# taz.de -- Fastnacht in Mainz: Helau again! | |
> Wir Mainzer sind hochbegabt, aber nicht tiefgründig. Weltoffen, aber erst | |
> nach dem Essen. Und die Fastnacht ist heute viel sozialdemokratischer. | |
Bild: Das Publikum ist begeistert – Aufzeichnung der Sendung „Mainz bleibt … | |
Ich will es liebevoll ausdrücken: Mainz ist eine Stadt mit geringem | |
Ehrgeiz. Ein echter Mainzer weiß genau, wie wichtig das Verhältnis ist | |
zwischen Arbeit und Belohnung. Die Kunst liegt für uns darin, gerade genau | |
so viel zu tun, dass es für ein genügsames und gutgelauntes Leben reicht. | |
Wir singen gerne, wir tanzen, soweit das medizinisch noch angezeigt ist, | |
wir sind Profis im Feiern. | |
Fast schon von südländischer Leichtigkeit ist das rheinhessische | |
Temperament, wenngleich wir wegen der meist fetten „deutschen“ Speisen | |
(Fleischwurst, Spundekäs und viel Laugengebäck) und kalorienhaltigen | |
Getränke zur Adipositas neigen. Meine Mutter geht sogar so weit in ihren | |
Empfindungen, dass sie Männer mit Bäuchen jenen ohne Gewichtsprobleme | |
zeitlebens vorgezogen hat. Das hat auch bei mir zu einer sehr kompakten | |
Figur geführt – ich wollte sie nicht enttäuschen. | |
Aber was ist schon eine gewisse Antrittsschwäche gegen die unschlagbar | |
originelle Idee der Rheinhessen, der Mainzer, die mental anfällige Phase | |
zwischen Neujahr und Fastenbeginn mit [1][einem rauschenden | |
Verkleidungsfest und Massenbesäufnis] zu verkürzen? Einfach zu den | |
anerkannten vier Jahreszeiten noch eine fünfte dranhängen! Die Fastnacht | |
als Sprungbrett in den Frühling! Immer vorausgesetzt, dass man die | |
närrischen Tage, insbesondere die in der Schlussphase aufreibenden | |
Straßen-Einsätze, unverletzt, ohne Klinikaufenthalt überlebt. | |
Fest steht, der gute und routinierte Fastnachter ist ein Mensch, der auch | |
einen Sinn hat für Humor, Paarreime und Gerechtigkeit. Die erfolgreichsten | |
Büttenredner – es gibt bis heute keine Frau, die sich im politischen | |
Vortrag einen Namen machen konnte – waren immer Männer, die sehr | |
bodenständige, lustige Typen waren und dabei dem Volk exzellent aufs Maul | |
schauen konnten. Frauen waren akzeptiert als Funkenmariechen, Prinzessin | |
oder Balletttänzerinnen. Von einer Trendumkehr kann man noch nicht | |
sprechen. | |
Die Ursprünge der Mainzer Fastnacht reichen, wenn ich richtig informiert | |
bin, zurück bis ins 15. Jahrhundert. Hier wird erstmals berichtet von einem | |
„unorganisierten Volksfest mit Maskerade, Essen, Trinken, Tanzen an Tag und | |
Nacht“. Daran hat sich bis heute wenig geändert, wenn man von diesem | |
verunglückten Jahr absieht. | |
Die politische, gesellschaftssatirische Fastnacht hat sich im Laufe der | |
letzten sieben Jahrzehnte verändert. Sie ist heute „linker“, sie ist | |
sozialdemokratischer, mindestens aber mittiger geworden, als sie es noch zu | |
Zeiten von Rolf Braun und seinem Dienstherrn in der Staatskanzlei, Helmut | |
Kohl, war. Diese Entwicklung ging aber nicht zwingend von den Rednern aus, | |
sondern mindestens genauso stark vom närrischen Volk. | |
## Witze über Randgruppen bringen Buhrufe | |
[2][Witze auf Kosten von Randgruppen], homophoben Stumpfsinn gibt es sicher | |
noch vereinzelt in Vorortssitzungen, aber in der Fernsehfastnacht, vor | |
einem bürgerlich-aufgeklärten „Mainz bleibt Mainz“-Publikum wird der Redn… | |
dafür durch Buhrufe gestraft. Vermutlich ist es der Länge und Breite des | |
Rheins und einem gewissen Hang zum Pragmatismus zu verdanken, dass Mainz | |
sich diese Offenheit und Toleranz leisten kann. | |
Die Mainzer*innen wissen genau, wie das mit dem Pluralismus geht, aber | |
sie verlieren schnell die Lust daran. Wenn etwas zu kompliziert wird, dann | |
setzen sich ein paar Männer (!) zusammen und „wurschteln“ – sie handeln | |
einen Deal aus, mit dem alle mehr oder weniger gut leben können. | |
(„Handkäs-Mafia“) | |
Wir Mainzer leben für den Moment, die Zukunft kann kommen, aber sie darf | |
uns auch nicht zu viel abfordern, sonst bleiben wir stur und geben | |
Widerworte. Am Beispiel des Gutenberg-Museums, der unendlichen Geschichte | |
der Rathaus-Sanierung und diverser Großbaustellen geriet diese | |
Verschleppungs- und Verzögerungshaltung zu einer jahrzehntelangen | |
städtebaulichen Groteske, die – im worst case (fast hätte ich „Wurst Käs… | |
geschrieben) – zu einem geschmacklichen und finanzpolitischen Desaster | |
geführt hat. | |
Um es noch mal klar zu sagen: Wir Mainzer sind hochbegabt, aber nicht | |
tiefgründig. Wir sind weltoffen, aber erst nach dem Essen, wir sind | |
empathisch und so nah am Wasser gebaut wie die US-Senatoren in Washington, | |
aber was uns wirklich zu etwas Besonderem macht: Wir sind nach ein paar | |
Schlückchen Wein wahnsinnig begeisterungsfähig, und wer unsere Liebe, | |
unsere Leidenschaft spürt, der muss auch sofort weinen und Wein trinken. | |
## Gegen Hetze war immer Verlass auf diese Stadt | |
Das kann man spüren bei jedem kabarettistischen Auftritt im „Unterhaus“, | |
aber vor allem, wenn man als Redner in die Bütt geht [3][in der „Mainz | |
bleibt Mainz“-TV-Sitzung]. | |
Immer wenn es wichtig war, sei es die Flüchtlingspolitik 2015, die | |
Unappetitlichkeiten der AfD oder die rechtsextremistischen Terroranschläge | |
auf Mitbürger*innen 2020, wenn ich Sätze gesprochen habe voller Wut, | |
über Dinge, die mir wichtig waren, gegen Rassismus, gegen Ausgrenzung und | |
Hetze, da war immer Verlass auf diese Stadt, da ging ein Ruck durch das | |
Schloss, da stehen die Mainzer wie eine Wand gegen das Unrecht. | |
Die fast vollständige Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg ist uns bis | |
heute eine bittere Lehre geblieben. Nie wieder Faschismus – Fastnacht für | |
immer! | |
7 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Lars Reichow | |
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