| # taz.de -- Corona in Deutschland: Noch keine Panik | |
| > Bislang kam Deutschland relativ gut durch die Pandemie, doch jetzt gibt | |
| > es wieder mehr Corona-Infektionen. Sind wir für eine zweite Welle | |
| > gerüstet? | |
| Bild: Die Zahl der Infizierten steigt schneller als die Coronatests | |
| Die Stadt Heide, im Westen Schleswig-Holsteins unweit der Nordsee gelegen, | |
| ist gefühlt schon wieder zurück im Frühling. Wie damals, im März, April und | |
| Mai, gelten für die rund 20.000 Einwohner*innen ab sofort wieder strenge | |
| Kontaktregeln. Die Allgemeinverfügung des Landrats ist unmissverständlich: | |
| „Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nur allein, in Begleitung von im | |
| selben Haushalt lebenden Personen und einer weiteren Person gestattet.“ | |
| Treffen in Gruppen, Familienfeiern oder gar öffentliche Veranstaltungen: | |
| verboten. | |
| In Heide und dem umliegenden Kreis Dithmarschen hatten die Behörden zuletzt | |
| innerhalb von sieben Tagen 44 Corona-Neuinfektionen registriert. Die | |
| Ansteckungen gingen offenbar von Familien aus, die zuvor ihren Urlaub in | |
| Schweden und auf dem Balkan verbracht hatten. Mit mindestens 26,3 Fällen | |
| pro 100.000 Einwohner ist der Kreis derzeit einer der Coronaschwerpunkte | |
| der Republik – und gleichzeitig sinnbildlich für die Entwicklung im Rest | |
| des Landes. | |
| Schon zwei Wochen in Folge melden die Gesundheitsämter dem | |
| Robert-Koch-Institut [1][erhöhte Infektionszahlen]. 902 Neuinfektionen | |
| waren es deutschlandweit am Donnerstagmorgen, 870 am Freitag. Noch bis | |
| Mitte Juli hatten diese Werte selten über 500 gelegen. Zwar ist seitdem | |
| auch die Zahl der Coronatests gestiegen, allerdings nicht so schnell, dass | |
| sich der Anstieg bei der Infiziertenzahl allein damit erklären ließe. | |
| Noch ist die Situation beherrschbar. Die Lage ist nicht vergleichbar mit | |
| dem Frühjahr, als die Behörden an manchen Tagen Tausende Neuinfektionen | |
| registriert hatten. Das Robert-Koch-Institut ist trotzdem beunruhigt. „Eine | |
| weitere Verschärfung der Situation muss unbedingt vermieden werden“, heißt | |
| es im aktuellen Situationsbericht der obersten Gesundheitsbehörde. Wichtig | |
| sei jetzt, dass sich die Bevölkerung weiterhin an die gängigen | |
| Hygieneregeln halte. | |
| ## Eine Mehrheit für die Maske | |
| Immerhin: Die Akzeptanz dieser Regeln scheint weiterhin hoch zu sein. Das | |
| dokumentiert die jüngste repräsentative Umfrage durch Wissenschaftler*innen | |
| der Universität Erfurt, die am Donnerstag veröffentlicht wurde. Eine große | |
| Mehrheit (89,2 Prozent) gab an, in der letzten Woche häufig oder immer eine | |
| Alltagsmaske benutzt zu haben, 83,8 Prozent erklärten, sich häufig oder | |
| immer 20 Sekunden lang die Hände zu waschen, und 85,5 Prozent sagten, | |
| häufig oder immer 1,5 Meter Abstand zu halten. Frauen verhalten sich dabei | |
| tendenziell verantwortungsbewusster als Männer, Ältere handeln sorgfältiger | |
| als Jüngere. | |
| Bei solchen individuellen Vorsichtsmaßnahmen im Alltag wird es aber nicht | |
| bleiben. In der kommenden Woche kommt wohl die Testpflicht an Flughäfen. | |
| Wer aus einem der rund 140 Länder einreist, die die Bundesregierung als | |
| Risikogebiete einstuft, muss direkt nach der Landung einen Abstrich | |
| abgeben. Seit Freitag stehen auf der Risikoliste auch die drei | |
| nordspanischen Regionen Katalonien, Aragón und Navarra, wo die Coronazahlen | |
| zuletzt bedenklich gestiegen waren. Und wer aus einem Nichtrisikoland | |
| einreist, darf sich ab Samstag zumindest kostenlos beim Hausarzt testen | |
| lassen. Eine entsprechende Verordnung hat Gesundheitsminister Jens Spahn am | |
| Donnerstag unterzeichnet. | |
| Ob die Sorge, dass sich Urlauber*innen im Ausland massenhaft mit dem | |
| Virus infizieren könnten, berechtigt ist? Bisherige Statistiken liefern | |
| keine eindeutigen Belege dafür. Nur ein kleiner Teil der neuen Ansteckungen | |
| geht bislang auf Reisende zurück. Das Robert-Koch-Institut hat sich | |
| sämtliche 7.977 erfassten Neuinfektionen zwischen Ende Juni und Ende Juli | |
| angeschaut. Unter Rückkehrer*innen aus Spanien wurden gerade einmal 17 | |
| Personen positiv getestet. Die meisten infizierten Rückkehrer*innen, | |
| nämlich 303, kamen aus dem Kosovo. Dahinter folgen Serbien (242) und die | |
| Türkei (70). Der Großteil der Infizierten, nämlich 6.809, hat sich in | |
| Deutschland angesteckt. | |
| Der untersuchte Zeitraum umfasst allerdings nicht die Hauptreisezeit. Die | |
| ging in Baden-Württemberg und Bayern erst mit dem Start der Sommerferien | |
| vergangene Woche los. In Berlin, wo die Sommerferien übernächste Woche | |
| enden und viele Urlauber*innen bereits zurückgekehrt sind, hat sich laut | |
| einem Bericht im Tagesspiegel jeder neunte Corona-Infizierte im Ausland | |
| angesteckt. Ähnlich hoch ist der Anteil in Nordrhein-Westfallen, wo die | |
| Ferien ebenfalls demnächst enden. Ganz problemlos sind die Reiseaktivitäten | |
| also auch nicht. | |
| Damit stecken auch Kultusminister*innen in der Zwickmühle. Ausgerechnet | |
| jetzt, wo die Infektionszahlen wieder steigen, enden in den ersten | |
| Bundesländern die Sommerferien. Viele Schüler*innen werden kurz nach ihrem | |
| Sommerurlaub zurück in die Klassenzimmer kommen. Von einer Rückkehr zum | |
| normalen Schulbetrieb – wie es die Länder Mitte Juni noch als Ziel | |
| formuliert hatten – ist derzeit nirgends die Rede. Im Gegenteil. So mahnte | |
| Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) am Dienstag bei der Vorstellung | |
| seines „modifizierten“ Hygieneplans, „die wertvolle Zeit“ bis zu den | |
| Herbstferien zu nutzen. Man wisse schließlich nicht, wie lange die | |
| Schüler*innen wieder alle zusammen im Unterricht lernen dürften. Noch | |
| klarer formulierte es die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) | |
| in einem Eltern-Rundschreiben: „Es kann sein, dass es an Ihrer Schule in | |
| diesem Schuljahr ‚ruckelt‘, die Pandemie wieder mehr Lernen zu Hause oder | |
| im Notfall sogar die zeitweise Schließung von einzelnen Klassen oder | |
| einzelnen Schulen notwendig macht.“ | |
| Die Befürchtung, dass sich das Coronavirus mithilfe der Schulen rasend | |
| schnell ausbreiten könnte, ist in den Kultusministerien groß. Einen | |
| Schichtbetrieb mit geteilten Klassen wie vor den Ferien wollen sie aber | |
| tunlichst vermeiden. Der organisatorische Aufwand war immens, das Personal | |
| knapp. Viele Eltern waren frustriert, dass ihr Kind nur wenige Stunden in | |
| der Woche in die Schule durfte. | |
| Der Mittelweg für das neue Schuljahr: Regelunterricht mit allen Fächern und | |
| Stunden – aber mit erweiterten Schutzmaßnahmen: So statten etwa Bremen und | |
| Hamburg ihre Schulen mit Schutzvisieren und FFP2-Masken aus. In vielen | |
| Bundesländern dürfen sich Lehrer*innen auch ohne konkreten Verdacht testen | |
| lassen. Und auch die Abstandsregeln werden nur im Klassenzimmer aufgehoben. | |
| Auf dem Schulgang oder im Pausenhof gelten sie noch. In Ländern wie Berlin | |
| und Bayern müssen Schüler*innen dort auch Masken tragen. | |
| ## Neue Erkenntnisse | |
| Eine Garantie bietet aber keine der Maßnahmen, weder die an den Schulen, | |
| noch die an den Flughäfen oder im Alltag. Dass eine zweite Coronawelle | |
| kommt, mit Infektions- und Todeszahlen wie im Frühjahr, lässt sich nicht | |
| komplett ausschließen. Doch immerhin: Neue Erkenntnisse aus der ersten | |
| Welle deuten darauf hin, dass das Gesundheitssystem auch in diesem Fall | |
| nicht an seine Grenzen käme. Im Fachmagazin The Lancet Respiratory Medicine | |
| veröffentlichten Wissenschaftler*innen der Technischen Universität Berlin, | |
| der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und | |
| Notfallmedizin (Divi) und des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (Wido) | |
| Mitte dieser Woche eine umfangreiche Datenanalyse. | |
| Sie gibt erstmals bundesweit und repräsentativ Aufschlüsse darüber, wie | |
| lange Coronapatient*innen im Frühjahr durchschnittlich im Krankenhaus | |
| behandelt wurden – und mit welchem Erfolg. Demnach starb etwa ein Fünftel | |
| derer, die zwischen Ende Februar und Mitte April stationär aufgenommen | |
| wurden. | |
| Die große Befürchtung aber, dass die Intensivstationen den vielen | |
| Infizierten womöglich nicht gewachsen sein könnten und dass deswegen gar | |
| zwischen Patient*innen triagiert werden müsse, hat sich nicht bestätigt: | |
| „Wir können davon ausgehen, dass in Deutschland alle Patienten beatmet | |
| werden konnten, bei denen das therapeutisch notwendig erschien“, sagt | |
| Christian Karagiannidis, Sprecher der Divi-Sektion „Lunge – | |
| Respiratorisches Versagen“. Zu jedem Zeitpunkt der Pandemie hätten genügend | |
| freie Intensivbetten zur Verfügung gestanden. | |
| Durchschnittlich 14 Tage mussten Covid-19-Patient*innen im Krankenhaus | |
| behandelt werden. Wer beatmet werden musste, lag im Schnitt 25 Tage in der | |
| Klinik, 14 davon am Beatmungsgerät. Reinhard Busse, Professor für | |
| Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin, hat anhand der Zahlen | |
| ausgerechnet: Pro 100 stationär behandelten Patient*innen fielen | |
| durchschnittlich 240 Beatmungstage an. | |
| Die Erkenntnisse, so Busse, seien nützlich, um sich bestmöglich auf eine | |
| etwaige zweite Welle vorzubereiten. Grund zur Panik sieht er nicht: | |
| „Bezüglich der normalen Krankenhausbetten ist auch bei hohen | |
| Infektionszahlen überhaupt kein Problem zu erwarten.“ | |
| 31 Jul 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html | |
| ## AUTOREN | |
| Heike Haarhoff | |
| Felix Lee | |
| Ralf Pauli | |
| Tobias Schulze | |
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