# taz.de -- Griechenland zur Zeit der Militärdiktatur: Erinnerung an einen Mö… | |
> Nikos Koemtzis saß 23 Jahre im Gefängnis, weil er zur Zeit der | |
> Obristendiktatur drei Menschen getötet hat – wegen eines Tanzes. | |
Bild: Nikos Koemtzis an seinem Tisch auf dem Monastiraki-Platz | |
ATHEN taz | Auf dem Monastiraki-Platz am Fuße der Akropolis geht das Leben | |
seinen gewohnten Gang. Geschäftig strömen die Menschen aus der | |
U-Bahn-Station. An ihren Ständen bieten Obstverkäufer Orangen und Bananen | |
feil. Fliegende Händler versuchen, allerhand Nippes an Touristen zu | |
verhökern. Studenten sitzen auf dem alten Gemäuer vor der kleinen | |
Pantanassa-Kirche und genießen die warme Herbstsonne. Ein Ghettoblaster | |
dröhnt. Nichts erinnert an Nikos Koemtzis. | |
Bis vor ein paar Jahren war Nikos Koemtzis hier noch regelmäßig | |
anzutreffen. In einer Ecke des Monastiraki-Platzes hatte er seinen kleinen | |
Stand aufgebaut. Mit einer Zigarette in den nikotingegilbten Fingern saß er | |
auf einem weißen Holzstuhl. Den kleinen weißen Klapptisch vor ihm bedeckte | |
eine schlichte, mit Metallklammern befestigte Tischdecke. Darauf lagen | |
mehrere Exemplare eines einzigen Buches. Von dem Verkauf des billig | |
gedruckten Paperbacks lebte der einfach gekleidete Mann mit dem weißen Bart | |
und den nach hinten gekämmten schwarz-grauen Haaren. Gerne signierte er es. | |
Denn das 274-seitige Buch, das der freundliche Alte für ein paar Euro zum | |
Kauf anbot, war seine Autobiographie. | |
Fast vier Jahrzehnte zuvor, in Athen herrschten noch die faschistischen | |
Obristen, da erregte sein Fall ganz Griechenland. An einem Abend im Februar | |
des Jahres 1973 erstach Koemtzis in einem populären Nachtschuppen im | |
Athener Stadtteil Sepolia drei Menschen, darunter zwei Polizisten. Sieben | |
weitere Menschen verletzte der damals 35-Jährige lebensgefährlich. | |
Der Anlass für die blutige Tat: Die Polizisten, Anhänger der Junta, hatten | |
gegen ein ungeschriebenes Gesetz verstoßen. Sie überließen seinem jüngeren | |
Bruder Demosthenes nicht die Tanzfläche, als dieser einen Zeibekiko tanzen | |
wollte, den er sich bei den Musikern in dem Bouzouki-Lokal bestellt hatte. | |
Sie bedrängten, schubsten, schlugen den Bruder. Dann rastete Nikos Koemtzis | |
aus. Es war ein rauschhafter eruptiver Ausbruch der Verzweiflung und des | |
Hasses, mörderisches Produkt jahrzehntelanger Kränkungen und Verletzungen. | |
## Kommunistischer Widerstand | |
Nikos Koemtzis wurde 1938 in Aeginio, einer kleinen Ortschaft in der | |
zentralmakedonischen Präfektur Pieria geboren. Seine Kindheit und Jugend | |
verbrachte er in bitterer Armut. Sein Vater Panagiotis war ein | |
kommunistischer Widerstandskämpfer, der als Mitglied der ELAS, der | |
Griechischen Volksbefreiungsarmee, erst im Zweiten Weltkrieg gegen die | |
deutschen und italienischen Faschisten kämpfte, dann im griechischen | |
Bürgerkrieg gegen die von Großbritannien unterstützten Königstreuen und | |
Reaktionäre. | |
1945 wurde der Vater verhaftet. Nach seiner Entlassung stand die Familie | |
unter Polizeibeobachtung. Verfolgt von staatlicher Willkür, zog sie von nun | |
an von Dorf zu Dorf, der Vater schlug sich als Landarbeiter mehr schlecht | |
als recht durch. Im rechtskonservativen Nachkriegsgriechenland war kein | |
gutes Leben für Linke. | |
In der Hoffnung, dem Elend zu entkommen, zog es Koemtzis als | |
Heranwachsender erst nach Thessaloniki, dann 1958 nach Athen, wo sich der | |
Analphabet mit Gelegenheitsarbeiten und kleinkriminellen Geschäften über | |
Wasser hielt. Ohne die „Bescheinigung der politischen Korrektheit“ rutschte | |
er nach dem Putsch der Obristen 1967 endgültig in die Illegalität ab. Im | |
Jahr ihrer Machtübernahme wanderte er das erste Mal ins Gefängnis. | |
Die Bluttat geschieht am frühen Morgen des 24. Februar 1973. Die Gebrüder | |
Koemtzis können zwar noch vom Tatort fliehen. Doch keine 24 Stunden später | |
spürt die Polizei die beiden auf. Bei ihrer Festnahme wird Nikos Koemtzis | |
angeschossen. Die Kugel in seinem Bein entfernt er sich später selbst in | |
der Zelle – der Gefängnisarzt hatte sich geweigert, sich um ihn zu kümmern. | |
Von den Medien als „blutrünstige Bestie“ porträtiert, wird ihm im November | |
1973 der Prozess gemacht. Nach viertägiger Verhandlung verurteilt ihn das | |
Gericht dreimal zum Tode und achtmal zu lebenslanger Haft. | |
## Warten auf die Hinrichtung | |
Drei Jahre verbringt Nikos Koemtzis im Todestrakt des | |
Alikarnassos-Gefängnisses auf Kreta, in steter Erwartung seiner | |
Hinrichtung. Dann wird er nach Korfu verlegt. Drei Jahre nach dem Ende der | |
Obristendiktatur wird seine Strafe 1977 in lebenslange Haft umgewandelt. Im | |
Knast lernt Koemtzis lesen und schreiben. Um nicht verrückt zu werden, | |
beginnt er, Gedichte zu verfassen. Und er schreibt seine Autobiographie: | |
„To makry Zeibekiko“ – „Der lange Zeibekiko“. Sie hat nichts Heroisch… | |
Das, was er in einfachen Worten aufschreibt, ist kein Heldenepos, sondern | |
das Dokument eines tragischen Lebens. | |
Nachdem er ihn 1979 in der Haft besucht hat, widmet ihm der berühmte | |
griechische Singersongwriter Dionysis Savvopoulos ein langes, mitreißend | |
trauriges Lied. Ein Jahr später kommt „Parangeliá!“ (Bestellung oder | |
Anforderung) in die griechischen Kinos, die Verfilmung seiner Geschichte. | |
Nach 23 Jahren im Knast wird Koemtzis begnadigt. Am 29. März 1996 kann er | |
das Gefängnis in der westgriechischen Hafenstadt Patras, in das er einige | |
Jahre zuvor verlegt worden war, als freier Mann verlassen. Er kehrt zurück | |
nach Athen und schlägt sich von da an mit dem Verkauf seiner Autobiografie | |
durch. So wie an jenem warmen Herbsttag im November 2010, als wir uns auf | |
dem Monastiraki-Platz begegneten. | |
Kein Jahr später war der „prominenteste Mörder Griechenlands“ (Petros | |
Markaris) tot. Wie üblich hinter seinem kleinen Stand sitzend, erlitt Nikos | |
Koemtzis am 23. September 2011 einen Herzinfarkt. Er verlor das Bewusstsein | |
und stürzte auf den Gehsteig. Die von Passanten alarmierten Rettungskräfte | |
konnten ihm nicht mehr helfen. Alle Wiederbelebungsversuche schlugen fehl. | |
Nikos Koemtzis wurde 73 Jahre alt. | |
13 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
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