# taz.de -- Saskia Esken über Scholz' Nominierung: „Ich kann den Unmut verst… | |
> Saskia Esken hat Olaf Scholz erst besiegt und dann zum Kanzlerkandidaten | |
> gemacht. Ein Gespräch über Veränderung und neue Bündnisse. | |
Bild: Die SPD-Vorsitzende im Willy-Brandt-Haus, das sie 2019 mit Norbert Walter… | |
taz: Frau Esken, Teile Ihrer linken Anhängerschaft fühlen sich vor den Kopf | |
gestoßen, weil sie [1][Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten] gemacht haben. | |
Haben Sie damit gerechnet? | |
Saskia Esken: Olaf Scholz war nach der Wahl von Norbert Walter-Borjans und | |
mir zum Parteivorsitz unser erster Gesprächspartner. Wir arbeiten nicht | |
erst seit der Coronakrise mit ihm und Rolf Mützenich sehr eng und sehr | |
erfolgreich zusammen. Wir haben die Koalition verändert. Das wollen | |
vielleicht nicht alle sehen. | |
SPD-Linke wie Andrea Yspilanti waren fassungslos über diesen Coup. | |
Wer die Qualität und den Spirit unserer Zusammenarbeit mit Olaf Scholz in | |
den letzten Monaten verfolgt hat, insbesondere bei den | |
Koalitionsausschüssen, den kann unsere Entscheidung nicht überraschen. Ich | |
kann Unmut verstehen, aber den hätte es bei jeder anderen Entscheidung auch | |
gegeben. | |
Sie sind im Dezember 2019 Parteichefin geworden, weil Sie für eine linkere | |
SPD standen. Olaf Scholz hat verloren, weil er für Kontinuität stand. Wer | |
hat sich mehr bewegt: Sie oder Scholz? | |
Wir haben uns beide aufeinander zubewegt. Nicht nur wir haben uns | |
verändert, auch die Zeiten haben sich verändert. Die Beschlüsse des | |
Parteitags im Dezember 2019 – das Sozialstaatskonzept, das Finanz- und | |
Steuerkonzept – sind wegweisend für eine neue, einige SPD in einer neuen | |
Zeit. | |
Die SPD ist in der Koalition erkennbarer und linker geworden? | |
Die SPD kann ihre Konzepte deutlicher machen und durchsetzen. Nehmen Sie | |
die Austeritätspolitik in Europa, die von einer neuen Solidarität abgelöst | |
wurde. Dank der Initiative von Deutschland und Frankreich haben wir ein | |
Rettungspaket, das deutlich anders ist als das was 2008/09 gemacht wurde. | |
Das wird als Merkel-Macron-Pakt verkauft, müsste aber eigentlich | |
Scholz-LeMaire-Pakt heißen. Die haben es entwickelt. | |
Sehen Sie [2][Olaf Scholz] anders als vor neun Monaten?Ich bin ja an der | |
Spitze der SPD Quereinsteigerin oder Queraufsteigerin. Insofern hatte ich | |
vorher keinen engen Kontakt zu Olaf Scholz. | |
Aber Sie hatten ein Bild von ihm. | |
Das war eher ein mediales Bild, hat sich aus der Entfernung gespeist. Nicht | |
aus der Nähe, die wir jetzt zueinander haben. | |
Kommt er ihnen aus der Nähe sympathischer vor? | |
Wir haben Vertrauen zueinander entwickelt. Das hat schon bei den | |
Regionalkonferenzen angefangen. Klar ging es da um Wettbewerb, aber wir | |
haben in unseren Präsentationen nicht gegeneinander geworben, sondern für | |
uns und unsere Ideen. Viele Besucher der Regionalkonferenzen haben gesagt: | |
Wir gehen beseelt nach Hause, weil man das Gefühl hat: „Wir sind alle | |
Sozialdemokraten.“ Manche haben sogar gesagt: Könnt Ihr das nicht alle | |
zusammen machen? | |
Das war Basisdemokratie und Transparenz. Die Scholz-Kür war ein | |
Hinterzimmerdeal ohne Basisbeteiligung, so wie früher. | |
Norbert Walter-Borjans und ich wurden von unseren Mitgliedern | |
basisdemokratisch gewählt. Mit dieser Wahl haben wir auch das Mandat | |
erhalten, einen Vorschlag für die Kanzlerkandidatur zu unterbreiten. Dazu | |
wurden wir von den Mitgliedern beauftragt und das haben wir getan. Wir sind | |
in den letzten Wahlkämpfen, 2013 und 2017, in Kandidaturen rein gestolpert. | |
Das ist diesmal anders. | |
Ist es Ihnen schwergefallen, Scholz zu nominieren? | |
Nein. | |
Sie sind ganz und gar einverstanden damit? | |
Ja, ich bin ganz und gar einverstanden. | |
Wäre es nicht Zeit für eine Frau gewesen? Die Situation ist günstig. Merkel | |
tritt ab, die Union mit einem Mann an. Warum nicht jetzt die erste | |
SPD-Kanzlerkandidatin? | |
Wir sind davon überzeugt, dass Olaf Scholz der richtige Kandidat für diese | |
Aufgabe ist und dass er die besten Chancen hat, mit uns gemeinsam die SPD | |
zum Erfolg zu führen. | |
Hat die SPD keine fähigen Frauen? | |
Er wird diesen Erfolg nicht alleine einfahren, wir machen das als Team. In | |
diesem Team gibt es eine Menge fähiger Frauen. | |
Sie haben früh gesagt, dass sie nicht wollen. Warum? | |
Die Führung der SPD ist eine große Aufgabe. Wir wollen uns voll auf diese | |
Arbeit konzentrieren. | |
In der Union liegen Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur üblicherweise in | |
einer Hand. | |
Nicht nur in dieser Hinsicht sind wir nicht die Union. | |
Olaf Scholz ist machtbewusst. Haben Sie und Norbert Walter-Borjans sich nun | |
selbst entmachtet? | |
Der Einfluss von Norbert Walter-Borjans und mir war in den letzten Monaten | |
erkennbar. Das wird auch so bleiben. Wir haben gezeigt, dass wir als Team | |
funktionieren. Eine Kanzlerkandidatur und ein Bundestagswahlkampf müssen | |
von der Partei getragen sein. Wir können es nur gemeinsam machen. | |
Wie sieht die Aufgabenteilung im Wahlkampf aus? | |
Wir haben jetzt diese Personalie entschieden und nun den Kopf frei fürs | |
gute Regieren. Der Wahlkampf beginnt später. | |
Generalsekretär Lars Klingbeil hat doch schon angefangen, das Wahlprogramm | |
zu schreiben. | |
Das machen wir gemeinsam. Wir haben eine Programmkommission gegründet, | |
viele interessante Persönlichkeiten aus Partei und Wissenschaft eingeladen, | |
und wir werden zunächst insbesondere über die Lehren aus der Coronakrise | |
nachdenken. Wir sehen zum Beispiel, auf welchen Tätigkeiten unser Leben | |
eigentlich beruht – nicht auf den Leistungen des mittleren Managements, | |
sondern derer, die im Supermarkt die Regale einräumen. Diese Wertschätzung | |
müssen die Menschen auch an ihren Einkommen erkennen. Der Mindestlohn muss | |
deshalb 60 Prozent des mittleren Einkommens erreichen. Wir werden im | |
Herbst, wenn die Evaluation des Mindestlohngesetzes ansteht, Druck machen. | |
Ob das in der Großen Koalition gelingt, werden wir sehen. | |
Schließen Sie noch eine Große Koalition definitiv aus? | |
Olaf Scholz hat es ja gesagt: Es ist Zeit, dass die CDU sich in der | |
Opposition regeneriert. Das ist unser Ziel. Wir wollen stärkste Kraft in | |
einem progressiven Bündnis werden. | |
Das schließt die Linkspartei ein. Olaf Scholz sieht da viele offene Fragen. | |
Der SPD Bundesparteitag 2013 hat deutlich gemacht: Wir schließen eine | |
Koalition mit der Linkspartei auf Bundesebene nicht mehr aus. | |
Nicht ausschließen und machen sind zwei Paar Schuhe. | |
Schon klar. Wir haben dargelegt, dass eine unserer harten Bedingungen eine | |
verlässliche Europa-, Sicherheits- und Außenpolitik ist. Da sehen wir bei | |
der Linkspartei Klärungsbedarf. | |
Das Interesse der SPD an einem Linksbündnis ist immer geschrumpft, je näher | |
die Wahl rückte. | |
Wir werden die Fehler der vergangenen Wahlkämpfe nicht wiederholen. | |
Sie wären auch bereit, eine grüne KanzlerIn zu wählen. | |
Wir haben den Willen zum Sieg, Olaf Scholz hat deutlich gesagt: Ich will | |
gewinnen. Das wollen wir gemeinsam mit ihm. Dass es dennoch andere | |
Wahlergebnisse geben kann, ist doch logisch. | |
Sie haben schon im April eine Vermögensabgabe gefordert und sind dafür | |
verhauen worden. War das zu früh? | |
Das haben viele gesagt. Aber zu welchem Zeitpunkt wäre eine | |
SPD-Vorsitzende, die eine Vermögensabgabe fordert, dafür nicht verprügelt | |
worden? Was mir daran wichtig ist: Um die Krise zu finanzieren, wird es mit | |
der SPD keinen Abbau des Sozialstaates geben, wie es konservative Kreise | |
planen. | |
Sieht Scholz das auch so? | |
Auf jeden Fall. | |
Aber er hält am Ziel der Schwarzen Null fest. Wie passt das zusammen? | |
Ich muss widersprechen. Der Parteitag hat im Dezember festgehalten, dass | |
Deutschland einen hohen Investitionsbedarf hat: 450 Milliarden Euro | |
zusätzlich in den nächsten zehn Jahren, um eine moderne Infrastruktur zu | |
haben. Dem darf die schwarze Null nicht im Weg stehen. Diese Formulierung | |
haben wir hier im Willy-Brandt-Haus gemeinsam mit Olaf Scholz entwickelt. | |
Der Parteitag hat das so beschlossen. | |
Vor Corona stand Scholz für: „Bloß keine neuen Schulden“... | |
Die Politik des Finanzministers hat sich bereits im Koalitionsausschuss im | |
Februar zum Thema Investitionen anders dargestellt. Wir haben dort | |
gemeinsam Investitionsbedarfe eingebracht. Mangelnde Investitionen sind | |
auch eine Art von Schulden, die wir unseren Kindern hinterlassen. Diese | |
Überzeugung teilen wir mit Olaf Scholz. | |
Die Corona-Krise verstärkt Ungleichheiten, etwa in der in der Bildung. Was | |
tun? | |
Wir haben die Pflicht allen beste Bildungschancen zu gewährleisten, | |
unabhängig vom Geldbeutel der Eltern und vom Geldbeutel der Kommunen. Der | |
Bund muss deshalb die Länder unterstützen. | |
Sie haben sich diese Woche mit der Kanzlerin und Kultusministern getroffen | |
und vereinbart, dass alle Schüler Zugang zum Internet und alle Lehrer | |
Laptops erhalten sollen. Bis wann? | |
Das muss sehr schnell umgesetzt werden. Wir sind alle wild entschlossen, | |
der Sache jetzt einen Schub zu geben. | |
Sind die Schulen ansonsten gut gerüstet für die Digitalisierung? | |
Nein, deshalb muss dort noch einmal eine Schippe drauf. | |
Die Schulen öffnen gerade wieder im analogen Betrieb und zwar ohne | |
Abstandsgebot im Unterricht. Ist das falsch? | |
Ich fand das immer problematisch und würde es besser finden, die Schüler in | |
Gruppen aufzuteilen. Man könnte A- und B-Wochen anbieten und in vielen | |
Bundesländern gibt es in den Schulgesetzen auch noch den Samstag als | |
Unterrichtstag. | |
Sie wollen, dass Schüler:innen wieder Samstag zur Schule gehen? | |
Warum nicht? Drei Tage die Woche könnte die eine Gruppe zur Schule gehen, | |
drei Tage die andere. Man müsste natürlich dann mit den digital gestützten | |
Lernangeboten eine Kontinuität herstellen. Zumindest könnte man den Samstag | |
dort nutzen, wo er als Schultag bereits existiert. | |
Frau Esken, warum sehen Sie die Große Koalition so viel positiver als vor | |
einem Jahr? | |
Sie ist positiver als vor einem Jahr. Wir haben die große Koalition | |
verändert, Corona hat die große Koalition verändert. Die Regierung ist | |
handlungsfähiger geworden und stärker am handlungsfähigen Staat orientiert. | |
Vieles, was wir jetzt getan haben, wäre vor einem Jahr undenkbar gewesen. | |
Wird es nicht schwierig, wenn die SPD im Wahlkampf die große Koalition | |
lobt, sie aber auf keinen Fall fortsetzen will? | |
Die große Koalition funktioniert, wo sie repariert und reagiert. Sie | |
reagiert auf eine sehr außergewöhnliche Lage. Aber es bleiben | |
grundsätzliche Unterschiede zur Union. Die Union glaubt, die beste | |
Wirtschaftspolitik sei die Abwesenheit von Politik und Regulierung. | |
Beispielsweise hat Franziska Giffey das Gesetz über die Quote in den | |
Vorstandsetagen vorgelegt. Die Union sagt, mehr Frauen in | |
Führungspositionen seien eine Belastung der Wirtschaft. Frauen in | |
Führungspositionen sind ja wohl keine Belastung. Wir sind eine | |
Bereicherung. | |
15 Aug 2020 | |
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