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# taz.de -- Abschiebungen über das Mittelmeer: Rom macht Druck, Tunis lenkt ein
> Italien will künftig doppelt so viele Menschen nach Tunesien abschieben
> wie bisher. In der tunesischen Zivilgesellschaft stößt das auf Kritik.
Bild: Ras Jabal, Bizerte, April 2018. Ahmed Ayouby und Mounir Aguida wollen Tun…
Tunis taz | Während in Europa über den [1][von der EU-Kommission
vorgelegten Migrationspakt] diskutiert wird, der unter anderem eine
verstärkte migrationspolitische Kooperation mit den südlichen
Nachbarländern der EU vorsieht, hat Italien bereits Nägel mit Köpfen
gemacht. Mit Tunesien hat sich die Regierung in Rom darauf geeinigt, einen
bereits 2011 vereinbarten Abschiebedeal auszuweiten und ab Oktober in
„außergewöhnlichen“ Abschiebeflüge hunderte Tunesier*innen zusätzlich
abzuschieben. Nachdem italienische Medien das Vorhaben vergangene Woche
öffentlich machten, regt sich in Tunesien nun Kritik.
Bisher hat Italien auf Grundlage des Deals von 2011 bis zu 80 tunesische
Migrant*innen pro Woche in zwei Flügen von Palermo in die tunesische Stadt
Enfidha abgeschoben. Ab Oktober könnten nun bis zu 600 solcher
Rückführungen pro Monat stattfinden – zumindest vorübergehend. Die
Tageszeitungen [2][La Repubblica] und [3][Il Foglio] hatten über die neue
Absprache berichtet. Die italienische Regierung hat sie bislang nicht
offiziell bestätigt. Weder Tunesiens Außenministerium noch die italienische
Botschaft in Tunis reagierten auf Anfragen zu einer Stellungnahme.
Ob der genaue Inhalt der neuen Vereinbarung überhaupt öffentlich gemacht
wird, darf bezweifelt werden. Schon die 2011 geschlossene Abmachung zur
Migrationskooperation, in deren Rahmen sich Italien und Tunesien erstmals
auf eine wöchentliche Abschiebequote einigten, ist bis heute unter
Verschluss – auch da der Deal kein formales Abkommen war, sondern eine
„mündliche Vereinbarung“, die keinerlei parlamentarischer Kontrolle
unterliegt.
Die neue bilaterale Übereinkunft sorgt derweil für Unmut in Tunesiens
Zivilgesellschaft. Die Menschenrechtsorganisation FTDES kritisierte in
einer [4][Erklärung] die Intransparenz rund um den neuen Abschiebedeal und
forderte Tunesiens Parlament auf, die Regierung für ihre
Migrationskooperation mit der EU und Italien zur Rechenschaft zu ziehen.
Tunesiens Außenminister Othman Jerandi bestritt am Rande einer Konferenz in
Tunis am Montag vergangener Woche, dass die tunesische Regierung in Sachen
Migrationskooperation Druck aus Rom nachgegeben habe. Es gebe keine
„erzwungenen Abschiebungen“ tunesischer Migrant*innen aus Italien,
versicherte der Diplomat. Abschiebungen erfolgten in Übereinstimmung mit
den zwischen beiden Staaten geschlossenen Abmachungen.
## Tunesiens Präsident will Ursachen bekämpfen
FTDES-Sprecher Romdhane Ben Amor zeigt sich gegenüber der taz „entrüstet
über die Stellungsnahme des Außenministers, der damit erzwungenen
Abschiebungen von Migranten den Weg ebnet.“
Enttäuscht ist Ben Amor auch von Tunesiens seit einem Jahr amtierenden
Staatspräsident. Tunesien habe „seine Politik nicht geändert, obwohl Kaïs
Saïed eine andere Migrationspolitik versprochen hat. Wir haben gehofft,
unter seiner Führung würde sich etwas bewegen.“
In der Tat hat Saïed in Sachen irregulärer Migration eine Rhetorik
gepflegt, die Hoffnungen auf eine selbstbewusstere tunesische Außenpolitik
gemacht hat. Einen reinen sicherheitspolitischen Ansatz lehnte er mehrfach
explizit ab; man müsse stattdessen die Ursachen für die irreguläre
Migration bekämpfen und Jobs und Entwicklungsperspektiven schaffen.
Hintergrund des jüngsten Deals zwischen Tunis und Rom ist die seit
Jahresbeginn stark angestiegene irreguläre Migration aus Tunesien. Seit
Januar haben nach [5][UN-Angaben] insgesamt 23.306 Migrant*innen Italien
erreicht, rund die Hälfte davon stach in Tunesien in See. Das in einer
heftigen Wirtschaftskrise steckende Tunesien ist mit 41,2 Prozent
inzwischen das mit Abstand wichtigste Herkunftsland von Migrant*innen, die
irregulär in Italien ankommen.
Entsprechend hatte Rom schon im Frühjahr den Druck auf Tunis erhöht und die
dortigen Behörden aufgefordert, konsequenter gegen irreguläre
Bootsabfahrten vorzugehen. Italiens Außenminister Luigi di Maio drohte
Tunesien sogar unverhohlen, bereits zugesagte Entwicklungshilfegelder
einzufrieren, sollte das Land nicht spuren.
2 Oct 2020
## LINKS
[1] /Von-der-Leyen-legt-Migrationspakt-vor/!5711756
[2] https://www.repubblica.it/cronaca/2020/09/21/news/migranti_al_via_i_rimpatr…
[3] https://www.ilfoglio.it/esteri/2020/09/30/news/tra-le-righe-dell-accordo-tr…
[4] https://ftdes.net/en/communique-pour-la-transparence-avec-les-italiens/
[5] https://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean/location/5205
## AUTOREN
Sofian Philip Naceur
## TAGS
Italien
Tunesien
Migration
Schwerpunkt UN-Migrationspakt
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