicht nur mental,
sondern auch körperlich meistern, und beim Muskelauf- und Polsterabbau
helfe nun einmal ein gerüttelt Maß an Protein – dem Energielieferanten der
Stunde. „Manche Kinder, deren Bizeps oder Waschbrettbauch noch etwas
unterentwickelt sind, werden regelrecht gemobbt“, hat Eva Masius
beobachtet. „Das geht vom Abziehen der Kinesio-Tapes bis zu höhnischen
Sprüchen wie ‚Dudu even flex?‘.“
Seit Anfang 2021 serviert die Kita wie viele andere verstärkt
High-Protein-Erzeugnisse: Fruchtriegel mit extra Protein, Eiweißbrei, „High
Amino“-Knabberwaffeln, zum Nachtisch auch mal ein „Monte Protein+“ oder e…
„kinder Joyless“. „Von der Bohne zur Lupine – Proteine, Proteine“, di…
Spruch hängt mittlerweile bei 40 Prozent aller deutschen Familien an der
Küchenwand.
## Beim Frühstück ein Boost
Die Proteindiät ist so simpel wie die Peptidyltransferase in der
Elongationsphase der Proteinbiosynthese. Seinen üblichen Energiebedarf
stillt man statt mit Fett und Kohlenhydraten mit pflanzlichem und
tierischem Eiweiß: Nüsse, Samen, Insekten, leichter Käse, Fisch, zartes
Fleisch und natürlich Ei, Ei, Ei (aber: kein Verpoorten!). Tabu sind unter
anderem weißes Mehl, Rahm, Obst mit viel Fructose, Salami (Ausnahme: die
„Odenwalder Protein-Peitsche“ von Wilhelm Brandenburg). Schon beim
Frühstück sollte der erste Protein-Boost erfolgen, indem man beispielsweise
griechischen Joghurt statt Sahne in den Kaffee rührt (sogenannter
Peloponnescafé).
Jobst Mehrmann, Inhaber von Berlins fünftem Protein-Shop, freut sich:
„Endlich mal ein positiver Trend – dafür steht das Pro- nämlich: dafür u…
nicht dagegen.“ In seinem Laden vertreibt er nicht nur die ganze Palette
proteinhaltiger Nahrungs(ergänzungs)mittel, sondern auch Non-Food-Produkte
wie Eiweißreiniger der Firma Speick, der Erfinderin des sogenannten
Speick-Proteins. Und sein Eiweißbrot ist inzwischen auch bei Prominenten
gefragt. „Apropos, entschuldigen Sie mich, ich muss neuen Teig ansetzen“,
sagt Mehrmann zwinkernd und öffnet seinen Hosenstall.
Die Sucht nach dem „weißen Gold“ trat natürlich zuerst in Amerika auf.
Madonna schwört seit Jahren auf Molke-Einläufe, Neumutter Naomi Campbell
reibt sich unmittelbar vor dem Stillen die Brustwarzen mit Proteinpulver
ein, und Extrem-Gourmet Guy Fieri hat zwischen zwei Herzinfarkten den
Protein-Hackfleisch-Light-Pancake-Shake erfunden. Immer mehr Promis
vertreiben eigene High-Protein-Produkte, ein garantierter Renner im Sommer
wird zum Beispiel „Ai Wei Weis Eiweiß-Eis“.
## Fürs Essen ein neuer Hype
Für Julia Klöckner (CDU) kommt der neueste Food-Hype wie gerufen.
„Deutschland will Protein. Wir haben verstanden.“ So eröffnete die
Ernährungsministerin ihre Rede bei der Einweihung einer neuen Proteinquelle
im Mossautal vergangene Woche. „Dass sich die Menschen plötzlich vernünftig
ernähren, verdankt sich zu großen Teilen meiner Lebensmittelampel“, räumt
die Politikerin bescheiden ein. „Die Kennzeichnung auf den Verpackungen
schubst die Bevölkerung sanft, aber passiv-aggressiv weg vom ewigen
Speck-Zucker-Einheitsbrei und hochkalorischen Convenience-Fraß.“
Eiweißreiche Speisen und Getränke bewegen sich automatisch im gelben bis
grünen Bereich. Das Ministerium plant jetzt sogar die Einführung einer
eigenen Nutriscore-Farbe für High-Protein-Snacks: Eierschale,
passenderweise. Außerdem soll ab sofort eine Auszeichnung an das
eiweißreichste Produkt verliehen werden; als erstes nominiert wurden die
„Goldenen Mini-Windbeutel“ des Rewe-Eigensegments „frei von“ – die F�…
der Tiefkühlgebäckstücke ist tatsächlich frei von allem, außer
steifgeschlagenem Eiweiß.
Ein drängendes Problem hat Ministerin Klöckner jedoch unter den Tisch
fallen lassen. Als unangenehmer Nebeneffekt davon, dass Millionen von Eiern
das begehrte Eiweiß entnommen wird, landet das ungeliebte Eigelb
millionenfach … ja, wo eigentlich? Dass es heimlich geschreddert werde,
behauptet Peta, andere mutmaßen, die Eigelbmassen würden heimlich von einer
italienischen Zabaione-Manufaktur als „Originalzutat lokaler Herkunft“
abgekauft. Aber wer weiß, womöglich kommt in ein paar Jahren Eidotter in
Mode, und alles gleicht sich wieder aus.
9 Jun 2021
## AUTOREN
Torsten Gaitzsch
## TAGS
Ernährung
Julia Klöckner
Gesundheit
Trend
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