# taz.de -- Film übers Übersinnliche: Mit Voodoo unterwandern | |
> Ungewöhnliche Geschichtsstunde am Mädcheninternat: Der Spielfilm „Zombi | |
> Child“ von Betrand Bonello verbindet Französische Revolution und Haiti. | |
Bild: Eliteschülerinnen, die Esoterik mögen: Fanny (Louise Labeque) und Méli… | |
Mehr als einmal fährt die Kamera die Gesichter und Körper der Mädchen | |
entlang, mit ihren Uniformen, den farbigen Schärpen, im Hörsaal und später, | |
als die Direktorin ihnen eine Ansprache hält: Als geschlossene Gruppe, wie | |
ein einziger Körper wiegen sie sich da zur Begrüßung nach hinten und wieder | |
nach vorne, als wäre ein straffer Wind oder ein Geist durch den Raum | |
gefahren. | |
Unter den Gesichtern ein einziges, das schwarz ist. Das ist Mélissa | |
(Wislanda Louimat). Sie stammt aus Haiti, ihre Eltern sind bei dem schweren | |
Erdbeben dort im Jahr 2010 ums Leben gekommen. | |
Mélissa ist neu in der Klasse, aber sie wird schnell in den Zirkel vier | |
literarisch begeisterter Mädchen aufgenommen. Zur Probe trägt sie ein | |
Gedicht des haitianischen Dichters René Dépestre vor, „Cap’tain Zombi“, | |
darin die Zeilen: „Hört, weiße Welt / Die Salven unserer Toten / Hört meine | |
Zombiestimme / Zu Ehren unserer Toten.“ | |
Und nicht mit den Mädchen, dem Internat, hat der Film begonnen, sondern mit | |
Bildern von Haiti, im Dunkeln des Jahres 1962; ein eigentümlich lichtes | |
Dunkel allerdings, und in diesen Bildern, in diesem Jahr, im Film geht ein | |
Zombie um, durch Voodoo transformiert, in Sklavendienste gezwungen, | |
Clairvius Narcisse ist sein Name. Es hat ihn wirklich gegeben. | |
## Klischiertheit nahe am Kitsch | |
Auch das Mädcheninternat gibt es, nördlich von Paris ist es gelegen, eine | |
Eliteinstitution nur für Mädchen, von Napoleon gegründet. Voraussetzung zur | |
Aufnahme ist, dass ein Elternteil einen Orden pour le mérite oder den Orden | |
der Ehrenlegion trägt. Eine sehr französische Institution also, in der in | |
Wirklichkeit allerdings nicht, wie aber im Film, Patrick Boucheron | |
unterrichtet, der wichtigste linke Historiker Frankreichs, Herausgeber | |
einer Weltgeschichte Frankreichs, der an einer ganz anderen | |
Eliteinstitution, dem Collège de France nämlich, lehrt. | |
In der Geschichtsstunde, die Bertrando Bonello in „Zombi Child“ zeigt, | |
während die Kamera die eher unengagierten Gesichter der Mädchen | |
entlangfährt, zitiert Boucheron den Historiker Jules Michelet, vor allem | |
aber rechnet er mit dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts ab, der den Geist | |
der Freiheit verraten habe, den die Französische Revolution in die Welt | |
gesetzt hatte. So mischt Bonello die Diskurse, stellt den Blick des | |
französischen Historikers gegen die – ohne klare Verknüpfung – dagegen | |
geschnittenen Bilder des historischen Zombies Clairvius Narcisse. | |
Erzählt wird die Geschichte, mehrfach geschichtet und auch perforiert, wie | |
sie ist, aus der Perspektive eines der Mädchen aus dem Literaturzirkel, ihr | |
Name ist Fanny (Louise Labeque). Sie ist auf ganz klassische Weise | |
besessen, von einem jungen Mann, den sie aus der Ferne des Internats liebt, | |
der sie aber kurz vor der Wiederbegegnung verlässt. Auch hier produziert | |
Bonello Bilder in ihrer Klischiertheit nahe am Kitsch: eine Lichtung im | |
Wald, der Mann mit nacktem Oberkörper. Und ein Motorrad im Wald. Bilder des | |
Unbewussten sind das eher, als dass es um die Abbildung einer außerhalb der | |
Fantasie existierenden Wirklichkeit ginge. | |
## Sie gerät ins Delir | |
Diese Unterscheidungen aufzuheben, darum geht es in „Zombi Child“ nicht | |
zuletzt. Oder genauer vielleicht: Diese Unterscheidungen, zwischen Haiti | |
und Frankreich, zwischen real und erfunden, zwischen rationaler | |
Internatsunterrichtung und Ritualen des Voodoo, zwischen Gegenwart und | |
Vergangenheit, zwischen Sklaven und Zombies, nicht aufzuheben, sondern | |
einander durchdringen zu lassen, sie also einerseits weiter aufzufalten, | |
andererseits aber ineinanderstürzen zu lassen. Und Jacques Tourneurs | |
Filmklassiker „I Walked With a Zombie“ ist als weitere Resonanzfläche auch | |
mit im Spiel. | |
Die Geschichte Fannys führt sie zu Mélissas Tante, von der sie sich die | |
Befreiung von ihrem Liebeskummer erhofft. Nach einigem Zögern lässt sich | |
die Tante, wiewohl keine Spezialistin für Exorzismen, darauf ein. Es führt | |
zu nichts Gutem: Es ergreift eine der finstersten Figuren des Voodoo, Baron | |
Samedi, Zeremonienmeister des Todes, von ihr Besitz. Sie windet sich auf | |
dem Boden, die Augen ganz schwarz, sie gerät ins Delir, der Film selbst | |
aber nicht. | |
Klar sind und bleiben die Bilder, nüchtern die Schnitte, die die eine Welt | |
von der anderen trennen und sie zugleich verbinden. Darunter und darüber | |
pluckert wie mit einem Blip oder Pling aus einem Wasser aufsteigender | |
Blasen die wie stets von Bonello selbst komponierte elektronische | |
Ambientmusik. | |
Vielleicht ist das am Ende das Unheimlichste an „Zombi Child“: wie | |
ungerührt der Film das kaum miteinander Vereinbare synkretisiert. Wie er | |
den Rationalismus und Laizismus, den Frankreich vor sich herträgt, mit | |
Voodoo unterwandert und methodisch kühl die Unscheidbarkeit von Bildern des | |
Realen und einer anderen Wirklichkeit ausagiert. Zum Abspann läuft „You’ll | |
Never Walk Alone“ in der Fassung von Gerry and the Pacemakers: Die Zombies | |
sind immer mit von der Partie. | |
8 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
## TAGS | |
Spielfilm | |
Esoterik | |
Haiti | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Kino | |
Haiti | |
Haiti | |
Schwerpunkt #metoo | |
Serie | |
taz Plan | |
taz Plan | |
Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Taiwanischer Horrorfilm „The Sadness“: Das limbische System übernimmt | |
Verdrängung und Verschwörung in Zeiten von Corona: Der taiwanische | |
Horrorfilm „The Sadness“ macht sich einen blutigen Reim auf die Pandemie. | |
Nach Präsidentenmord in Haiti: Dem Abgrund immer näher | |
Die Hintergründe der Ermordung von Jovenel Moïse sind weiter unklar. Doch | |
die Ereignisse zeigen, wie Privatarmeen das Land bestimmen. | |
Nach Präsidentenmord in Haiti: Mutmaßlicher Drahtzieher festgenommen | |
Ein haitianischer Arzt aus dem US-Bundesstaat Florida soll die Mörder von | |
Jovenel Moïse beauftragt haben. Sein Ziel war es wohl, die Präsidentschaft | |
an sich zu reißen. | |
US-Comedian Notaro über Cancel Culture: „Twitter interessiert mich nicht“ | |
Im Netflix-Actionfilm „Army of the Dead“ ersetzt Tig Notaro einen anderen | |
Schauspieler. Ein Gespräch über Cancel Culture und Greenscreen. | |
Serie „Himmelstal“ auf DVD: Die Hölle sind die anderen | |
Spannender Psychothriller mit bösem Zwilling: Die schwedische Serie | |
„Himmelstal“ basiert auf einem Roman von Marie Hermanson. | |
Filmtipps für Berlin: Lebenslügen und Langeweile | |
Der iranische Film „The Salesman“ erzählt von einem Künstler-Paar in der | |
Krise, „Nocturama“ dagegen vom Terror in einer sinnentleerten Gesellschaft. | |
Die Kinotipps für Berlin: Von Brücken und Briefen | |
Eine Werkschau im Arsenal würdigt den französischen Regisseur Bertrand | |
Bonello. Die Eva-Lichtspiele den alten deutschen Film. Die Termine der | |
Woche. | |
Die 72. Filmfestspiele von Cannes: Gesellschaftskritik mit allen Mitteln | |
Die Filmfestspiele von Cannes waren ein guter Jahrgang mit einer verdienten | |
Goldenen Palme für „Parasite“ des koreanischen Regisseurs Bong Joon-ho. |