| # taz.de -- Mikis Theodorakis wird 95: Dennoch lieben wir ihn | |
| > Als das Militär in Griechenland putschte, brachten Lieder von Mikis | |
| > Theodorakis Kampfgeist in jeden Winkel. Am 29. Juli wird er 95 Jahre alt. | |
| Bild: Mikis Theodorakis bei einem Konzert 1977 in Göttingen | |
| Griechisches Urgestein, musikalisches Genie, lebende Legende, Volksheld, | |
| Opportunist und auch Verräter – Theodorakis hat im Laufe seines langen | |
| Lebens zahlreiche Betitelungen verpasst bekommen. Musikalisch gilt er | |
| unangefochten als Genie – doch sein politisches Engagement hat ihn immer | |
| wieder in die Kritik gebracht. Am Mittwoch wird er 95 Jahre alt. | |
| Theodorakis wird am 29. Juli 1925 auf der Insel Chios geboren. Seine Mutter | |
| Aspasia stammt aus Cesme in Kleinasien, der heutigen Türkei. Sie floh im | |
| Jahr 1922 im Zuge der kleinasiatischen Katastrophe nach Chios. Dort lernte | |
| sie Giorgos Theodorakis kennen. Er kommt aus Galatas bei Chania auf Kreta | |
| und arbeitet im Staatsdienst als Präfekt. | |
| Die Familie muss in ganz Griechenland herumziehen, weil der Vater immer | |
| wieder woanders stationiert wird. Das macht es schwer für den kleinen | |
| Mikis. Immer wieder muss er sich umgewöhnen, sich neue Freunde suchen. Er | |
| findet Trost in der Musik – bereits im Kindesalter zieht er sich oft zurück | |
| und komponiert. | |
| ## Kampf gegen deutsche Besatzer | |
| Mit 18 Jahren geht er nach Athen und schreibt sich zum Kompositionsstudium | |
| ein. Um sich zu finanzieren, arbeitet er in Piräus als Transportarbeiter. | |
| Er lernt seine spätere Frau Myrto kennen. [1][Griechenland ist zu der Zeit | |
| bereits von den Deutschen okkupiert]. Theodorakis schließt sich der | |
| griechischen Befreiungsarmee an und kämpft nachts gegen die Besatzer. | |
| Dennoch schafft er sein Studium in vier Jahren. | |
| Nachdem Griechenland den Zweiten Weltkrieg überstanden hatte, erschüttert | |
| ein Bürgerkrieg das Land. Er wütet über drei Jahre und reißt eine tiefe | |
| Schlucht zwischen Linke und Rechte. Theodorakis ist gerade mal 22 Jahre alt | |
| und kämpft erneut aufseiten der Linken. 1947 wird er gefangen genommen und | |
| in das berüchtigte Lager Makronisos gebracht. Er übersteht psychische und | |
| physische Folter. Sein Rettungsanker ist wieder das Komponieren. 1949 | |
| schafft es sein Vater, ihn zu befreien. Theodorakis erholt sich für einige | |
| Zeit auf Kreta. | |
| Mitte der 50er Jahre ziehen er und Myrto nach Paris. Theodorakis hat ein | |
| Stipendium für ein Aufbaustudium am Konservatorium in Paris bekommen. Dort | |
| lehren Größen wie der Komponist und Organist Olivier Messiaen. Myrto ist | |
| bereits Ärztin und will in Paris ihren Facharzt in Radiologie antreten. Das | |
| Paar fühlt sich zum ersten Mal wieder wirklich sicher. Doch trotz aller | |
| Freiheit zieht es den Komponisten einige Jahre später in seine Heimat | |
| Griechenland zurück. Ihn stört das oft elitäre Gehabe der Pariser | |
| Musikszene. Theodorakis will sich – auch musikalisch – wieder auf | |
| griechischen Boden begeben. | |
| ## Kleine Kulturrevolution | |
| 1960 kehrt er zurück nach Athen und löst fast eine kleine inländische | |
| Kulturrevolution aus. Denn er vertont Texte großer griechischer Lyriker, | |
| wie des Kommunisten Jannis Ritsos oder der Nobelpreisträger Odysseas Elytis | |
| und Giorgos Seferis, mit einer Bouzouki. Das bauchige Saiteninstrument gilt | |
| in Griechenland zu der Zeit noch als vulgär und ist eher ein Instrument der | |
| Unterschicht. Den Liedtext überlässt Theodorakis einem nicht ausgebildeten | |
| Sänger. Viele Griechen sind empört. Aber der Komponist lässt sich nicht | |
| beirren. Er vertont weitere Gedichte mit Populärmusik. Damit schafft er es, | |
| dass fast ein ganzes Volk die Texte seiner großen Dichter auswendig kennt. | |
| Die Lieder gehören heute zum Bestandteil der griechischen Volkskultur. | |
| Auch Texte des Schriftstellers und Dichters Iakovos Kambanellis vertont | |
| Theodorakis. Kambanellis ist im Zweiten Weltkrieg vor den Deutschen aus | |
| seiner Heimat Griechenland geflüchtet, wurde aber in Österreich verhaftet. | |
| Er kam in das Konzentrationslager Mauthausen. Seine Gedichte erzählen vom | |
| Leid der Gefangenen. Theodorakis – selbst Verfolgter und Folteropfer von | |
| Faschisten – [2][komponiert daraus seine Mauthausenkantate], um die | |
| Schrecken der Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. | |
| Theodorakis wird mit seinen Kompositionen immer bekannter. Doch im April | |
| 1967 putscht sich das Militär an die Macht. Die kämpferischen und | |
| sozialkritischen Texte, die Theodorakis mit seinen Liedern in jeden Winkel | |
| des Landes bringt, sind der Junta ein Dorn im Auge. Unter Androhung von | |
| Gefängnisstrafe wird seine Musik verboten. Theodorakis ist zu dem Zeitpunkt | |
| Abgeordneter für die Vereinigung der Demokratischen Linken und Kopf einer | |
| linken Jugendbewegung. Er muss untertauchen. | |
| ## Verbannung und Haft | |
| Viele Künstler im Ausland machen auf die Situation in Griechenland | |
| aufmerksam, indem sie die Lieder von Theodorakis singen. Theodorakis selbst | |
| sitzt in Griechenland fest. Er wird verhaftet und wieder gefoltert. Durch | |
| den internationalen Druck von Kunstschaffenden und Intellektuellen kommt er | |
| aus dem Gefängnis heraus, wird aber in ein abgelegenes Bergdorf verbannt. | |
| Er darf seine Frau und seine beiden Kinder mitnehmen und künstlerisch aktiv | |
| sein. Und so schreibt Theodorakis weiter Protestlieder gegen das | |
| Militärregime. | |
| Der störrische Komponist wird daraufhin ins Gefangenenlager Oropos, | |
| nördlich von Athen, gebracht – einem Folterlager mit zahlreichen | |
| Tuberkulosekranken. Heimlich aufgenommene Fotos eines Journalisten lösen | |
| weltweit einen Sturm der Entrüstung gegen die Zustände in Oropos aus. Ein | |
| Internationales Komitee zur Befreiung des Komponisten wird gegründet. | |
| Initiatoren sind unter anderem Harry Belafonte, [3][Dmitri Schostakowitsch] | |
| und Leonard Bernstein. Wieder rettet ihn der Druck der Öffentlichkeit. Der | |
| französische Politiker Jean-Jaques Servan-Schreiber darf Theodorakis ins | |
| Exil nach Paris holen. Da wird er bei seiner Ankunft begeistert gefeiert | |
| In Paris arbeitet der [4][chilenische Dichter Pablo Neruda] zu der Zeit als | |
| Botschafter. Er ist mit Theodorakis bekannt und übergibt ihm eine Einladung | |
| nach Chile, von Salvador Allende persönlich. Der sozialistische Präsident | |
| empfängt Theodorakis, möchte ihm das neue Chile zeigen und überreicht ihm | |
| zum Abschied den „Canto General“, einen Gedichtzyklus seines Freundes Pablo | |
| Neruda. Die Gedichte handeln vom Kampf Lateinamerikas gegen den | |
| Kolonialismus. Theodorakis komponiert daraus sein berühmtes Oratorium | |
| „Canto General“, das zu den meist aufgeführten Oratorien der | |
| zeitgenössischen Musik gehört. | |
| ## Als Volksheld gefeiert | |
| Noch immer kann der kritische Musiker nicht in seiner Heimat auftreten, die | |
| vom Militärregime beherrscht wird. Doch im Zypern-Konflikt überschätzen | |
| sich die Junta-Obristen – sie wollen ganz Zypern an Griechenland | |
| anschließen. Daraufhin besetzte die türkische Armee den nördlichen Teil | |
| Zyperns und schlägt die griechischen Zyprioten in die Flucht. Nur wenige | |
| Tage später kollabiert das Militärregime. Theodorakis kann einreisen. Er | |
| gibt überall im Land Konzerte und wird über Jahre wie ein Volksheld | |
| gefeiert. | |
| Theodorakis nutzt seine Popularität politisch, gründet etwa die | |
| „Griechisch-türkische Freundschaftsgesellschaft“ und setzt sich für eine | |
| Aussöhnung zwischen Griechen und Türken ein. Doch nach und nach bekommt | |
| sein Image als Vorzeige-Linker Risse. In der noch jungen Demokratie | |
| unterstützt Theodorakis zunächst die Sozialdemokraten, dann auch die | |
| konservative Nea Dimokratia, übernimmt für diese in den 90er Jahren sogar | |
| ein Ministeramt. | |
| Das macht den einstigen Kämpfer der Linken für viele zum Opportunisten. Bis | |
| heute eckt der Politiker Theodorakis links immer mehr an. [5][Im Streit um | |
| den Namen Mazedonien,] den Griechenland und die heutige Republik | |
| Nordmazedonien führten, zeigt sich seine nationalistische Seite. Er spricht | |
| auf dem Podium vor zahlreichen Rechtspopulisten und gerät damit auf linker | |
| Seite weiter in die Kritik. | |
| „Wir schätzen Mikis Theodorakis für sein Werk und seine Geschichte“, | |
| kommentiert daraufhin Linkenchef Alexis Tsipras, der zu der Zeit | |
| Ministerpräsident Griechenlands ist. „Aber ich würde es bevorzugen, wenn er | |
| sich politisch nicht immer wieder unterschiedlich positioniert – dennoch | |
| lieben wir ihn, auch wenn er nicht mit uns übereinstimmt“, so Tsipras. | |
| 29 Jul 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Geschichte-des-Nein-in-Griechenland/!5210045 | |
| [2] /Geschichte-des-Nein-in-Griechenland/!5210045 | |
| [3] /Cellistin-ueber-Dmitri-Schostakowitsch/!5671139 | |
| [4] /Biopic-ueber-Pablo-Neruda/!5383473 | |
| [5] /Proteste-zu-griechischem-Namensstreit/!5479621 | |
| ## AUTOREN | |
| Theodora Mavropoulos | |
| ## TAGS | |
| Griechenland | |
| Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg | |
| Besetzung | |
| Faschismus | |
| Militärdiktatur | |
| Musik | |
| Widerstand | |
| Pablo Neruda | |
| Lesestück Interview | |
| Griechenland | |
| Griechenland | |
| Rembetiko | |
| Chanson | |
| Pablo Neruda | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Zeitzeuge über Diktatur in Griechenland: „Leiste Widerstand, sei kritisch“ | |
| Der Studentenaufstand am 17. November 1973 leitet das Ende der | |
| Militärdiktatur in Griechenland ein. Ein Widerstandskämpfer erinnert sich. | |
| Gedenkkonzert für Mikis Theodorakis: „Eine besondere Freundschaft“ | |
| Der Konzertpianist Gerhard Folkerts war ein Freund des griechischen | |
| Komponisten Mikis Theodorakis. In Hannover erinnert Folkerts an dessen | |
| Musik. | |
| Nachruf auf Mikis Theodorakis: Genauigkeit gegen Gespenster | |
| Hierzulande war Mikis Theodorakis für den Sirtaki-Song im Filmklassiker | |
| „Alexis Sorbas“ bekannt, nicht für seine Politik. Nun ist er 96-jährig | |
| gestorben. | |
| Musikstil Rembetiko: Ein Vagabund und Angeber | |
| Unser Autor ist Historiker und Musiker. Er kommt aus dem New Wave und dem | |
| Punk. Inzwischen spielt er Rembetiko. Hier beschreibt er, warum. | |
| Neues Album von Michaela Meise: Humanistin mit Akkordeon | |
| Gut, überraschend, ergreifend: Michaela Meise adaptiert auf ihrem Album | |
| „Ich bin Griechin“ Chansons von Mikis Theodorakis bis Alexandra. | |
| Biopic über Pablo Neruda: Verschwommene Erinnerungen | |
| Ausschweifender Bohemien und Salonkommunist: Regisseur Pablo Larraín | |
| inszeniert den chilenischen Nationaldichter Pablo Neruda. |