| # taz.de -- Berliner Politprominenz im Bundestag: Zwei unter vielen | |
| > Berlins Ex-Regierender Michael Müller und die einstige Grünen-Chefin Nina | |
| > Stahr sind heute Bundestagsabgeordnete. Wie geht es ihnen mit dem | |
| > Machtverlust? | |
| Bild: Hier sehr entspannt vorm Bundestag: Michael Müller, einst Berlins Regier… | |
| Es war spät geworden an jenem Dezemberabend 2021, als Michael Müller | |
| nachdenklich wurde. Das mit dem Bedeutungsverlust, das spüre er schon | |
| jetzt, sagte der Noch-Regierungschef wenige Tage bevor seine SPD-Kollegin | |
| Franziska Giffey im Roten Rathaus übernehmen sollte. Müller hatte noch | |
| einmal wie in Vor-Corona-Jahren die Landespolitik-Reporter zu einem | |
| vorweihnachtlichen Gänseessen eingeladen, dieses Mal passenderweise in | |
| Clärchens Ballhaus mit dem morbiden Charme seines Spiegelsaals. Draußen war | |
| es feucht-kühl, drinnen versuchte Müller gar nicht erst, vom Zauber eines | |
| neuen Anfangs zu fabulieren, wie das andere vielleicht getan hätten. Als | |
| Bundestagsabgeordneter weit weniger gefragt zu sein, als Redner kaum noch | |
| eingeladen zu werden – „da werde ich schon dran zu knabbern haben.“ | |
| Sieben Monate später ist es weder dunkel noch feucht noch morbide, als | |
| Michael Müller mit der taz zum Interview zusammen sitzt. Es ist vielmehr | |
| sonnig-warm und Richtung morbide gehen höchstens die schwarzglänzende | |
| Druckmaschine der Traditionsmarke Heidelberger und die hellen hölzernen | |
| Setzkästen im Raum, weil sie von einem aussterbenden Handwerk zeugen. | |
| Müller, Ex-Regierungschef, aber auch Ex-Drucker, hat sie aus seinem alten | |
| Wahlkreisbüro mitgenommen, als er hierher umzog. Hierher, das ist ein | |
| Ladenlokal in Charlottenburg-Wilmersorf, wo er bei der Bundestagswahl am | |
| 26. September das Direktmandat gewonnen hat. | |
| Es ist ein Bruch mit Müllers früherem Büro im weit weniger edlen Tempelhof. | |
| Das Ladenlokal mit seinen bodentiefen Fenstern geht zur von hohen Bäumen | |
| beschatteten Bleibtreustraße unweit des Kudamms raus, nebenan haben ein | |
| Juwelier und die Berliner Wirtschaftsgespräche ihren Sitz. Man habe | |
| gedacht, da werde nicht viel sein mit Laufkundschaft, wegen der | |
| hochpreisigen Nachbarschaft, erzählt Müller, aber es sei ganz anders | |
| gekommen. Wie er so da sitzt, zwischen einem Gespräch im Bundestag und | |
| einer kurzen Reise zu einer Talkshow nach Hamburg, macht er nicht den | |
| Eindruck eines Mannes, der vergangenen Zeiten allzu sehr hinterher trauert. | |
| Dabei hatte die SPD ihn als Regierenden Bürgermeister nicht mehr gewollt | |
| und [1][Anfang 2020 die neue Parteispitze aus Giffey und Fraktionschef Raed | |
| Saleh] vorgestellt. Mancher hatte schon spekuliert, man werde Müller noch | |
| vor dem parallelen Wahltermin für den Bundestag und das Abgeordnetenhaus im | |
| Herbst 2021 ablösen. Doch dann kam Corona, und [2][Müller war zufällig | |
| Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz], einem Gremium, dass viele | |
| außerhalb von Politik und Medien vorher gar nicht kannten, nun aber über | |
| die zahlreichen Sitzungen und immer neuen Corona-Beschlüsse intensiv kennen | |
| lernten. Fast immer im Bild mit der damals noch amtierenden Kanzlerin: | |
| Müller. Auch auf Landesebene wirkte er als zuverlässiger Manager in der | |
| Corona-Krise. Von früherer Ablösung war keine Rede mehr. | |
| ## Spaß an der Politik | |
| Sollte Müller zuvor den Spaß an Politik verloren haben, so fand er ihn in | |
| der Krise wieder. Er wollte weiter machen, wenn schon nicht im Roten | |
| Rathaus, [3][dann im Bundestag]. Dort sitzen vormalige Ministerpräsidenten | |
| eigentlich nur dann, wenn sie nun Kanzler geworden sind – wie Gerhard | |
| Schröder, der aus Hannover nach Berlin kam – oder eben dieses Ziel | |
| verfehlten, wie Armin Laschet als NRW-Ministerpräsident. Dass jemand mit | |
| einem solchen Hintergrund gezielt ein einfaches Mandat übernimmt, das hatte | |
| vorher nur einer gemacht, der frühere Hamburger Regierungschef Hans-Ulrich | |
| Klose (SPD) in den 80er-Jahren. | |
| Vor dem Interview war zu hören, Müller habe an einem Einführungsseminar des | |
| Bundestags teilgenommen, in dem es um Pflichten von Abgeordneten als | |
| Arbeitgeber geht. Das kann man als seltsam empfinden, weil ein Regierender | |
| Bürgermeister ja Chef von über 100.000 Mitarbeitern des Landes Berlin ist. | |
| Oder eben als äußerst gewissenhaften Einstieg in eine neue Aufgabe. | |
| Immerhin kann jedes Bundestagsmitglied monatlich rund 21.000 Euro für | |
| Mitarbeitergehälter abrufen. Müller bestätigt das: Beim einen gehe es um | |
| die nominelle, beim anderen um die ganz persönliche Verantwortung. | |
| Sein Bundestagsbüro, rund 5 Kilometer weiter östlich, hat sich Müller | |
| anders als das Wahlkreisbüro in der Bleibtreustraße nicht aussuchen können, | |
| sondern zugewiesen bekommen. Dass es im Parlamentsgebäude unter den Linden | |
| 50 ist, habe ihn auch erstmal enttäuscht: „Man weiß ja, je näher man sein | |
| Büro am Plenarsaal hat, desto wichtiger ist man.“ Dann aber sei die | |
| Einsicht gekommen: Zwar weiter weg vom Reichstag, aber viel näher dran am | |
| prallen Leben Unter den Linden und der Friedrichstraße. | |
| Im gleichen Gebäude hat auch Nina Stahr ihr Büro. Die war zwar nicht Chefin | |
| von über 100.000 Landesbeschäftigten und im Senat, aber immerhin | |
| Landesvorsitzende von zuletzt über 12.000 Berliner Grünen-Mitgliedern. Und | |
| hat in dieser Rolle im rot-grün-roten Koalitionsausschuss mit Michael | |
| Müller fünf Jahre Berliner Regierungspolitik mitbestimmt. Nun ist sie | |
| einfache Abgeordnete, eine von 118 in der Grünen-Fraktion, eine von 736 im | |
| gesamten Parlament. | |
| „Ich glaube, auf Landesebene hätte ich mich [4][mit diesem Rollenwechsel] | |
| schwerer getan“, erzählt Stahr der taz in ihrem Büro. „Wenn ich im | |
| Abgeordnetenhaus nun einfache Abgeordnete wäre und nicht mehr dabei in all | |
| den entscheidenden Runden wie vorher, dann wäre das schwierig gewesen.“ | |
| Trotz der neuen Ebene ist Stahr nicht als Unbekannte in den Bundestag | |
| gekommen. Wer so lange einen zeitweise sehr lauten und diskussionsfreudigen | |
| Landesverband führt, entwickelt auch bundesweit ein Netzwerk. Sprecherin | |
| ihrer Fraktion für Bildung, Wissenschaft und Forschung ist sie geworden, | |
| zudem sitzt sie im Familienausschuss. | |
| Anders als Müller hätte Stahr in ihrer alten Funktion weiter machen können. | |
| Warum also der Wechsel? „Ich habe den Job als Landesvorsitzende unheimlich | |
| gerne gemacht und es war eine große Herausforderung, den Landesverband | |
| durch diese erste komplette fünfjährige Regierungsbeteiligung zu führen.“ | |
| Aber auch in dieser Zeit, in der sie zwangsläufig Generalistin sein musste, | |
| „hat mich mein Herzensthema nicht los gelassen, die Familienpolitik.“ Als | |
| in diesem Bereich eine Lücke in der Bundestagsfraktion absehbar war, habe | |
| sie die gern füllen wollen. | |
| Die Grüne gehört nun zu den Politikern, die vom Kommunalen über die | |
| Landespolitik bis zum Bundestag alle Ebenen kennen. Auch bei Michael Müller | |
| ist das so – er begann seine politische Laufbahn in der | |
| Bezirksverordnetenversammlung in Tempelhof, Stahr in Zehlendorf. Der größte | |
| Unterschied? Müller sieht auf Bundesebene eine „riesige Maschinerie“ und | |
| größere Distanz – „in Berlin bin ich doch vom Roten Rathaus in 15 Minuten | |
| bei praktisch jedem Thema, das irgendwie eine Rolle spielt.“ | |
| Im Bundestag sei alles viel formalisierter, meint Stahr, „da kann ich nicht | |
| einfach mal im Ministerium anrufen, weil ich eine schlichte Information | |
| haben will – das löst dann gleich einen behördlichen Vorgang aus“. Und das | |
| Arbeitspensum sei ein anderes. Womit sie nicht sagen will, dass auf | |
| Landesebene nicht ordentlich gearbeitet würde, im Gegenteil. „Aber auf | |
| Bundesebene muss man sich einfach noch besser organisieren, um das alles zu | |
| schaffen – und man ist noch stärker auf gute Zuarbeit von den | |
| Mitarbeiter:innen angewiesen: Ohne ein gutes Team geht das nicht.“ | |
| Als Landesvorsitzende habe ihr Mann noch Zugriff auf ihren Terminkalender | |
| gehabt. Damit ist es vorbei, „das würde die Bundestagsverwaltung nicht | |
| erlauben“. Es ist aus Stahrs Sicht auch nicht so, dass Kommunalpolitiker | |
| immer schnell und direkt die Folgen ihrer Arbeit sehen, während im | |
| Bundestag alles langsamer vor sich gehen würde. „Ich glaube, in Politik und | |
| Verwaltung dauert es immer lange, was häufig frustrierend ist – egal auf | |
| welcher Ebene“. | |
| Dass ihr Ex-Regierungschef Müller, mit dem sie so oft im | |
| Koalitionsausschuss zusammen saß, im Bundestag in den Auswärtigen Ausschuss | |
| ging, kann Stahr nachvollziehen: „Ich denke, er wollte etwas ganz Anderes | |
| machen, bei dem er nicht immer denkt: Da hätte ich jetzt als Regierender | |
| Bürgermeister mehr Einfluss gehabt.“ | |
| So ähnlich beschreibt auch Müller selbst, warum er im Bundestag nicht in | |
| den Bau- oder den Wissenschaftsausschuss gegangen ist, wo er als ehemals | |
| zuständiger Senator die größte Fachkenntnis hatte. „Einige hatten mir das | |
| geraten, aber ich habe von Anfang an Nein dazu gesagt. Das wäre viel zu | |
| verführerisch gewesen, so zu tun, als wäre man noch Regierender.“ Müller | |
| geht nicht so weit zu sagen, dass sein Rollenwechsel null Gewöhnung | |
| erforderte: „Das war natürlich eine Umstellung“. In der Woche nach dem | |
| Gespräch mit der taz hat er im Plenum fünf Minuten Redezeit – „im | |
| Abgeordnetenhaus habe ich als Regierender 20 Minuten und länger zur | |
| Impfpflicht geredet“. | |
| Vor dem Wechsel hieß es gelegentlich, Müller spekuliere auf ein | |
| Ministeramt. Aus seiner Sicht beruhte das auf einer einzigen launigen | |
| Antwort auf eine zugespitzte Frage. Realistisch sei das nie gewesen, weil | |
| der vergleichsweise kleine Berliner Landesverband in der Bundes-SPD bei der | |
| Personalauswahl erst nachrangig zum Zuge kommt. | |
| Als Bundestagsabgeordneter hat Müller bislang nur durch einen Disput mit | |
| der FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann Aufsehen | |
| erregt. Als „nicht hilfreich“, hatte er die Reise dreier | |
| Ausschussvorsitzender der Ampel-Koalition in die Ukraine kommentiert. | |
| „Kälte, Unkenntnis und Verzerrung der Fakten“ warf ihm die FDP-Frau | |
| daraufhin vor. Nicht gerade eine normale Wortwahl unter Koalitionskollegen | |
| – auf Landesebene bekam Müller so etwas von seinen Partnern zumindest | |
| offiziell nicht zu hören. Stahr ist um diese Art von Öffentlichkeit bisher | |
| herum gekommen. | |
| Ende dieser Woche ist für beide das erste Bundestagsjahr vorbei, es war ein | |
| verkürztes wegen der Wahl und der Regierungsbildung danach: Es beginnt | |
| dann, wie im Abgeordnetenhaus schon vor 14 Tagen, die Sommerpause. Weiter | |
| geht es dann in beiden Parlamenten erst am 5. September. | |
| 5 Jul 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Neue-SPD-Landesspitze/!5656433 | |
| [2] /Bund-Laender-Runde-zu-Corona-vertagt-sich/!5729627 | |
| [3] /Abgang-von-Regierungschef-Mueller/!5820785 | |
| [4] /Gruene-brauchen-neuen-Landesvorstand/!5817000 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Alberti | |
| ## TAGS | |
| Michael Müller | |
| Grüne Berlin | |
| R2G Berlin | |
| Bundestag | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Schwerpunkt Wahlen in Berlin | |
| Grüne Berlin | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Bundestagswahl am 23. Februar: Quoten-Poker um die besten Listenplätze | |
| In diesen Tagen stellen Berliner CDU, Grüne und SPD ihre Kandidaten für die | |
| Bundestagswahl auf. Nur bei den Grünen ist klar: An der Spitze steht eine | |
| Frau. | |
| +++ Wahlen in Berlin +++: Enteignung und Giffey vorn | |
| Franziska Giffeys SPD gewinnt die Abgeordnetenhauswahl. Für DW Enteignen | |
| zeichnet sich ein deutlicher Sieg ab. Alle News im Ticker. | |
| Landesparteitag in Corona-Zeiten: „Richtig gespenstisch“ | |
| Die Grünen tagen am Mittwochabend maskenbewehrt im Rekordtempo und wählen | |
| ihren Vorstand neu, der sich 2021 fast zur Hälfte in den Bundestag | |
| verabschieden könnte. |