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# taz.de -- Landesparteitag in Corona-Zeiten: „Richtig gespenstisch“
> Die Grünen tagen am Mittwochabend maskenbewehrt im Rekordtempo und wählen
> ihren Vorstand neu, der sich 2021 fast zur Hälfte in den Bundestag
> verabschieden könnte.
Bild: Durchweg mit Maske tagten die Grünen und bestätigten ihren Landesvorsta…
Nach etwas mehr als einer Stunde oben auf der Tribüne hält es eine der
Frauen in der Versammlungsleitung nicht mehr aus: „Das ist, glaub' ich, die
leiseste LDK, auf der ich je war, richtig gespenstisch.“ LDK, das ist das
Grünen-interne Kürzel für Landesdelegiertenkonferenz, ein Parteitag also.
Dieser am Mittwochabend im Estrel-Hotel in Neukölln ist nicht nur sehr
leise, er ist auch ansonsten rekordverdächtig: So schnell voran ging es
mutmaßlich noch bei keinem Grünen-Parteitag – und möglicherweise bleibt es
der erste und einzige nicht-digitale Berliner Landesparteitag in diesem
Corona-Herbst. Denn das an gleicher Stelle für Samstag vorgesehene
SPD-Treffen haben die Sozialdemokraten abgesagt.
Im Estrel-Hotel zu tagen dürfte böse Erinnerungen bei der Frau mit den
dunklen Locken in einer der vorderen Reihen der regelkonform weit
auseinandersitzenden rund 150 Grünen-Delegierten wecken. Hier ließ die
Partei 2017 Bettina Jarasch, die langjährige vormalige Landesvorsitzende,
herbe durchfallen, als sie sich für eine aussichtsreiche
Bundestagskandidatur bewarb. Nun ist Jarasch designierte Spitzenkandidatin
für die Abgeordnetenhauswahl im nächsten Jahr, ein weiterer Parteitag soll
sie Ende November offiziell dazu küren. Immerhin ist es nicht derselbe Saal
im Kongressbereich wie 2017, sondern einer im Hotel selbst.
Dort hat auch schon oft die Berliner SPD getagt, die sich am Samstag wieder
im Estrel treffen wollte. Grüne raus, durchwischen, Sozis rein, so war der
grobe Plan. Doch nach den jüngsten Corona-Verabredungen von Kanzlerin und
Ministerpräsidenten kündigt Noch-Parteichef Michael Müller am Mittwochabend
an, darüber nochmal im SPD-Landesvorstand reden zu wollen. Der entscheidet
dann am Donnerstagmittag: Absage – die Dynamik der Pandemie lasse ein
solches Treffen mit rund 280 Delegierten nicht zu. Eigentlich sollten am
Wochenende Franziska Giffey und Raed Saleh neue Landesvorsitzende werden.
Bei den Grünen ist das mögliche Problem, den Landesvorstand nicht neu
wählen zu können, am Mittwoch nach kaum eineinhalb Stunden vom Eis. So
pünktlich wie noch nie geht es los, Geschäftsordnungsanträge und Ähnliches
bleiben aus, und so startet der Tagesordnungspunkt „Vorstandswahl“ schon
eine halbe Stunde früher als geplant. Für Spannung im Saal sorgt das nicht:
Der bisherige siebenköpfige Vorstand kandidiert komplett wieder,
Gegenkandidaturen gibt es nicht. Auch Fragen an die Kandidaten bleiben fast
durchweg aus.
## Anspannung statt Spannung
Unausgesprochen bleibt dabei, dass sich mindestens fast die Hälfte des
wenig später für zwei Jahre neu gewählten Vorstands im nächsten Herbst
mutmaßlich schon wieder verabschiedet: Die Vorsitzende Nina Stahr und die
Beisitzer Hanna Steinmüller und Andreas Audretsch kandidieren mit guten
Chancen für den Bundestag. Grünen-Parlamentarier aber dürfen nach den
Regeln der Partei genauso wenig wie Regierungsmitglieder dem Landesvorstand
angehören. Ob es bei diesen drei bleibt, wird sich im Frühjahr zeigen, wenn
die Grünen auch ihre Kandidaten für die zeitgleiche Abgeordnetenhauswahl
nominieren.
Wenn auch keine Spannung, so gibt es sehr wohl eine spürbare Anspannung im
Saal, selbst wenn bei einem Test für das elektronische Abstimmungssystem 55
Prozent für die Aussage „Heute bin ich super Stimmung“ votieren. Alle
tragen auch an ihren Plätzen eine Maske, anders als etwa im
Abgeordnetenhaus zuletzt üblich. Das ist nach Parteiangaben eine
Entscheidung der Grünen selbst gewesen, nicht etwa des Hotels. Selbst die
Redner sprechen durch Stoff – was manche durchaus außer Atem geraten lässt.
Ein wohlbekanntes Gesicht allerdings ist komplett zu sehen, weil Stahrs
alter und neuer Co-Vorsitzender Werner Graf sich digital meldet und die
Maskenpflicht sich nicht auf sein heimisches Wohnzimmer erstreckt. Stahr
sei in Quarantäne, sagt ein Parteisprecher der taz auf Nachfrage, ein
Testergebnis liege noch nicht vor. Wie andere Redner gibt auch Graf als
Wahlziel aus, die designiert Spitzenkandidatin Jarasch zur ersten
Grünen-Regierungschefin und das Rote Rathaus grün zu machen.
Die Werte in den beiden jüngsten Meinungsumfragen sehen die Partei mit 26
und 20 Prozent als führende Kraft im rot-rot-grünen Spektrum, in einem Fall
knapp hinter der CDU, im anderen deutlich ganz vorn. Das hat die in ihren
Slogans seit jeher selbstbewussten Grünen nicht gerade kleinlauter werden
lassen. „Die Zukunft ruft nach uns“, ist der Parteitag auf einer großen
Leinwand über dem Podium und auf diversen Plakaten überschrieben. Der alte
und neue Schatzmeister Hennig Bublitz, der sich wie Graf via Computer
meldet, steigert das noch: „Die Zukunft ruft nicht nur nach uns, sie
schreit nach uns.“
(Der Text wurde nach der Entscheidung des SPD-Landesvorstands zur
Parteitag-Absage aktualisiert.)
29 Oct 2020
## AUTOREN
Stefan Alberti
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