| # taz.de -- Debatte um Denkmäler: Gelegentlich vom Sockel geholt | |
| > Die meisten Bronzestatuen haben ihre Zeit lange hinter sich. | |
| > Provisorische, austauschbare Denkmäler müssen her für die wahren | |
| > HeldInnen. | |
| Bild: Intervention am Denkmal: Harriet Tubman auf der Statue des Generalkonföd… | |
| Vor Jahren war der große lateinamerikanische Schriftsteller Eduardo Galeano | |
| zu Besuch bei seinem deutschen Verlag in Wuppertal. Er blieb staunend vor | |
| dem Standbild einer jungen Frau stehen. Offensichtlich eine Arbeiterin. In | |
| Lebensgröße und aus Bronze. „Was ist das für eine zivilisierte Stadt“, r… | |
| er aus, „die einer Arbeiterin ein Denkmal setzt!“ Seit 1979 schmückt die | |
| Statue von Mina Knallenfalls die Elberfelder Innenstadt. | |
| Keine historische Figur, sondern eine Heldin aus einem Mundartgedicht von | |
| Otto Hausmann. Sie steht mitten im Alltagsleben, ohne Sockel und Attitüde. | |
| Mal wird sie getätschelt, mal mit Blumen umrankt. Niemand käme auf die | |
| Idee, sie umzuwerfen. Die „Mina“ ist eine Ausnahme. Fast überall erheben | |
| mächtige Statuen einen Anspruch auf historische Repräsentanz. Oft fahren | |
| sie schwerere Geschütze auf, wortwörtlich als militaristisches Memento mori | |
| sowie im erinnerungskulturellen Kampf. | |
| Meist nehmen wir sie kaum wahr, auch wenn wir ihren tiefen Schatten | |
| durchschreiten. Nur gelegentlich, nach Protesten, Aufständen oder | |
| Revolutionen, werden sie vom Sockel geholt. Dann – und nur dann – erfüllen | |
| sie die Aufgabe, die ihrer deutschen Bezeichnung eingeschrieben ist: | |
| Denk-mal. Während in England [1][ein Sklavenhändler kopfüber ins | |
| Hafenbecken fällt], neigen wir hierzulande eher zur gepflegten Diskussion. | |
| So, als gäbe es keinen dringlichen Handlungsbedarf. | |
| Doch in jeder deutschen Stadt wimmelt es von Kriegerdenkmälern. Nehmen wir | |
| etwa Stuttgart. Im Mittleren Schlossgarten wird mit einem löwenstarken | |
| Denkmal das Grenadier-Regiment „Königin Olga“ geehrt. Kaum jemand denkt | |
| sich was dabei, nur wer zu Hause auf Wikipedia nachschlägt, wird von den | |
| historischen Fakten fast erschlagen: 1848 „eingesetzt zur Bekämpfung von | |
| Unruhen im Lande“, 1900 am „zweiten internationalen Expeditionskorps in | |
| China beteiligt“, 1904/1906 „nehmen Soldaten des Regiments am Kampf gegen | |
| die Herero in nicht bekannter Stärke teil“. | |
| ## Jedes Denkmal lässt Geschichte zur halben Lüge erstarren | |
| Wenn man die pseudo-objektive Sprache von Wikipedia in die Ehrlichkeit von | |
| Leichensäcken und Gräbern übersetzt, bedeutet dies: brutale Niederschlagung | |
| von heimischen demokratischen Protesten; imperialistische „Strafexpedition“ | |
| gegen einen Volksaufstand; und Massenmord in Deutsch-Südwestafrika. Anders | |
| gesagt: Dieser steinerne Löwe repräsentiert all das, was wir heute als | |
| Gesellschaft ablehnen. Wo hingegen sind die Denkmäler all der exekutierten | |
| Deserteure? | |
| Des unbekannten Saboteurs und der Revolutionäre wie etwa Fritz Anneke, | |
| dessen Forderungen aus den Jahren 1848/49 heute allesamt im Grundgesetz | |
| verankert sind? An seiner Stelle thront weiterhin und weithin sichtbar | |
| Wilhelm I., König von Württemberg, der nach der blutigen Niederwerfung der | |
| Revolution von 1848/49 seine Absicht bekräftigte, „das Volk vom | |
| periodischen Fieber der Wahlen befreien“ zu wollen. | |
| Statt an VorkämpferInnen heutiger Errungenschaften zu erinnern, stehen | |
| überall in Deutschland und Österreich [2][Mahnmale gefallener Soldaten]. | |
| Wenn es eine gesellschaftliche Übereinkunft gibt, dass weder der Erste noch | |
| der Zweite Weltkrieg eine gute Sache war, dann sollten wir doch auch jene | |
| ehren, die gegen diesen Wahn gekämpft haben! Es gibt Alternativen, könnte | |
| man einwenden und etwa auf das Sowjetische Ehrenmal in Treptow hinweisen. | |
| Was zu Recht an die Befreiung vom Nationalsozialismus erinnert, wurde 1949 | |
| auf Befehl Stalins errichtet. Denn jedes Denkmal lässt Geschichte zur | |
| halben Lüge erstarren. Indem es in Erinnerung ruft, verschweigt es | |
| zugleich. Etwa, dass die Soldaten der Roten Armee als Okkupationstruppen | |
| massenhaft Frauen vergewaltigt und ein totalitäres System installiert | |
| haben, das in Osteuropa 45 Jahre lang Unterdrückung, Ausbeutung und | |
| Schrecken etabliert hat. | |
| ## Wo ist der unbekannte Saboteur, wo die Revolutionäre | |
| Wenn also Verteidiger althergebrachter Gedenkorte wie der britische | |
| Premierminister Boris Johnson fordern, dass „die Menschen unsere | |
| Vergangenheit mit all ihren Unvollkommenheiten verstehen“ sollten, dann | |
| muss die Frage erlaubt sein, ob die statuarische Verkörperung komplexer | |
| historischer Zusammenhänge zu diesem Verständnis beiträgt. Steht im | |
| Schlossgarten neben dem Löwen eine Tafel über den Genozid an den Herero? | |
| Gibt es im Treptower Park eine Dauerausstellung über die Ambivalenz von | |
| Befreiung/Unterdrückung? | |
| Was in einem Museum ein Leichtes wäre, funktioniert im öffentlichen Raum | |
| kaum. Solange unsere Denkmäler versteinerter Ausdruck von Geschichtlichkeit | |
| bleiben, können sie keine andere soziale Funktion erfüllen, als die | |
| Selbstgerechtigkeit von Macht zu dokumentieren. Nötig sind deshalb keine | |
| weiteren Denkmäler, sondern eine Neubewertung der Erinnerungskultur. | |
| Natürlich wäre es schön, die sechs Meter hohe Bronzestatue von Thomas | |
| Jefferson durch die Bronzestatue einer schwarzen Frau zu ersetzen, etwa der | |
| einstigen Sklavin und Freiheitskämpferin Harriet Tubman, wie einer von | |
| Jeffersons Nachfahren neulich in der New York Times forderte. Aber dies | |
| wäre nur ein punktueller Erfolg. Das Störende an den Denkmälern ist die | |
| Hybris ihrer vermeintlichen Unvergänglichkeit. Geschichte aber ist ein sich | |
| wandelndes Narrativ. | |
| Wir sollten lieber [3][provisorische Denkmäler] errichten, was technisch | |
| durch den 3-D-Druck leicht zu verwirklichen wäre, anhand von Vorschlägen, | |
| die aus Diskussionen in Vereinen, Gemeinderäten oder Klubs von | |
| lokalhistorisch Interessierten erwachsen. Diese Mahnmale würden als | |
| Momentaufnahmen wirken, die geeignet wären, ein profundes Gespräch über die | |
| wahren Heldinnen der Geschichte hervorzurufen. | |
| Wer widerspricht und andere zu überzeugen vermag, der darf seinen Vorschlag | |
| in der nächsten Denkmalssaison verwirklichen. Aber das wäre zu | |
| demokratisch, Gott und Wilhelm behüte. | |
| 22 Jul 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ilija Trojanow | |
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