Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Drahtesel mit Ränzlein
> Was folgt aus Corona? Der allerneueste Trend beim Fahrradfahren heißt
> jetzt Bikepacking. Mikroabenteuer inklusive.
Bild: Packtaschen bis unter die Achseln: Schwungvoller Bikepacker
„Verein(t) für Freiheit – unter diesem Motto hat sich Anfang Juni der
Bikepacking Deutschland e. V. gegründet.“ So hieß es vor Kurzem in einer
Pressemitteilung des – genau: Bikepacking Deutschland e. V., und man weiß:
Sobald eine Freizeitbeschäftigung von deutschen Vereinsmeiern betrieben
wird, hat sie die Nischenecke endgültig verlassen.
Dabei ist der Trend Bikepacking kaum älter als Netflix, Dalgona-Kaffee,
Perineum-Sonnen und andere US-Importe. Und wie diese Trends konnte
Bikepacking vor allem dank der Pandemie viele neue Anhänger gewinnen.
Beziehungsweise verlieren: Denn dabei geht es eben gerade darum,
Mitgeschlepptes nicht in einem Anhänger zu verstauen, sondern in
zahlreichen am Rahmen befestigten Taschen.
Es gibt Lenkerrollen für Einmannzelte, Unterrohrhalterungen für das
Kamera-Equipment, Gabelaufsätze für die Waschtasche. Absolute Profis
wickeln angeblich um jede Speiche eine Socke oder ersetzen ihren Sattel
durch den Schlafsack.
„Effektivität und Innovation sind die Pedale der in Deutschland“, bringt
Bernard Pensch den Geist des Bikepacking auf den Punkt. Der 51-Jährige
betreibt den Youtube-Kanal „My Dirty Hobby“, der demnächst womöglich wegen
einer anhängigen Markenrechtsklage umbenannt wird; doch sein Motto hat
Bestand: „Der Spaß muss auf der Strecke bleiben!“
## Eklige Marketingphrasen
Der drahtige Pedalist Pensch ist sich sicher, dass im Outdoorsport
Tradition und Moderne keine Widersprüche sein müssen, das hat er zumindest
in einem Lexikon abgedroschener ekliger Marketingphrasen gelesen. „Würde
Luis Trenker heute leben“, sagt Pensch, „würde er in Vaude und Wellensteyn
gekleidet auf einem Carbon-Fully mit Restrap-Taschen über den Reschenpass
juckeln. Und AfD wählen, aber das ist eine andere Geschichte …“
Ist diese spätkapitalistische Professionalisierung harmloser,
althergebrachter Leibesertüchtigung ein weiteres Indiz für die
Kommerzialisierung des Alltags, die Entmenschlichung des Miteinanders,
Durchdringung mit dem Leistungsgedanken von allem, bla, bla, bla? Silke
Wassermann, Professorin für Sportsoziologie an der schleswig-holsteinischen
Freilicht-universität Malente, ist kaum überrascht: „Nachdem in den
vergangenen eineinhalb Jahren das Arbeiten immer laxer und zwangloser wurde
– Stichwort Homeoffice, freie Zeiteinteilung, Balkon als Arbeitszimmer –,
sehnen sich die Deutschen nach festen Strukturen wenigstens im Feierabend.
Diese Theorie habe ich übrigens in meinem Forschungsfreisemester
entwickelt.“
Was die Pandemie darüber hinaus sozusagen ins Rollen gebracht hat, liegt
auf der Handbremse: Während der härtesten Lockdown-Phasen zählten Radtouren
zu den wenigen erlaubten Dingen, die man draußen tun konnte. Drinnen
natürlich auch, aber wer hat schon so viel Platz in der Wohnung?
Die Deutschen lernten diese neue „Freiheit der Einschränkung“ zu schätzen.
Aus den Nachmittagstouren zum Stadtpark auf Opas rostigem Dreigänger wurden
bald mehrtägige Unternehmungen, bei denen die Übergänge zu Camping, Urlaub
und Rucksacktourismus fließend waren. „Mikroabenteuer“ ist das Stichwort!
## Nervenkitzel im Freien
Auch in diesem Sommer, da weitere Reisen zwar größtenteils möglich, aber
immer noch mit erheblichen Unsicherheiten verbunden sind, begibt man sich
lieber auf ein solches Mikroabenteuer als in einen engen Linienflieger. Und
wem der Nervenkitzel eines Superspreader-Open-Air-Festivals nicht
ausreicht, der fährt halt mit hochgekrempelten Hosenbeinen in ein
Brennnesselfeld.
„Den immer individuelleren Vorstellungen vom Unterwegssein mehr Freiräume“
zu geben verspricht ein schwäbischer Hersteller von Bikepacking-Zubehör.
Das ist möglich schon ab 1.499 Euro, in der Kindervariante. Denn
selbstverständlich sollen die „Mikro-Menschen“ ebenfalls perfekt
ausgerüstet sein. Auf dem Lastenrad kutschiert werden, das mögen die Kids
in der Großstadt gewohnt sein. Geht es ins Grüne, hat jedes
Familienmitglied sein Ränzlein zu tragen, notfalls auf dem Kopf, nach dem
Vorbild afrikanischer Frauen. Der neu gegründete Club „Die kleinen
Drahtesel“ in Kempten soll Kinder darauf vorbereiten, 60 Prozent ihres
restlichen Lebens auf einem High-End-Mountainbike zu verbringen.
„Eine neue Art der Mobilität entwickelt sich gerade“, schwärmt Professorin
Wassermann. „Der Homo cyclensis kennt keine Grenzen mehr zwischen Reisen,
Wohnen, Campen, Arbeiten! Notebook, Isomatte, Tarp (so heißt heute fancy
eine schlichte Plane), Zweirad und Lieferando – mehr brauchen Sie im Grunde
nicht. Nur noch ein einziges Mal müssen Sie die Stechuhr betätigen, und
zwar direkt nach der Geburt!“
Strahlend springt die Forscherin auf ihr Bike und fährt in die
Sommerfrische.
18 Aug 2021
## AUTOREN
Torsten Gaitzsch
## TAGS
Freizeit
Fahrrad
Gepäck
Die Wahrheit
Kanye West
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Die Wahrheit
Ernährung
Fitness
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Der aus dem Ye-Ei kam
Kanye West und der Krieg in der Ukraine: Der exzentrischste Musiker der
Welt wandelt auf ganz neuen politisch-musikalischen Wegen.
Die Wahrheit: Gesunde Coronamüdigkeit
Gefühlt jede vierte Nachricht, die in den vergangenen Wochen einging,
meldete, dass der Absender an Covid erkrankt ist. Es reicht!
Die Wahrheit: Wo bleibt Poutine?
Immer öfter hört man davon, dass in Kanada ein Heißgetränk namens „coffee…
äußerst beliebt sein soll. Hat das wieder mit Trudeau zu tun?
Die Wahrheit: Psychopathen braucht die Welt
Eine Pandemiefolge: Internate boomen! Aber wächst dort wirklich die Elite
von morgen heran? Ein Besuch auf Schloss Krampenzorn.
Die Wahrheit: Das Eiweiß der Vielen
„High Protein“ ist in. Ob Fruchtriegel oder Käse, selbst Schokopudding gibt
es jetzt als Protein-Plus-Version. Eine Bestandsaufnahme.
Die Wahrheit: Hüpfen im grellen Strampelanzug
Literweise Körperflüssigkeiten vergießen – das megahammerharte Revival der
guten, alten Telegymnastik auf allen Kanälen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.