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# taz.de -- Entgrenzung in der Coronakrise: Der Dampf muss abgelassen werden
> Die Borniertheit gegenüber Volksbelustigungen wie am Ballermann steigt.
> Man kann aber eine Bevölkerung nicht dauerhaft zur „Vernunft“ zwingen.
Bild: Die Borniertheit gegenüber Volksbelustigungen steigt in alarmierendem Au…
Es gibt viele Freizeitaktivitäten, auf die ich ohne jedes Bedauern für den
Rest meines Lebens verzichten kann. Der Besuch der Stehkurve eines
Fußballstadions gehört dazu oder der eines Heavy-Metal Festivals, etwa in
[1][Wacken]. Es zieht mich auch nicht an den Ballermann, und ich komme gut
ohne Karneval klar. Massenveranstaltungen sind einfach nicht mein Ding.
Waren sie übrigens nie, auch nicht, als ich 20 war.
Aber das ist doch nur eine Beschreibung meiner Persönlichkeit, kein
Verdienst, auf das ich Grund hätte, stolz zu sein. In den letzten Wochen
scheint mir bei diesem Thema jedoch einiges durcheinanderzugeraten. Die
Herablassung, sogar Verachtung, mit der auf Leute geblickt wird, die ein
körperliches Gemeinschaftsgefühl mit vielen anderen dringend brauchen,
könnte mich zu einem illegalen Rave auf der [2][Hasenheide] in Berlin
treiben. Nicht, weil ich mich da wohl fühlen würde. Sondern schlicht aus
wütender Solidarität heraus.
## Schunkeln im Dunkeln
Ich unterstelle mal: Die allermeisten Leute, die sich politisch, fachlich
oder publizistisch mit Corona befassen, mögen Abendessen zu viert oder
sechst lieber als Schunkeln im Dunkeln. Deswegen sind sie Virologe,
Kolumnistin oder Bundeskanzlerin geworden und nicht Animateure. Ist ja
recht so. Aber es ist eben auch legitim, schunkeln zu wollen.
[3][„Denn ich will, dass es das alles gibt, was es gibt“], sang Andre
Heller schon vor Jahren. Da konnten früher auch Liebhaber der gepflegten
Gastlichkeit im kleinen Rahmen mitgehen. Wollen sie das noch? Ich habe
Zweifel. Die Borniertheit gegenüber Volksbelustigungen steigt in
alarmierendem Ausmaß.
Es gibt einen nennenswerten Teil der Gesellschaft, der mindestens ein- oder
zweimal im Jahr die Sau rauslassen will oder muss, um in der übrigen Zeit
brav zu funktionieren. Wer die Teilnehmer der Sauforgien am Ballermann
genau anschaut, stellt fest: Die allermeisten reisen ohne Partnerin oder
Partner an. Was nicht bedeutet, dass sie unverheiratet wären oder keine
unmündigen Kinder zu Hause hätten. Sondern nur: dass sie sich einige Tage
lang „danebenbenehmen“ wollen. Ein uraltes Bedürfnis.
Die katholische Kirche, die menschliche Schwächen seit jeher besser kannte
als die meisten Verwaltungsangestellten in staatlichen Institutionen, hat
sich deshalb schon seit Jahrhunderten mit Fasching, Karneval, Fastnacht und
ähnlichen Bräuchen arrangiert. Augenzwinkernd, durchaus mit Sympathie. Wohl
wissend, dass die organisierte Entfesselung ihre Macht eher festigte als
schwächte.
Das Wissen darum scheint verloren gegangen zu sein. Auf den Wunsch nach
einem Ventil reagiert das sich selbst für vernünftig haltende Establishment
mit unfassbarer Arroganz. Wie blöd sind die denn alle, echauffiert sich das
Bildungsbürgertum, dass sie die Abstandsregeln nicht einhalten. So, aber
nein: so, so verantwortungslos.
Wer blöd ist, sind die, die so reden. Zu glauben, man könne eine
Gesellschaft dauerhaft zur „Vernunft“ zwingen, ist äußerst unvernünftig.
Irgendwo muss Dampf abgelassen werden. Und wenn das legal nicht geht, dann
wird eben nach illegalen Wegen gesucht. Wonach denn sonst.
Es gibt einige wenige Versuche, dieser Erkenntnis Rechnung zu tragen. Die
Hamburger Linken wollen große, öffentliche Plätze wie das Heiligengeistfeld
attraktiv für junge Leute gestalten, um Orte wie das Schanzenviertel in der
Hansestadt zu entlasten. Wo sich abends derzeit ständig die Massen drängen.
Kann ja sein, dass das naiv ist. Mag sein, dass es nicht funktioniert. Aber
es ist doch sehr, sehr schön, dass einige Leute wenigstens anfangen, sich
Gedanken zu machen. Dann muss ich vielleicht doch nicht zur Hasenheide.
1 Aug 2020
## LINKS
[1] https://www.wacken.com/
[2] /Illegale-Raves-in-Berlin/!5694831/
[3] https://www.youtube.com/watch?v=4KfUOc0cNVI
## AUTOREN
Bettina Gaus
## TAGS
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