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# taz.de -- Türkische Netflix-Serie „Diriliş: Ertuğrul“: Falsche Helden
> Das TV-Epos „Diriliş: Ertuğrul“ findet besonders in muslimischen Staaten
> Zuspruch. Der Mythos um den ruchlosen Krieger ist alles andere als
> zeitgemäß.
Bild: Erfolg auch in Pakistan: Diese Statue wurde in Lahore nach der Serie „D…
Ertuğrul war ein echter Held des 13. Jahrhunderts: ein furchtloser Krieger,
bedingungslos loyal gegenüber seinem Fürsten, gefürchtet bei seinen
Untertanen, aber noch mehr bei seinen Feinden. Nun gut, die
zeitgenössischen historischen Quellen sind dürftig, das meiste wurde post
mortem verfasst, denn es war sein Sohn, der Ertuğrul weit über seinen Clan
hinaus bekannt gemacht hat: Osman, der Gründer der osmanischen Dynastie,
die das größte islamische Reich der Weltgeschichte schaffen sollte.
Dennoch ist das, was über Ertuğrul bekannt ist, nicht nur Legende. Er
entstammt einem Clan der zentralasiatischen Turkmenen, der unter dem Druck
der Mongolen nach Anatolien in das Herrschaftsgebiet der Seldschuken
wanderte. Im Grenzgebiet zum byzantinischen Reich ließ er sich nieder und
verbreitete mit Überfällen auf die nichtmuslimische Zivilbevölkerung Angst
und Schrecken.
Als der damalige byzantinische Kaiser Laskaris Truppen zur Sicherung der
Grenze entsandte, wurden die Byzantiner vernichtend geschlagen, was
maßgeblich auch Ertuğrul zuzuschreiben war. Aus Dankbarkeit schenkte ihm
der Sultan erhebliche Ländereien. Wie zumeist bei Warlords machten die
Siege Lust auf mehr, und sie führten ihm neue Verbündete zu. Tatsächlich
wurde Ertuğrul nach dem Sieg über Kaiser Laskaris Truppen einer der
erfolgreichsten Kriegsherren des Sultans.
Hätte Ertuğrul seine Raubzüge für die spanische Krone oder andere
europäische Kolonialmächte getätigt, stünde es heute schlecht um seine
Reputation. In der [1][Debatte über Kolonialisierung, Sklaverei und
Rassismus] wäre auch manches Ertuğrul-Standbild gefallen. Doch Ertuğruls
Nachfahren wollen von alldem nichts wissen; im Gegenteil, der brutale
mittelalterliche Warlord ist Pate einer der erfolgreichsten türkischen
Fernsehserien, [2][„Diriliş: Ertuğrul“], häufig als „islamisches Game …
Thrones“ bezeichnet.
Die Serie – auf Deutsch „Ertuğruls Auferstehung“ – bringt alles, was
Legendenbildung ausmacht: Spannung, Kampf, schöne Frauen, die beschützt
werden müssen – und bedient ein simples schwarz-weißes Weltbild: Hier die
frühen Türken, die Rechtgläubigen, die Ehrenvollen, die Tapferen, kurz die
Guten. Dort die Feinde, die ungläubigen Mongolen, die blutrünstigen
Christen – Lieblingsfeindbild die Tempelritter – kurz: die Bösen.
## „Ertuğruls Auferstehung“ in 65 Staaten verkauft
Wer den Kampf zwischen Gut und Böse gewinnt, weiß man aus den
Hollywoodwestern mit John Wayne. Das Skript von „Diriliş: Ertuğrul“
unterscheidet sich in nichts davon; außer dass John Wayne wegen seiner
rassistischen Äußerungen über die indigene Bevölkerung inzwischen
entzaubert ist. Ganz anders „Diriliş: Ertuğrul“.
Das Heldenepos über die türkische Frühgeschichte ist zu einem
Verkaufsschlager in weiten Teilen der islamischen Welt geworden, auch in
solchen, die ethnisch und kulturell nichts mit der Türkei zu tun haben, wie
Malaysia oder Pakistan. Dort ist das Bekenntnis zur „Diriliş: Ertuğrul“
inzwischen ein Politikum, denn sogar die Staatschefs werben dafür. Die seit
2014 produzierte Serie wurde in 65 Staaten verkauft.
[3][Pakistans Ministerpräsident Imran Khan], der den Anspruch erhebt, einen
idealen Muslimstaat nach dem Vorbild von Mohammeds erster Gemeinschaft in
Medina zu errichten, ist der Überzeugung, die Serie trage dazu bei, die
Bedeutung der islamischen Zivilisation zu verstehen. Zudem werde damit „der
weltweiten Islamophobie entgegengetreten“. Das bezweifeln Kritiker auch in
der islamischen Welt. Der politische Aktivist Pervez Hoodbhoy hält dagegen:
„Wenn die Serie den Islam als friedliebende Religion darstellen und
Islamophobie bekämpfen will, dann erreicht sie angesichts der weit
verbreiteten Gewaltdarstellungen genau das Gegenteil.“ Die populäre
Glorifizierung der türkisch-islamischen Frühgeschichte zu einem Zeitpunkt,
da anderswo auf der Welt fragwürdige Helden von den Sockeln geholt werden,
passt zu einem Verständnis von „Antirassismus“, das nur auf andere
gerichtet ist, ohne die eigenen Schattenseiten wahrzunehmen. Das treibt in
der Türkei extreme Blüten.
Als [4][Mesut Özil wegen seiner demonstrativen Nähe zu Staatspräsident
Erdoğan] im Umfeld der letzten Fußball-WM kritisiert wurde, initiierten
türkische Sportverbände imposante Kampagnen gegen Rassismus. Sport spielt
in der türkischen Gesellschaft eine wichtige Rolle, Erdoğan selbst gilt als
großer Fan. Um internationale Erfolge zu feiern, hat die Türkei LäuferInnen
aus Kenia und Äthiopien mit finanziellen Verlockungen eingebürgert.
## Turkisierung von SpitzensportlerInnen
Sie haben zahlreiche Medaillen bei Europameisterschaften erlaufen – nicht
ohne zuvor turkisiert worden zu sein. So wurde aus der zweifachen
Goldmedaillengewinnerin von 2016 Vivian Jemutai Yasemin Can; aus Kiprotich
Mukche wurde Ali Kaya, aus Kipruto Kigen wurde Kaan Özbilen. Man stelle
sich den „antirassistischen Aufschrei“ vor, wenn Mesut Özil als Meinrad
Oswald in der deutschen Fußballnationalmannschaft hätte auflaufen müssen.
Die Liste viel schwerwiegenderer Beispiele, die eine erschreckende
Einseitigkeit im Kampf gegen Rassismus, Kolonialismus, Gewalt und
Sklaverei zeigen, ist lang:
[5][Der Völkermord an den Armeniern] und Assyrern/Aramäern; die brutale
Praxis des Kinderraubs aus christlichen Familien, die zur osmanischen
Elitetruppe der Janitscharen gedrillt wurden; der über Jahrhunderte
weltweit größte Sklavenmarkt im nordafrikanischen Tunis; oder die
arabischen Sklavenjäger, die zu Beginn der Sklaverei in Nordamerika
Zehntausende Männer, Frauen und Kinder an Sklavenhändler verkauften,
geraten dabei aus dem Blick.
Wenn dann noch Vertreter islamischer Staaten oder Organisationen den
Opferstatus beanspruchen, wird die Kampagne heuchlerisch. Nicht nur die
christliche Tradition hat ihre Leichenberge und ihre falschen Helden;
auch die islamische. Es gibt keinen Grund, das zu tabuisieren oder gar zu
heroisieren.
13 Aug 2020
## LINKS
[1] /Black-Lives-Matter-Protest-in-England/!5692293
[2] /Serien-im-tuerkischen-Staatsfernsehen/!5430376
[3] /Spannungen-im-Kaschmir-Konflikt/!5575526
[4] /Oezil-und-Guendoan-posieren-mit-Erdoan/!5506264
[5] /Tuerkei-und-Voelkermord-an-den-Armeniern/!5680917
## AUTOREN
Klemens Ludwig
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Türkei
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