| # taz.de -- Korpsgeist in Sicherheitsbehörden: Im Namen der Solidarität | |
| > Viele Polizeiskandale der vergangenen Monate basieren auf einer | |
| > Gruppendynamik. Innerhalb von Sicherheitsbehörden ermöglicht sie | |
| > Fehlverhalten. | |
| Bild: Kommissaranwärter bei ihrer Vereidigung | |
| Zwei Polizisten sorgen dafür, dass ein Fotograf Anfang September vor dem | |
| Amtsgericht Brandenburg/Havel erscheinen muss. Die beiden Beamten werfen | |
| dem Mann vor, ihre polizeiliche Arbeit gewaltsam behindert zu haben. Der | |
| Anwalt des Fotografen präsentiert nach den Aussagen der Polizisten vor | |
| Gericht ein Video. Es dokumentiert eindeutig, dass es einer der Beamten | |
| war, der grundlos den Fotografen angegriffen und beleidigt hatte. Die | |
| Polizisten haben also gelogen. Ebenfalls im Video zu sehen: Drei weitere | |
| Polizisten, die die Szene mitbekommen, vor Ort nicht einschreiten und der | |
| späteren Täter-Opfer-Umkehr nicht widersprechen. | |
| Bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen wird Mitte September bekannt, dass | |
| [1][mehr als dreißig Beamt*innen jahrelang rassistische Nachrichten] und | |
| Verherrlichungen des Nationalsozialismus über eine Chatgruppe geteilt haben | |
| sollen. Weder aus der Gruppe heraus noch im polizeilichen Umfeld der | |
| mutmaßlichen Täter*innen meldete sich jemand kritisch zu Wort. In den | |
| darauffolgenden Tagen wurde die Verwicklung von mehr und mehr Beamt*innen | |
| in diesen Skandal publik. | |
| In der zweiten Septemberhälfte finden gegen [2][18 Polizist*innen in | |
| Mecklenburg-Vorpommern Razzien] statt. Auch ihnen wird vorgeworfen, | |
| rechtsextremes Gedankengut in Chats ausgetauscht zu haben. Bei einem | |
| Ex-Elitepolizisten aus der Nähe von Schwerin wurde zuvor umfangreiches | |
| Datenmaterial sichergestellt. Es gibt Verbindungen [3][zur Prepper-Gruppe | |
| „Nordkreuz“], die Teil eines bundesweiten rechtsextremen Netzwerks war und | |
| jahrelang unentdeckt operierte. | |
| Ende September, eine Eilmeldung: Auch [4][in Berlin chatteten mindestens 25 | |
| rechtsextreme Polizist*innen] und tauschten zutiefst menschenfeindliche | |
| Nachrichten aus. Ein Vorgesetzter bei der Berliner Polizei bekam alles mit | |
| – und unternahm nichts. | |
| ## Ein gemeinsamer Nenner | |
| Das sind vier exemplarische Fälle aus einem einzigen Monat für ein | |
| Phänomen: Cop Culture. Denn viele Polizeiskandale, die in den vergangenen | |
| Monaten in Deutschland bekannt wurden, weisen einen gemeinsamen Nenner auf: | |
| Sie basieren auf einer Gruppendynamik, die innerhalb von | |
| Sicherheitsbehörden Fehlverhalten ermöglicht oder begünstigt. Es handelt | |
| sich dabei um eine Kultur der bedingungslosen Solidarität. | |
| Regina Arant ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Jacobs University | |
| Bremen. Die Psychologin forscht zum Wir-Gefühl, zur Solidarität und zur | |
| Abschottung in geschlossenen Gruppen. „Beim Wir-Gefühl stellt sich ein | |
| Mensch zwei grundsätzliche Fragen: Wer möchte ich sein? Und wer möchten wir | |
| sein?“, sagt Arant. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe werde so mit der | |
| eigenen Identität verknüpft. Hat die Gruppe Erfolg, verspüre jedes einzelne | |
| Mitglied ein wohliges, gutes Gefühl. Hat die Gruppe weniger oder keinen | |
| Erfolg, versuchen sich einzelne Mitglieder aus der damit verbundenen | |
| Identitätskrise zu befreien. So weit die Theorie. | |
| Arant skizziert bei so einer gruppenbasierten Identitätskrise drei | |
| Handlungsoptionen und erklärt, warum sie mal mehr und mal weniger umsetzbar | |
| sind: Man könne entweder die Gruppe wechseln. „Das ist aber oft nicht | |
| möglich, zum Beispiel bei ethnischen Minderheiten.“ Man könne sich aber | |
| auch einen anderen Vergleichsrahmen suchen. „Wenn man Fan von Werder Bremen | |
| ist, vergleicht man sich dann nicht mehr mit dem FC Bayern München, sondern | |
| mit einem Fußballklub, der weniger Erfolg hat. Zum Beispiel dem 1. FC | |
| Köln.“ Die dritte Option: andere Menschen abwerten. „Das führt oft zu | |
| Rassismus. Damit sich die eigene Gruppe besser fühlt“, sagt Arant. Dieser | |
| Abgrenzungsmechanismus könne sich in einigen Gruppen durchaus | |
| verselbstständigen. | |
| ## Druck von außen | |
| In einigen Fällen kommt es also weniger darauf an, ob eine Gruppe Erfolg | |
| hat oder nicht. Der Zusammenhalt wird ein Stück weit zum Selbstzweck und | |
| führt zu einer Abschottung gegenüber der übrigen Gesellschaft. Dadurch | |
| scheinen innerhalb der Gruppe Vergehen, Straftaten und der Bruch | |
| moralischer Standards legitimiert zu sein: alles im Namen der inneren | |
| Solidarität, der Polizei-Ehre und des Gruppen-Image. | |
| Bei größeren Skandalen innerhalb von Sicherheitsbehörden, wie [5][beim | |
| sogenannten „NSU 2.0“] oder der systematischen Verharmlosung von | |
| Rechtsextremismus [6][im Kontext der NSU-Morde], ist es nämlich | |
| unwahrscheinlich, dass in den Behörden niemand vom entsprechenden | |
| Machtmissbrauch Wind bekommen hat. Die Empirie zeigt, dass bisher nur | |
| wenige Polizist*innen den Weg der Aufklärung beschreiten, wenn sie | |
| entsprechende Missstände mitbekommen. Es brauchte zumindest in Deutschland | |
| bis jetzt stets investigative Recherchen und Druck von außen, um | |
| Polizeiskandale aufzudecken. Whistleblower*innen berichten der taz, dass | |
| sie unter enormen Druck gesetzt werden. Interne Kritiker*innen – selbst | |
| wenn die Kritik sich auf fehlende Beteiligung beschränkt – geraten ins | |
| Visier der eigenen Peergroup. | |
| Von einer dieser raren, selbstkritischen Reflexionen kann Simon Neumeyer | |
| berichten. Der 23-Jährige war vor knapp vier Jahren Polizeischüler in | |
| Leipzig. „Polizist war damals mein Traumberuf. Ich dachte, dass ich mich so | |
| für die Demokratie einsetzen kann“, sagt er heute. Schon nach drei Wochen | |
| in der Polizeiausbildung erkannte er aber, dass der Alltag der sächsischen | |
| Cop Culture anders aussieht. | |
| ## Braun statt blau | |
| „Wenn wir beim Mittagessen saßen, sprachen viele sehr positiv über die AfD. | |
| Als ich sagte, dass die AfD eine rechtsextreme Partei ist, kam direkt | |
| Widerstand.“ Einer der jungen Polizeischüler habe dabei den Satz | |
| ausgesprochen: „Ich wähle lieber braun als grün.“ Und das sei nicht nur | |
| Rhetorik gewesen, erzählt Simon Neumeyer weiter. „Einer von meinen | |
| Mitschülern war beim NPD-Parteifest und hat rechtsextreme Lieder gesungen.“ | |
| Gruselige Anekdoten reihen sich im Gespräch mit Neumeyer aneinander: Ein | |
| Polizeiausbilder soll gesagt haben, dass man „wieder gut schießen lernen | |
| muss, weil so viele Flüchtlinge im Land sind“, ein anderer Dozent habe | |
| auffällig oft das N-Wort ausgesprochen, gesagt, man könne es ja heutzutage | |
| wegen „dieser politischen Korrektheit“ nicht mehr benutzen, aber mehrmals | |
| wiederholt: die ganze Klasse habe jedes Mal gejubelt. Ein Ethiklehrer habe | |
| pauschal und abwertend über Migrant*innen geredet, er fühle sich wegen | |
| ihnen nicht mehr sicher und sehe zum Beispiel an Silvester „viel zu viele | |
| von ihnen“. | |
| Neumeyer erzählt, er habe sich aktiv Verbündete unter den 30 | |
| Polizeianwärter*innen in seiner Lehrgruppe gesucht – und einen gefunden. | |
| „Der wollte aber nur im Verborgenen mit mir reden.“ Neumeyer wurde gemobbt | |
| und brach schließlich nach neun Monaten die Ausbildung wegen seiner | |
| politischen Haltung ab. Heute studiert er in einer anderen Stadt und will | |
| mit der Polizei nichts mehr zu tun haben. | |
| Der Polizeiberuf sei vor allem für Menschen attraktiv, die wertkonservativ | |
| denken, „Recht und Ordnung“ wertschätzen und gleichzeitig sehr jung und | |
| beeinflussbar seien, sagt Dirk Baier. Er ist Leiter des Instituts für | |
| Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte | |
| Wissenschaften. „Man geht außerdem zur Polizei, um seine Männlichkeit voll | |
| und ganz auszuleben“, sagt Baier. Polizistinnen wolle er damit nicht aus | |
| der Verantwortung ziehen, die Performanz von Männlichkeit sei aber ein | |
| entscheidender Faktor mit Blick auf den Korpsgeist. | |
| ## Strukturen langsam aufbrechen | |
| „Kollegen, auf die ich mich im Einsatz verlassen muss, falle ich nicht in | |
| den Rücken. Eine kritische Feedback-Kultur steht dabei nur im Weg, weil man | |
| unter Polizisten eine Schicksalsgemeinschaft formt“, sagt Baier. | |
| Eigenständiges Denken werde so gehemmt. Die strikte Hierarchie in den | |
| Behörden sei ein strukturierender Faktor für die persönliche Entwicklung | |
| der einzelnen Beamt*innen. Existenzängste und eine Glorifizierung des | |
| Bildes der „guten Polizei“ spielen wesentliche Rollen. Diese Faktoren | |
| führen zu einer Kette von Reaktionen: weghören, nichts tun, Konfrontation | |
| vermeiden. Für Rechtsextreme mit gefestigten Glaubenssätzen, berichten | |
| Whistleblower*innen, bietet die Cop Culture ein gemütliches Umfeld. | |
| Dirk Baier sieht die viel diskutierte und von [7][Innenminister Horst | |
| Seehofer verhinderte Studie] zu Einstellungen innerhalb von deutschen | |
| Polizeibehörden kritisch. Eine solche Studie sei derzeit wenig ergiebig. | |
| „Viele Polizisten werden sich im Kontext der aktuellen Debatte verweigern | |
| oder sozial erwünschte Antworten geben.“ Besser sei ein wissenschaftlicher | |
| Blick auf Strukturen, die Cop Culture begünstigen. Der strukturelle | |
| Charakter des Problems übersteige dabei die Einflussmöglichkeiten einzelner | |
| Beamt*innen. | |
| Der Polizeiforscher Baier sieht nur eine Möglichkeit für einen | |
| Kulturwandel: „Er muss ganz oben beginnen. Horst Seehofer verhindert mit | |
| seiner Politik eine Kultur des Hinschauens.“ Es brauche innerhalb der | |
| verschiedenen Polizeibehörden dringend leitendes Personal, das kritische | |
| Diskussionen fördere. Beschwerdestellen, unabhängige Ermittlungen bei | |
| Fehlverhalten und anonymisierte Feedback-Kanäle könnten helfen, vorhandene | |
| Strukturen langsam aufzubrechen. Dieser Prozess würde laut Baier aber | |
| mindestens zehn Jahre dauern – falls er jetzt angestoßen werden sollte. | |
| 8 Oct 2020 | |
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| [6] /20-Jahre-nach-erstem-NSU-Mord/!5708112 | |
| [7] /Extremisten-in-Sicherheitsbehoerden/!5718752 | |
| ## AUTOREN | |
| Mohamed Amjahid | |
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