# taz.de -- Verfassungsrichter Masing zieht Bilanz: „Das macht mir große Sor… | |
> Die rechte Unterwanderung der Polizei sei wohl kein Einzelfall, sagt | |
> Johannes Masing. Er wünscht Stolz der Behörden auf rechtsstaatliche | |
> Vorgaben. | |
Bild: Johannes Masing nach dem Empfang seiner Entlassungsurkunde in Berlin im S… | |
taz: Herr Masing, Sie haben in den letzten zwölf Jahren die Urteile des | |
Bundesverfassungsgerichts zur Inneren Sicherheit geprägt. Auch in dieser | |
Zeit galt: Die Sicherheitsbehörden bekommen, was sie wollen, aber zunächst | |
einmal wird das Gesetz in Karlsruhe beanstandet. Hat sich dieses Muster | |
bewährt? | |
Johannes Masing: Die Sicherheitsbehörden bekommen nicht, was sie wollen, | |
aber was sie brauchen, um arbeitsfähig zu sein. Das ist wichtig: Der Staat | |
muss wehrfähig sein, sonst ist seine Akzeptanz gefährdet. Wir versuchen | |
dabei aber stets, die Befugnisse von Polizei und Nachrichtendiensten | |
rechtsstaatlich einzuhegen und haben sie oft auch erheblich eingegrenzt. | |
Was heißt das konkret für heimliche Ermittlungen? | |
Die Voraussetzungen von Maßnahmen müssen genau definiert sein. Sie müssen | |
grundsätzlich nicht nur durch ein Ziel, sondern durch einen im Einzelfall | |
hinreichend gewichtigen und konkreten Anlass gerechtfertigt sein. Dabei | |
muss es Richtervorbehalte, Benachrichtigungs- und Löschungspflichten sowie | |
eine objektive Kontrolle geben. Bestimmte Berufsgruppen wie Journalisten, | |
Strafverteidiger und Geistliche brauchen besonderen Schutz und auch der | |
Kernbereich der privaten Lebensgestaltung – etwa die Sexualität oder das | |
Gebet – muss besonders geschützt sein. Die Öffentlichkeit muss wissen, wie | |
oft bestimmte Maßnahmen angewandt werden. | |
Akzeptieren die Behörden diese Vorgaben? | |
Man kann die Wirklichkeit nicht allein mit Gesetzen prägen. Wichtig ist, | |
dass die Behörden sich mit diesen rechtstaatlichen Vorgaben identifizieren. | |
Es muss ihr Stolz sein, als rechtsstaatliche Sicherheitsbehörden zu | |
handeln. Ich glaube, dass es einen Willen zur Rechtsstaatlichkeit im | |
Grundsatz auch gibt. So hat sich etwa das Bundeskriminalamt [1][im | |
Verfahren zum BKA-Gesetz] durchaus überzeugend in diesem Sinne präsentiert, | |
und auch der BND hat sich bereitwillig und konstruktiv auf die Fragen des | |
Gerichts eingelassen. Es kommt dann darauf an, dass das auch in der Praxis | |
durchgehalten wird. Dabei habe ich den Eindruck, dass die Situation in | |
Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Staaten recht gut ist – | |
vielleicht auch Dank der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. | |
Sie erhoffen Identifikation, obwohl Sie die Arbeit der Sicherheitsbehörden | |
nicht einfacher machen? | |
Das stimmt. Aber im Gegenzug bekommen die Sicherheitsbehörden ja auch | |
etwas: Wir bestätigen, dass ein Gesetz nach Berücksichtigung unserer | |
Vorgaben verfassungskonform ist. Das schafft Legitimation für die Arbeit | |
von Polizei und Nachrichtendiensten. | |
Können wir den Sicherheitsbehörden noch trauen, wenn es immer wieder Fälle | |
rechter Unterwanderung gibt? Wenn [2][Daten aus dem Polizei-Computer für | |
Drohbriefe missbraucht werden] und [3][Munition für die Vorbereitung zum | |
Bürgerkrieg abgezweigt] wird? | |
Solche Vorfälle machen mir große Sorge und ich fürchte, dass sie sich nicht | |
als Einzelfälle abtun lassen. Auch hier geht es darum, dass die Polizei ihr | |
Selbstverständnis aus der Überzeugung beziehen muss, ihre Aufgaben im | |
Dienste des Rechtsstaats wahrzunehmen. Es ist primär eine Frage der guten | |
Ausbildung, der inneren Führung, gegebenenfalls aber auch des harten | |
Durchgreifens, dass hier kein Corpsgeist wächst, in dem solche | |
Entwicklungen geduldet und gedeckt werden. Freilich hängt das auch mit | |
einem öffentlichen Klima zusammen, auf das der Staat nur mittelbar Einfluss | |
hat – aber auf das wir als Verfassungsgericht durch unsere Entscheidungen | |
mit einzuwirken suchen. | |
Das Bundesverfassungsgericht gilt als weltweit mächtigstes | |
Verfassungsgericht. Inwieweit strahlt Ihr Ansatz international aus? | |
Als 1990 der Ostblock zusammenbrach, dachten viele jetzt hat sich der | |
Rechtsstaat durchgesetzt. Jetzt können wir ein gemeinsames Fundament | |
entwickeln, das jedenfalls von den großen Industriestaaten getragen wird. | |
Der Backlash der letzten zehn Jahre hat mich aber zunehmend | |
desillusioniert: Die Politik von Donald Trump, die Entwicklungen in Ungarn | |
[4][und Polen] gehen in die andere Richtung, Staaten wie Russland und die | |
Türkei lehnen rechtsstaatliche Standards immer offener ab. | |
Ist Deutschland also nur noch ein kleines gallisches Dorf der | |
Rechtsstaatlichkeit? | |
Nein. So ist es zum Glück auch nicht. Immer wieder stelle ich im | |
internationalen Austausch fest, dass wir auch von anderen Staaten viel | |
lernen können. [5][Beim BND-Urteil, das wir im Mai verkündet haben], | |
bekamen wir zum Beispiel wichtigen Input aus Großbritannien. Dort ist die | |
Geheimdienstkontrolle stark und effizient und doch breit akzeptiert. Mit | |
diesem Beispiel vor Augen konnten wir auch für Deutschland eine ähnlich | |
effiziente Kontrolle fordern, ohne dass jemand die Vorgaben als unerfüllbar | |
kritisieren konnte. | |
Wie wichtig sind die europäischen Gerichte? | |
Sehr wichtig. Wir bauen aufeinander auf und nehmen aufeinander Bezug. Der | |
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg [6][hat 2018 in | |
einem Urteil zu Großbritannien] strenge Vorgaben zur Massenüberwachung | |
gemacht. Und der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg vertritt sehr | |
anspruchsvolle Positionen beim Datenschutz. Das hilft uns auch in | |
Deutschland sehr. | |
Der EuGH [7][lehnt die Vorratsdatenspeicherung generell ab], während das | |
Bundesverfassungsgericht sie 2010 mit bestimmten Vorgaben zugelassen hat. | |
Wurmt Sie das? | |
Nein. Wir müssen in Europa zusammenhalten. Und primär freue ich mich, dass | |
der EuGH den Datenschutz so ernst nimmt. Ohne die europäische | |
Rechtsprechung hätten wir keine Chancen, Datenschutz im internationalen | |
Miteinander Wirksamkeit zu verleihen. Ich halte allerdings unsere Lösung in | |
Blick auf die Sicherheitsbedürfnisse für ausgewogener und fürchte, dass der | |
EuGH seine strikte Position auf Dauer nicht durchhalten können wird – und | |
dann das Pendel ins Gegenteil ausschlägt. In letzter Zeit ist der EuGH ja | |
sehr massiv unter Druck seitens aller EU-Staaten geraten. | |
Hätten Sie 2010 das Verfahren zur Vorratsdatenspeicherung nicht dem EuGH | |
vorlegen müssen? | |
Nein, damals war noch überhaupt nicht absehbar, dass der EuGH hier | |
inhaltliche Bedenken hat. Das Bundesverfassungsgericht [8][hat dann ein | |
sehr kluges Urteil gefällt], zu dem ich auch heute noch stehe. Danach ist | |
die Vorratsdatenspeicherungen von Telefon- und Internet-Verkehrsdaten | |
zulässig, wenn die Daten maximal sechs Monate gespeichert werden. Die Daten | |
müssen dabei optimal gegen Missbrauch gesichert sein. Die Speicherung muss | |
dezentral bei den Unternehmen erfolgen, also nicht beim Staat. Und der | |
Zugriff auf die Daten muss auf richterlich angeordnete Einzelfälle bei der | |
Aufklärung und Verhütung schwerer Kriminalität beschränkt bleiben. | |
Als Folge der Digitalisierung aller Lebensbereiche hinterlassen wir immer | |
mehr Spuren – ein Segen für die Sicherheitsbehörden. Kann ein | |
Verfassungsgericht das überhaupt noch einhegen? | |
Die Masse der digitalen Spuren kann das Recht nicht neutralisieren und hat | |
weitreichende Folgen, mit denen wir erst noch umgehen lernen müssen. Dabei | |
führt nichts daran vorbei, dass die Sicherheitsbehörden sie auch als | |
Ermittlungsansätze nutzen dürfen müssen – auch wenn dadurch die | |
Möglichkeiten, privates Verhalten bis hin in intime Details zu | |
rekonstruieren, und damit der hierdurch eröffnete Freiheitseingriff völlig | |
neue Dimensionen erhalten können. Es muss dann aber zumindest begrenzende | |
Maßgaben geben, wie die Beschränkung der Nutzung auf die Aufklärung | |
konkreter schwerer Straftaten. Es wäre ein Gegenbild zur Freiheitsidee des | |
Grundgesetzes, wenn eines Tages die Behörden für beliebige Zwecke alle | |
Daten zusammenführen könnten, um die Bürger möglichst gut zu verwalten. | |
Sie waren am Bundesverfassungsgericht auch für die Meinungsfreiheit | |
zuständig. Geht es hierbei vor allem um den Schutz der Demokratie oder um | |
ein ganz individuelles Menschenrecht? | |
Das Bundesverfassungsgericht schützt die freie Meinungsäußerung | |
insbesondere als „Beitrag zur öffentlichen Willensbildung“. Es hat die | |
Meinungsfreiheit aber nie darauf reduziert. Es gibt auch ein inneres | |
Bedürfnis des Menschen, seine Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen mit | |
anderen zu teilen. Auch deshalb hat man die Freiheit zu sagen, was man | |
will, auch in emotional zugespitzter Form. Die Meinungsfreiheit bemisst | |
sich nicht nach funktionaler Nützlichkeit. | |
Die Meinungsfreiheit unterscheidet also nicht zwischen nützlichen und | |
gefährlichen Meinungen? | |
Überhaupt nicht. Die Meinungsfreiheit schützt auch Forderungen, die so | |
verfassungswidrig sind, dass der Staat sie nie umsetzen dürfte. Aber die | |
Freiheit ist etwas, das der Staat nicht zuteilt, vielmehr ist sie die Basis | |
unserer Rechtsordnung. | |
Wo sind die Grenzen der Meinungsfreiheit? | |
Es gibt einen wichtigen Unterschied, der oft übersehen wird: Die | |
Meinungsfreiheit gibt gegenüber dem Staat das Recht, inhaltlich jede | |
Ansicht und Idee zu äußern; die Grenze liegt in der Form, das heißt in der | |
Aggression, die die Friedlichkeit der Auseinandersetzung verlässt. In Bezug | |
auf anderen Personen hingegen darf ich nicht alles sagen, denn deren | |
Persönlichkeitsrecht begrenzt die Meinungsfreiheit. Deshalb können | |
Ehrverletzungen oder falsche Aussagen über Dritte zurecht strafbar sein, | |
auch wenn sie eine Meinungsäußerung sind. Wo die Grenze konkret verläuft, | |
muss in der Regel abgewogen werden. | |
12 Jul 2020 | |
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[1] /Verfassungsgericht-urteilt-zu-BKA-Gesetz/!5294503 | |
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