# taz.de -- Zeitzeuge über Diktatur in Griechenland: „Leiste Widerstand, sei… | |
> Der Studentenaufstand am 17. November 1973 leitet das Ende der | |
> Militärdiktatur in Griechenland ein. Ein Widerstandskämpfer erinnert | |
> sich. | |
Bild: Aufstand im November 1973: Das Foto hat Loukas Apostolidis aufbewahrt | |
ATHEN taz | Am 17. November 1973 riss ein Panzer der griechischen | |
Streitkräfte das Haupttor des Athener Polytechnikums nieder, um einen | |
[1][Aufstand gegen die Militärdiktatur] mit äußerster Brutalität | |
niederzuschlagen. | |
Der Widerstandskämpfer Loukas Apostolidis war damals 22 Jahre alt und | |
befand sich auf seinem Posten direkt neben dem Haupttor. Bis heute ist er | |
als Arbeits- und Sozialrechtler tätig und war nach der Wiederherstellung | |
der Demokratie Abgeordneter der sozialistischen Pasok im Athener Parlament. | |
Die taz besuchte Apostolidis in seinem Büro in Athen zum Gespräch – über | |
die Bedeutung des Aufstands am Polytechnio für das Ende der | |
Obristendiktatur, die Demokratie und seine Sorgen um das heutige | |
Griechenland. | |
taz: Herr Apostolidis, Sie leisteten aktiv Widerstand gegen die | |
Militärjunta in Athen. Wie kam es dazu? | |
Loukas Apostolidis: Ich stamme aus einer linken Familie aus dem Dorf Agia | |
Anna in Zentralgriechenland. [2][Meinen Großvater mütterlicherseits töteten | |
die Nazis im Dorf] während der deutschen Besatzung. Meine Eltern waren in | |
der Linkspartei EDA (Vereinigung der Demokratischen Linken, Anm. d. Red). | |
Sie flohen nach der Machtübernahme der Obristen in Athen nach Australien. | |
Ich blieb zurück, schaffte die Aufnahmeprüfung für das Jurastudium, ging | |
nach Athen. Die Fakultät für Rechtswissenschaften war eine Keimzelle des | |
Widerstands gegen die Militärjunta. | |
Was taten Sie genau? | |
Ich störte gemeinsam mit gleichgesinnten Studenten den Unibetrieb. Wir | |
unterbrachen in Hörsälen Vorlesungen von juntatreuen Professoren, wir | |
stellten das Licht ab, besprühten die Wände mit antidiktatorischen Parolen | |
wie „Brot, Bildung, Freiheit“ oder „Nieder mit der Junta!“ | |
Waren sie viele? | |
Nein. In der Studentenschaft waren wir nur eine kleine Gruppe, eine | |
Minderheit. Die meisten Studenten waren der Junta gleichgültig gegenüber. | |
Das galt auch für das Gros der griechischen Bevölkerung. | |
Wie erklären Sie sich diese Gleichgültigkeit? | |
Das ist die DNA des Griechen. Man arrangierte sich mit dem Regime. Cousins | |
von mir erhielten eine Taxilizenz – und sie blieben ruhig. Ich habe sie | |
dafür übel beschimpft: „Wie könnt ihr nur so unterwürfig sein?“ Vergebl… | |
Hier herrschten die Römer, die Osmanen – über Jahrhunderte. Das prägt. Es | |
erzeugt eine eingepflanzte Unterwürfigkeit. Unsere Eltern hatten den | |
Zweiten Weltkrieg erlebt, unmittelbar darauf einen Bürgerkrieg, in den | |
1960er Jahren politische Turbulenzen. Das schafft eine Haltung:„Ich schaue, | |
dass es mir gut geht. Um alles andere kümmere ich mich nicht.“ | |
In uns schlummert aber auch der Drang zum Aufstand. Welch Widerspruch! Mein | |
Vater hat mir beigebracht: „Lukas, leiste Widerstand! Sei kritisch! Stelle | |
Dinge in Frage!“ Er rief mich aus Australien an, um mir hingegen voller | |
Sorge zu sagen: „Mach Deinen Juraabschluss und komm zu uns nach Australien. | |
In Griechenland kannst du nicht leben. Du siehst doch, was deiner Familie | |
zugestoßen ist.“ Ich erwiderte ihm: „Vater, wenn ich nicht tue, was ich | |
tue, brauche ich nicht zu leben!“ Er sah schnell ein, dass ich zum Kampf | |
gegen die Junta fest entschlossen war. Er sagte dann: „Mach' sie nieder.“ | |
Für ihn waren die Obristen Dreckskerle, wie er sagte, die Griechenland | |
zerstören. Ich sagte mir: „Mein Großvater wurde umgebracht, meine Eltern | |
sind weg, ich bin alleine hier. Was habe ich schon zu verlieren?“ | |
Wie erging es ihnen im Widerstand? | |
Die Polizei verhaftete mich mit anderen Studenten. Das war vor dem Aufstand | |
am Polytechnio. Sie brachten uns in die Polizeidirektion, wo man uns eine | |
Woche festhielt. Ich habe daraufhin mit Mitstreitern Athen verlassen. Wir | |
fuhren nach Kreta. Ohne Geld. Ein Kafenion-Besitzer im Hafen von Chania gab | |
uns Arbeit und eine Schlafstelle, anschließend tourten wir durch die Insel. | |
Nach drei Monaten kehrte ich nach Athen zurück. | |
Was passierte damals im November 1973 am Polytechnio? | |
Wir von der Juristischen Fakultät kriegten am 14. November mit, dass sich | |
Studenten auf dem Gelände des Polytechnikums versammelt hatten. Wir gingen | |
dorthin. Immer mehr Studenten strömten ins Polytechnio. Tausende Athener | |
versammelten sich in den Straßen um das Gelände, sie vereinten sich mit | |
uns, um ihren Protest gegen die Obristen zu bekunden. Bekannte Sänger | |
sangen im Polytechnio Lieder. | |
Das Regime fing an, gegen die Menschenmenge vorzugehen. Die Lage spitzte | |
sich von Tag zu Tag zu. Scharfschützen feuerten auf die Menschen, vor und | |
im Polytechnio. Ich war die ganze Zeit am Haupttor am Geländer. Viele | |
Krankenwagen mit Verletzten passierten den Eingang. Sie wurden in der | |
Klinik, die wir im Polytechnikum eingerichtet hatten, versorgt. | |
In der Nacht zum 17. November eskalierte die Situation. Ein Panzer fuhr | |
plötzlich auf das Haupttor zu, riss es ab, überfuhr Studenten und drang in | |
den Hof des Polytechnio ein. Ich stand wie immer am Geländer direkt neben | |
dem Haupttor. Ich hatte nicht damit gerechnet, ich hatte mich geirrt. Ich | |
rannte weg, nach draußen. Mit anderen Studenten fand ich Zuflucht in einem | |
naheliegenden Wohnhaus. | |
In der Früh suchte ich ein Taxi, um nach Hause zu fahren. Ich wohnte im | |
westlichen Athener Vorort Haidari. Ich fand ein Taxi. Ein VW. Der | |
Taxifahrer fragte mich, ob ich im Polytechnio war. Ich bejahte. Er sagte | |
mir, ich solle mich auf dem Rücksitz hinlegen, um nicht erkannt zu werden. | |
Auf der Fahrt verfluchte er die Obristen: „Diese Arschlöcher, diese | |
Verbrecher!“ Als wir ankamen, wollte er für die Fahrt kein Geld haben. | |
Was war Ihr erster Gedanke? | |
Dass der Aufstand das Ende der Junta ist. Der Aufstand am Polytechnio war | |
der Katalysator für den Fall der Junta, die Wiederherstellung der | |
Demokratie. So folgte der Beitritt Griechenlands zur EU und die Etablierung | |
der Zivilgesellschaft. | |
Der Abgeordnete und Minister der konservativen Regierungspartei [3][Nea | |
Dimokratia (ND)], Angelos Syrigos, erklärte im Juli 2022 in einer höchst | |
umstrittenen Parlamentsrede, es sei „ein Mythos“, dass der Aufstand am | |
Polytechnio den Fall der Junta verursacht habe. | |
Das ist kein Mythos, der Aufstand hat Geschichte geschrieben. Der Gips | |
bekam Risse, in den die Obristen, wie Obristenführer Georgios Papadopoulos | |
selbst erklärte, das griechische Volk „gelegt hatten, um es zu heilen.“ | |
Papadopoulos wurde abgelöst, ein paar Tage nach dem Aufstand. | |
Der Aufstand hat die Griechen entfesselt. Unumkehrbar. Sie haben erkannt, | |
dass die Machthaber einen lehren, dass die Adler – die die Freiheit | |
verkörpern – von Aasgeiern zu jagen sind. Die Leute sollen sich damit | |
begnügen, von ein paar Krümeln zu leben, wie es Wilhelm Reich formulierte | |
(austroamerikanischer Arzt, Psychoanalytiker und Soziologe, der die | |
Massenpsychologie des Faschismus ergründete, Anm. d. Red.). | |
Was bedeutet der 17. November für Sie ganz persönlich? | |
Freiheit. | |
Wie bewerten Sie den heutigen Zustand der Demokratie in Griechenland? | |
Die Demokratie braucht stetige Pflege. Ich sehe die Demokratie in Gefahr. | |
Die Verdrossenheit, die [4][Gleichgültigkeit] hat beängstigende Ausmaße | |
angenommen. Bei den jüngsten Wahlen ist nur die Hälfte der Wahlberechtigten | |
zur Wahl gegangen. In Athen lag die Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen | |
bei 25 Prozent. 25 Prozent! Wenn dies einer vor zwanzig Jahren gesagt | |
hätte, hätte man ihn sofort in die Klapsmühle gesteckt. Demokratie lebt von | |
der Beteiligung seiner Bürger. Gingen mehr Leute wählen, hätten | |
rechtsradikale Parteien keine Chance, ins Parlament einzuziehen. Sie würden | |
an der Sperrklausel scheitern. Hierzulande herrscht eine politische und | |
ökonomische Oligarchie. | |
Die Frage, ob „die Diktatur mitunter der Demokratie vorzuziehen“ sei, | |
bejahten über 15 Prozent der befragten Griechen laut einer aktuellen Studie | |
des Athener Forschungsinstituts Eteron. Fast 20 Prozent erklärten, die | |
Obristendiktatur habe „auch positive Seiten“ gehabt. Schockt Sie das? | |
Wissen Sie, was im Augenblick mein größtes Anliegen ist? Ich fordere die | |
Parteien und Lehrer fünfzig Jahre nach dem Aufstand dazu auf, die | |
Erinnerung daran wachzuhalten. Der Aufstand am Polytechnio, diese Feier der | |
Demokratie, muss den Weg in unsere Schulbücher finden. Bisher steht darin | |
keine einzige Zeile! | |
Was werden Sie im Gedenken an diesem 17. November tun, der jedes Jahr | |
gefeiert wird? | |
Wie jedes Jahr zuerst das Polytechnio besuchen, im Hof einen Blumenkranz | |
oder eine rote Nelke niederlegen, dort mit Bekannten sprechen, sinnieren. | |
Meine Erinnerungen werden von Jahr zu Jahr lebendiger! Ich werde am | |
Demonstrationszug in Athen teilnehmen. Ich glaube, diesmal werden besonders | |
viele Menschen daran teilnehmen. | |
17 Nov 2023 | |
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[4] /Waldbraende-in-Griechenland/!5958241 | |
## AUTOREN | |
Ferry Batzoglou | |
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