# taz.de -- Film über Schlachthofarbeiter: Gesichter vom Fließband gezeichnet | |
> Der Dokumentarfilm „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ von Yulia | |
> Lokshina visualisiert die Misere der Schlachtbetriebe. | |
Bild: Schüler spielen Brecht, eine Schlachthofszene | |
Mitten in die erste Welle der Coronakrise platzte im Juni die Nachricht, | |
dass sich an den Fließbändern des [1][Schweineschlachtbetriebs Tönnies] im | |
westfälischen Rheda-Wiedenbrück weit über Tausend Arbeiter infiziert | |
hatten. Vier Wochen lang fuhren keine Tiertransporte in den gigantischen | |
Gebäudekomplex, blieben die Schlacht-, Zerlegungs- und Verpackungsstrecken | |
stehen. Rund viertausend rumänische, bulgarische und polnische | |
Schichtarbeiter und -arbeiterinnen wurden in ihren überfüllten und | |
miserabel ausgestatteten Quartieren unter Quarantäne gestellt und mittels | |
Bauzäunen am Ausbrechen gehindert. | |
Die skandalösen Bedingungen der Fleischproduktion sind seit Jahren bekannt. | |
Die Pandemie brachte jedoch das gesamte System der Ausbeutung | |
osteuropäischer Arbeiter, das zugunsten niedrig gehaltener Fleischpreise | |
und globaler Exporterfolge immer wieder legitimiert und verdrängt wird, | |
noch einmal mit Wucht ans Licht. | |
Vom Protest der Tierschützer verlagerte sich die öffentliche Diskussion auf | |
die katastrophalen Lebensbedingungen der Arbeitskräfte, ihre Abhängigkeit | |
von Werkverträgen mit mafiösen Leiharbeitsfirmen, die oft um den | |
gesetzlichen Mindestlohn betrügen, an überteuerten Unterkünften verdienen | |
und sich den Transport zur Schicht in dem entfernt am Autobahnkreuz | |
gelegenen Industriegelände extra bezahlen lassen. | |
Die industrielle Schlachtung und Zerlegung von 30.000 Tieren pro Tag wurde | |
ein Infektions-Hotspot, weil in unterkühlten Hallen gearbeitet wird, bei | |
deren Bau man sich die notwendigen Luftfilter sparte. | |
## Verdrängte Überlebenskämpfe | |
Bauliche Verbesserungen versprach Tönnies im Lauf des Sommers und übernahm | |
trickreich eine Reihe von Leiharbeitsfirmen in Eigenbesitz, bevor das | |
Gesetz zum Verbot von Werkverträgen zu Beginn nächsten Jahres greifen soll. | |
Sein neues unübersichtliches Personalmanagement will der Konzern als Aktion | |
zur Festanstellung der Arbeitskräfte verstanden wissen. Vorläufig sind | |
seine Strategien zur Profitmaximierung wieder aus den Schlagzeilen heraus. | |
In dieser Situation kommt ein Dokumentaressay in die Kinos, der jetzt als | |
Film zur Stunde beworben wird, jedoch schon Anfang des Jahres für | |
Gesprächsstoff über verdrängte Überlebenskämpfe im Turbokapitalismus | |
sorgte und den Dokumentarfilmpreis beim Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken | |
gewann. | |
Mehrere Jahre recherchierte die Regisseurin Yulia Lokshina in und um | |
Rheda-Wiedenbrück, sammelte Eindrücke vom Leben am Ort und sprach mit | |
Arbeiterinnen und Arbeitern, bevor sie für „Regeln am Band, bei hoher | |
Geschwindigkeit“, ihr Abschlussprojekt an der Münchener Filmhochschule, | |
eine eigene Perspektive und Bildsprache fand. | |
Anders, scheinbar zeitlos und intensiver als die hektische | |
Berichterstattung aus dem Corona-Hotspot geht die Filmemacherin auf eine | |
Spurensuche nach Menschen, die als Arbeitsmigranten vom Rand Europas nach | |
Deutschland gekommen sind und dem Ausbeutungsdruck stoisch standzuhalten | |
versuchen. | |
Als Counterpart zu dem meist ohne deutsche Sprachkenntnisse erlebten Alltag | |
in der Schweinefleischproduktion setzt Yulia Lokshinas | |
atmosphärisch-achronologische Montage die Probengespräche eines Münchener | |
Schülertheaters über Bert Brechts Lehrstück „Die heilige Johanna der | |
Schlachthöfe“. Lauter sympathische, pubertätsbedingt leicht blasiert | |
wirkende Wohlstands-Kids haben da Spaß am Spielen, aber können mit den | |
insistierenden Fragen ihres Deutschlehrers zum historischen Kontext des | |
Stücks und seiner denkmöglichen aktuellen Brisanz einfach nichts anfangen. | |
## Kontakt zur Lebenswirklichkeit | |
Den Blick ins Werksinnere, auf Fließbänder und vermummte Männer mit | |
Messern, spart sich der Film. Die Kamera (Zeno Legner, Lilli Pongratz) | |
umrundet die gigantische Mauer, die das Werksgelände von einer | |
Eigenheimidylle trennt und symbolisiert so die Spaltung in Parallelwelten. | |
Wie durch Wegschauen und Mangel an konsequentem politischem Handeln das | |
Geschäft der Ausbeutung begünstigt wird, ist Yulia Lokshinas leises, aber | |
eindringlich visualisiertes Thema. | |
Die Erzählungen der Tönnies-Arbeiter*innen und ihre Gesichter sprechen in | |
unmittelbar eindringlicher Sprache von der körperlichen Erfahrung am | |
Fließband, diskrete Blicke in ihr Wohnumfeld, zum Beispiel in einen | |
ausrangierten Camper, lassen den Versuch des Deutschlehrers, mit Brecht | |
Bewusstsein zu schaffen, hilflos erscheinen. Erst als die Abiturklasse sich | |
selbst im fertigen Film sah, im Kontrast zur Lebenswirklichkeit in | |
Rheda-Wiedenbrück, änderte sich ihre Wahrnehmung, sagte die Filmemacherin | |
in einem Interview. | |
„Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ beschränkt sich nicht auf | |
unüberwindliche Dichotomien. Der Film begleitet die lokale Bürgerinitiative | |
„FairVerträge“, die sich seit Langem für das Verbot der Ausbeutungsvertr�… | |
einsetzt. Inge Bultschnieder, eine trotz Erschöpfung unermüdliche | |
Aktivistin, wird mir in Erinnerung bleiben. Wie sie das Team an die Orte | |
führt, wo eine junge Rumänin, die sie betreut, aus Angst vor Kündigung ihr | |
Kind allein zur Welt brachte, es verließ und dafür vor Gericht kam, ist | |
eine der eindrücklichsten Episoden des Films. | |
„Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“. Regie: Yulia Lokshina. | |
Deutschland 2020, 92 Min. | |
21 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Nach-Stilllegung-wegen-Coronainfektionen/!5719470 | |
## AUTOREN | |
Claudia Lenssen | |
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