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# taz.de -- Leben mit Teig: Eine Welt zwischen den Fingern
> Backen ist eine uralte Kulturleistung, Teig die notwendige Voraussetzung
> dafür. Ein Blick auf den Matsch des Lebens.
Bild: Feste zubacken, wie man in Franken sagt
Teig ist ein Gemisch aus allen Aggregatzuständen, eine uralte Apparatur aus
mechanischer, chemischer und thermischer Energie. Teig ist Emotion. Mensch
trifft auf Materie, versucht sie zu formen, erfährt Scheitern, Glück. Wer
nicht schon einmal Herz oder Verstand an einen Teig verloren hat, hat nicht
gelebt.
## Multikulti-Gesellschaft mit köstlicher Blasenbildung
Auf Italienisch heißt er Madre, die Mutter aller Teige: der Sauerteig.
Wobei er an sich erst einmal ein Gärmittel ist, so wie Hefe oder
Backpulver, mit dem das Gebäck im Ofen aufgeht und fluffig wird. Der
Unterschied ist: Hefe kommt aus Zuchtanstalten, Backpulver aus der
Chemiefabrik, Sauerteig ist die reine Natur, ein Biotop, unzählige
verschiedene Hefekulturen und andere Mikroorganismen, ein Mikrobiom,
multikulti.
In Deutschland ist der Teig männlich, man nennt ihn gern Hermann. Möglich,
dass das mit Arminius zusammenhängt, Hermann dem Cherusker, siegreicher
Heerführer gegen die römischen Angreifer in der Varusschlacht im 1.
Jahrhundert. Sauerteig wird hierzulande jedenfalls als superteutonische
Sache angesehen, weil er Grundzutat für Roggen- und andere dunkelgraue
Brote ist.
Aber Hermann passt schon, denn Sauerteig ist wie ein Freund. Er kann
wochenlang im Kühlschrank schlafen, steht aber sofort bereit, wenn man ihn
braucht. Mit ein bisschen Wärme, Wasser und Mehl erwacht in ihm ein
glucksendes Leben, und nach ein paar Tagen ist er gefräßig und aktiv genug
für einen richtigen Teig, ob Brot, Pizza oder Rührkuchen. Gibt man ihm 12
bis 24 Stunden Zeit, muss man nicht mal viel kneten. Die
Multikulti-Gesellschaft macht sich von selber locker und elastisch. Sie
bildet zwar Blasen – aber hier bitte keine Parallelen zur
Social-Media-Kultur ziehen! Beim späteren Aufbrechen sind es nämlich vor
allem die großen Löcher, die den Duft freisetzen. Sauerteigblasen, die
köstlichsten Bubbles, die es gibt. Jörn Kabisch
## Mein Herz, abgebrannt am Topfboden
Raffinierte Backkunst offenbart sich im Brandteig. Angebrannt bin ich,
seitdem uns eine Nachbarin im Urlaub vor etlicher Zeit einen Teller voller
selbstgemachter Profiteroles vor die Tür stellte – kleine Teigknubbel mit
einer Vanillecreme und Schokosauce. Da verbietet sich jeder Vergleich mit
den Teigschluffis aus den Cafés, die ich sonst aus dem Türkeiurlaub kannte.
Der Teig der Nachbarin schmeckte leicht und elegant und nach Paris,
Istanbul und Rom gleichzeitig.
Bis dahin, und zwar seit ich 15 war, hatte ich einfach fertige Schokoböden
aufgetürmt und bastelte mit Sahne und Kirschen ein Schwarzwälder Dingsbums.
Wie wow und anders jedoch ist Brandteig: Wasser mit Butter gekocht und Mehl
rühren, bis der Kloß am Kochtopfboden einer Weltkugel ähnelt. Man „brennt�…
den Teig so vor. Ist er handwarm, kommen die Eier, und alles muss am Ende
die Farbe von einem kitschigen Sonnenaufgang haben, denn ab da geht der
Teig auf Reisen. Denn bitte, wo gibt es in Deutschland schon goldgelbe
Churros, ausgebacken und mit Zucker bestreut? Dafür nach Spanien? Jetzt?
Dann lieber selber backen.
Schlimmer gelüstet es nach Tulumba, den kleinen, knuffigen Verwandten der
Churros, die, in Öl gebacken und in Zuckersirup getränkt, aufgetürmt in den
Auslagen von Geschäften in Gässchen oder lautbunten Straßen der Levante zu
bekommen sind. Beim Reinbeißen bleiben die Augen bitte fest zu. Nur so
vergisst das von Fernweh gekränkte Herz für eine kurze Sekunde, dass man
nicht am Meer sitzt, sondern in der heimischen Küche [1][während einer
Pandemie]. Ebru Tașdemir
## Der grantige, jammerlappige Familientyrann
Ob wir morgen Pizza machen wollen, fragst du. Nicht von ungefähr, denn
heute geht das nicht mehr. Will der Teig die Nacht über doch ruhen, dann
mehrfach geknetet werden und zwischendurch immer wieder gehen. Ein Wunder,
dass ich mir nicht den Wecker in der Nacht stellen muss, um ihm ein
Wiegenlied zu singen. Als Kind hatte ich ein wenig Angst vor Hefeteig. Mich
beunruhigte das Unheimliche der – dem Augenschein nach – toten Materie, die
sich bewegt, ausdehnt, blubbert. Später war ich genervt von der
mimosenhaften Masse. Auf Zehenspitzen durch die Küche schleichen musste
ich, ja keinen Durchzug provozieren, am besten nicht einmal laut sprechen.
Manchmal habe ich den Verdacht, dass die Familie den Teig nur als Vorwand
benutzte, um mich ruhigzustellen.
Ich habe selber keine Kinder. Wozu auch, ich hab ja Hefeteig: Total
schlicht gestrickt ist er, dabei aber anspruchsvoll bis hin zur
Jammerlappigkeit. Zart soll man mit ihm umgehen, aber gleichzeitig braucht
er eine harte Hand. Schnell ist er gemacht und verlangt dann doch unendlich
viel Geduld. Der Teig spürt es, wenn man nicht an ihn denkt. Wird grantig,
lässt sich nur schwer ausrollen und in Form bringen. Er reißt dann aus, das
undankbare Miststück. Der Vergleich mit den Kindern übrigens endete
irgendwo vor ein bis drei Sätzen, liebe Eltern. Stellen Sie die Fackeln und
Mistgabeln also wieder weg. Dann verrate ich Ihnen auch das Geheimnis für
eine richtig gute Pizza: die Soße nämlich. Aber das ist natürlich eine
gänzlich andere Geschichte. Daniél Kretschmar
## Wenn die rohe, unveredelte Gier dich packt
Dass Plätzchenteig nie roh verzehrt werden soll, ist als Norm so
willkürlich wie traditionsfolgsam, ebenso wie die Vorstellung, dass er in
der Sommerzeit nichts verloren hat. Emblem für die Engstirnigkeit deutscher
Tut-man-nicht-Kultur. Aber Kinder haben ja noch keine großen Ängste, mit
unpassendem Verhalten aufzufallen. Sie nehmen eklige dicke Käfer in ihre
Grapschhände und drücken zu, kreischen auf der Straße, kacken mit offener
Klotür und greifen gierig nach rohem Plätzchenteig.
Dass das abscheulich ist, wird erst im Grundschulalter erlernt werden,
natürlich rational unterfüttert: Hygiene (Salmonellen), Wohlbefinden
(Bauchweh), Belohnungsaufschub („Warte, bis es fertig ist!“). Schamvoll
verleibt man sich rohen Teig also heimlich ein. Der Glaube, dass „man ist,
was man isst“, hält sich schrecklich hartnäckig, und drum macht die Lust
aufs Eklige, dass man sich schämt.
Aber ist es so seltsam, Zutaten gerne in ihrem ursprünglichen, unveredelten
Zustand zu erschmecken? Der Zucker kristallig, die Butter cremig-schmierig.
Rohen Teig zu verschlingen – nicht zu essen, das wäre zu zivilisiert – hat
etwas Archaisches und wunderbar Unerwachsenes, entzieht sich dem Diktat der
Vernunft. Ähnlich wie rohes Hackfleisch fressen oder in der Nase popeln. Es
geht um Befriedigung der sinnlichen Neugier, Erkundungsdrang – Wissen
wollen wider besseres Wissen. Zum Glück gibt es im Kapitalismus Anreize für
Unternehmen, Vorlieben zu enttabuisieren, einfach weil es einen Markt gibt.
Ich empfehle die Eissorte „Cookie Dough“. Sunny Riedel
11 Aug 2020
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746/
## AUTOREN
Jörn Kabisch
Ebru Tasdemir
Sunny Riedel
Daniél Kretschmar
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