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# taz.de -- Zur Globalgeschichte der Nudel: Pasta als Produkt offener Politik
> Spaghetti al pomodoro, diese so typisch italienische Tradition, ist
> Fusion – wie Massimo Montanaris gleichnamiges Buch zur Geschichte der
> Pasta zeigt.
Bild: Spaghetti-Performance in Monteleone Sabino
„Wenn man isst und wenn man über Essen spricht“, schreibt Massimo Montanari
in seinem Buch „Spaghetti al pomodoro“ (Wagenbach Verlag, 2020), „sind
Missverständnisse und Mystifizierungen an der Tagesordnung.“
Grund genug für den Historiker, der Geschichte des Mittelalters an der
Universität von Bologna lehrt und dort den Studiengang „Geschichte und
Kultur der Ernährung“ leitet, das wohl typischste italienische Gericht,
Spaghetti al pomodoro, in seine Bestandteile zu zerlegen und zu
entmystifizieren.
Seine „historische Dekonstruktion“ beginnt mit Marco Polo, der die
[1][Nudel der Legende nach im 13. Jahrhundert mit nach Italien] gebracht
haben soll. Unsinn, stellt der Autor klar: China war „an der ‚westlichen‘
Geschichte der Nudel nicht beteiligt.“
Beteiligt waren indessen die Araber, die die Herstellung von Trockennudeln
flächendeckend in den von ihnen besetzten Gebieten verbreiteten: Bereits
Mitte des 12. Jahrhunderts lässt sich in Sizilien, zur damaligen Zeit
Schmelztiegel des kulturellen Austauschs, die erste veritable Industrie für
getrocknete Nudeln nachweisen.
## Offenes politisches Klima dank Zusammenarbeit der Weltreligionen
Ein außerordentlich offenes politisches Klima ermöglichte die
Zusammenarbeit von Christen, Juden und Muslimen, von der Herstellung und
Handel profitierten. Wer sich aufmache, nach Ursprüngen zu suchen, schreibt
Montanari in seiner kurzen Geschichte eines Mythos, werde feststellen, dass
die „vermeintlichen Wurzeln häufig die anderen“ seien.
Dass das durchaus gerechtfertigte Interesse an den Ursprüngen auch
beunruhigende Formen annehmen könne, wenn es sich beispielsweise mit
Geisteshaltungen verbinde, die nach Intoleranz und Fanatismus röchen,
motivierte den Spezialisten für europäische Ernährungsgeschichte, gegen
eine Einmütigkeit à la – „Meine Art zu kochen ist gut, weil ihr (und mein)
Ursprung gut ist“, soll heißen: „besser als deiner“ – anzuschreiben.
Vor einem Teller Pasta mit Tomatensoße über die Umweltbedingungen, Orte und
Pfade nachzudenken, die dieses Gericht ermöglicht haben, biete, so
zumindest hofft der Autor, Gelegenheit, „diesen anderen“ zu begegnen, und
Konzepte wie Identität oder Wurzeln ein für alle Mal nicht als
festgezurrte, starre Gebilde, sondern als dynamische Strömungen zu
begreifen.
Der etymologische Ursprung des Wortes Rezept, das lateinische Verb
„recipio“ verweise auf nichts anderes: „Ich nehme (von diesem und jenem)
und stelle zusammen“. Die Küche vermische Komponenten, bringe sie ins Spiel
und sorge so für Interaktion.
## Spaghetti mit Tomatensoße als Frucht der Wurzeln
Wer dagegen die Komplexität solcher Pfade ignoriere, so Montanari, laufe
Gefahr, „sich aus der Geschichte heraus- und in den Mythos hineinzugeben“.
Das gelte auch für seine Landsleute, sofern sie [2][Spaghetti mit
Tomatensoße] als ein simples Objekt dächten, das schon immer auf ihren
Speisezetteln gestanden habe, ihrer Kultur entsprungen und Frucht ihrer
Wurzeln sei.
Nichts könnte falscher sein: Spaghetti al pomodoro, diese so typisch
italienische Tradition, ist Fusion, ist das sinnlich konkrete Resultat von
Begegnungen verschiedener Völker und Kulturen in verschiedenen Epochen an
verschiedenen Orten.
Die Tomate beispielsweise, erklärt Montanari, gelangte über Spanien nach
Italien, das im 17. Jahrhundert von Madrid aus gesteuert und kontrolliert
wurde. Doch erst die Überführung der mexikanischen Tradition, die Tomate
als Soße zuzubereiten, habe im 19. Jahrhundert ihren Einzug in das „System“
der italienischen Landesküche ermöglicht, innerhalb dessen jedes Element
einen ganz bestimmten Platz zugewiesen bekomme und einen ganz bestimmten
Sinn erfülle.
Gleiches gelte für Zwiebel und Knoblauch, beide [3][ursprünglich aus
Asien], die Chilipflanze aus Amerika und das ikonografisch heute
unmittelbar mit Italien verknüpfte Basilikum, ursprünglich in Indien und im
tropischen [4][Afrika beheimatet]. Die Geschichte des italienischen
Klassikers, lehrt uns Montanaris kleine-große Pastastunde, reicht quer über
den Globus.
12 Oct 2020
## LINKS
[1] /Die-Beziehung-der-Italiener-zum-Essen/!5640882
[2] /Essen-in-der-Selbstisolation/!5675274
[3] /Gemueseanbau-in-Berlin/!5637150
[4] /Westafrikanische-Kueche/!5629101
## AUTOREN
Marielle Kreienborg
## TAGS
Buch
Nudeln
Geschichte
Ernährung
Kochen
Nachruf
Literatur
Roman
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Kochen
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