| # taz.de -- Olaf Scholz und der leichte Linksruck: Von der „Roten Null“ zur… | |
| > Die Wirtschaft muss umschwenken, sagt sogar der konservative „Economist“. | |
| > Olaf Scholz, der Pragmatiker, ist dafür der richtige Kandidat. | |
| Bild: Oder, um es mit Olaf Scholz zu sagen: „Wumms.“ | |
| Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Was würden Sie denn | |
| tun?“, sagte John Maynard Keynes einmal. | |
| Vieles spricht dafür, dass wir einem tiefgehenden Paradigmenwechsel | |
| beiwohnen. „Free Money“ [1][proklamierte der Economist] unlängst auf seinem | |
| Titelblatt. Und im Innenteil dieses Quasizentralorgans der herrschenden | |
| Klassen war zu lesen: „Ein massiver Paradigmenwechsel findet im | |
| Wirtschaftsdenken statt, von jener Art, wie er höchstens einmal pro | |
| Generation vorkommt.“ | |
| Diesmal sei alles anders als nach der Finanzkrise 2008. Damals gab es | |
| schnell ein Zurück zu den neoliberalen Konzepten, auch, weil aus der | |
| Bankenkrise eine Staatsschuldenkrise wurde und daher die Propaganda | |
| verfing, der Staat müsse sparen und „unsolide Staaten“ müssten „bestraf… | |
| werden. Nach Corona wird alles anders sein: Die Staaten steuern die | |
| Wirtschaft, retten Konjunktur und Arbeitsplätze, während der private Sektor | |
| noch lange vor sich hin dümpelt. Aber dank niedriger Zinssätze und einer | |
| unbegrenzten Menge billiger Kredite werden Regierungen mit | |
| Investitionsprogrammen für viele Jahre den Takt angeben. | |
| Wen müssen Staatsschuldenstände kümmern, wenn die Regierungen die Kredite | |
| zu Negativzinsen quasi geschenkt bekommen? Bessere Spitäler, höhere Renten, | |
| ordentliche Löhne, gigantische Klimainvestitionen, Wohlstand für die | |
| einfachen Leute – alles möglich. Genauer: Alles notwendig. Aufgabe von | |
| Premiers und Finanzminister*innen ist nicht mehr, „fiskalische Disziplin“ | |
| zu verkörpern, sondern zu verhindern, dass – beispielsweise – die Eurozone | |
| in einer chronischen Depression versinkt. | |
| ## Wumms | |
| Das bemerkenswerte an diesem Economist-Schwerpunkt war: Die konservativen | |
| Macher dieses Londoner Wochenblatts begrüßen die neue Zeit. Eine | |
| Revolution. | |
| Oder, um es mit Olaf Scholz zu sagen: „Wumms.“ | |
| Früher bewegten sich Sozis traditionell nach rechts, um „wählbar“ zu | |
| werden. Olaf Scholz musste sich markant nach links bewegen, um | |
| Spitzenkandidat seiner Partei zu werden und sich die Chance auf das | |
| Kanzleramt zu sichern. Aus dem knausrigen Schwarze-Null-Scholz wurde die | |
| Zentralfigur des Keynesianismus in Europa. Das allein zeigt, wie sehr sich | |
| der Zeitgeist in der Wirtschafts- und Sozialpolitik verschoben hat. | |
| ## Never waste a good crisis | |
| Ohne diesen Paradigmenwechsel hätte es Scholz niemals schaffen können, in | |
| kurzer Zeit vom geschlagenen Vorsitzaspiranten zum Kanzlerkandidaten zu | |
| werden. Denn nur dieser Paradigmenwechsel erlaubte es ihm, sich neu zu | |
| positionieren, ohne als Wendehals dazustehen: als Finanzminister, der eine | |
| profund sozialdemokratische Wirtschaftspolitik verkörpert. „Never waste a | |
| good crisis“, Scholz hat sich entsprechend dieses alten Politikerpostulats | |
| verhalten. | |
| Die SPD hat Scholz jetzt als ihren Kanzlerkandidaten nominiert, weil er | |
| diesen Wandel des Konsenses repräsentiert – und weil sie letztendlich keine | |
| realistische Alternative zu ihm hatte. Selten war der Ausgang derart offen: | |
| Scholz kann mit der SPD so ziemlich jedes Ergebnis zwischen 15 und 35 | |
| Prozent erreichen. Kein Mensch kann Genaueres prognostizieren. | |
| Für Scholz spricht: Angesicht dramatischer Krisen wird bei den nächsten | |
| Wahlen das Sicherheitsbedürfnis der Menschen zentral für ihre | |
| Wahlentscheidung sein. Es gibt Phasen, in denen Experimente und mutige | |
| Modernisierung gewünscht sind. Und es gibt Phasen, in denen man instinktiv | |
| Stabilität und Erfahrung ersehnt. In einer solchen sind wir gerade. Scholz | |
| repräsentiert viel mehr Stabilität als Aufbruch und Change. | |
| ## With a little luck | |
| Scholz ist diesmal Mitte-links das, was Merkel bei den letzten Wahlen | |
| Mitte-rechts war: jemand, vor dem Andersdenkende wenigstens keine Angst | |
| haben. | |
| Scholz’ Achillesferse: Noch selten in der Geschichte hat ein Sozialdemokrat | |
| Wahlen gewonnen, der nicht auch Aufbruch, Change und gesellschaftliche | |
| Modernisierung verkörpert hat. Die Mehrheit wählt dann progressiv, wenn | |
| Stabilitätsversprechen und ein bisschen Erneuerungsspirit zusammenwirken | |
| plus „a little help from the Zeitgeist“. | |
| Jetzt gibt es auch viele Nörgler auf der Linken (auch in der SPD). Der | |
| Nörgler sagt so in etwa: Scholz hat mich schon vor 5, 12 oder 16 Jahren | |
| einmal enttäuscht. Zwei, vier oder sechs Dinge an ihm passen mir nicht. Der | |
| war nie richtig links! Da ist mir verlieren lieber, als mit ihm zu | |
| gewinnen! Wenn eine Person nicht zu 120 Prozent dasselbe denkt wie ich, | |
| dann bin ich gegen sie! | |
| Was der Nörgler nicht übersehen sollte: Die von ihm Kritisierten sind nicht | |
| das größte Problem der Linken. Der Nörgler selbst ist es. Ressentiment, | |
| Sektierergeist, Ich-Bezogenheit, die Unfähigkeit, an einem Strang zu ziehen | |
| und Allianzen zu schmieden und auf neue Umstände geschmeidig zu reagieren – | |
| das ist das Problem der Linken. | |
| 16 Aug 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.economist.com/weeklyedition/2020-07-25 | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
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