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# taz.de -- Forscherin über Migrationshintergrund: „Weg mit diesem Begriff“
> Vor 15 Jahren wurde der Begriff Migrationshintergrund eingeführt. Im
> Alltag werde er meist stigmatisierend verwendet, sagt die Forscherin
> Deniz Yıldırım.
Bild: Bis in die wievielte Generation hat man Migrationshintergrund? Passagiere…
taz: Frau Yıldırım, die Stuttgarter Polizei ermittelt den
[1][Migrationshintergrund von jungen Tatverdächtigen] der „Krawallnacht“ �…
und erklärt, dass das [2][im Jugendstrafrecht nun mal dazugehört]. Was
halten Sie davon?
Deniz Yıldırım: Ich finde es sehr gut, dass die Polizei auf die
Lebensumstände gucken und präventiv vorgehen will. Ich habe mir die
gängigen Präventionsmaßnahmen mal angeguckt. Da wird geschaut, ob es Gewalt
in der Familie gibt oder ein Elternteil arbeitslos ist, solche Dinge. Keine
einzige Maßnahme zielt auf den Migrationshintergrund. Außerdem gibt es
keinerlei Studien, die einen [3][Zusammenhang zwischen
Migrationshintergrund und Kriminalität belegen]. Die Polizei widerspricht
hier sowohl der Forschung als auch ihren eigenen Maßnahmen.
Mit welcher Wirkung?
Wieder einmal wird jungen Leuten abgesprochen, deutsch zu sein. Erst fällt
die Polizei selbst mit rassistischen Funksprüchen auf, dann versucht sie
mit sehr hohem Aufwand, zu rekonstruieren, welche Jugendlichen einen
Migrationshintergrund haben. Dabei wird eine Akribie an den Tag gelegt, die
wir an anderer Stelle vermissen, etwa bei den [4][Ermittlungen zum NSU
2.0]. So zerstört die Polizei das Gefühl dieser jungen Menschen, dass auch
sie dort einen Ansprechpartner haben, der auch für ihren Schutz da ist.
Der Migrationshintergrund wurde vor 15 Jahren als statistische Größe im
[5][Mikrozensus] eingeführt. War das ein Fortschritt oder ein Fehler?
Im Jahr 2000 wurde das [6][Staatsbürgerschaftsrecht liberalisiert]. Wir
sind vom Blut- zum Bodenrecht übergegangen. Wenn auch mit vielen
Einschränkungen gilt seitdem im Grundsatz, dass in Deutschland geborene
Kinder Deutsche sind. In der Statistik sollte der Migrationshintergrund ab
2005 Integrationsverläufe über mehrere Generationen sichtbar machen. Im
Alltag aber sagt man seitdem statt „Ausländer“ einfach „Menschen mit
Migrationshintergrund“. Und zwar egal, ob die Definition das hergibt oder
nicht.
Die Definition hat sich über die Jahre gewandelt. Migrationshintergrund
besagt heute, dass eine Person selbst oder mindestens ein Elternteil ohne
deutsche Staatsbürgerschaft geboren wurde.
Genau. Aber im Sprachgebrauch meint man damit meist schlicht Menschen, die
nicht dem Phänotyp „weiß“ entsprechen. Damit hat der Begriff etwas sehr
Stigmatisierendes. Und das hat Folgen: Es gibt Studien, in denen etwa der
Anteil der Muslime völlig überschätzt wurde, weil er synonym mit
Migrationshintergrund gedacht wurde.
Was kann eine statistische Größe wie der Migrationshintergrund aussagen?
Er kann uns sagen, dass wir etwa [7][25 Prozent Menschen mit
Migrationshintergrund in der Bevölkerung] haben. Was aber unsichtbar
bleibt: Diese Menschen haben zig verschiedene Nationalitäten,
Muttersprachen, Religionen, Herkunftsländer, Milieuzugehörigkeiten. Im
Mainstream denken wir nur an ein paar wenige Gruppen: etwa türkisch,
arabisch, polnisch, russisch. Trotzdem kann der Begriff dazu beitragen,
Diskriminierung sichtbar zu machen, etwa beim Zugang zum Wohnungs- oder
Arbeitsmarkt. Man muss dabei aber immer seine Grenzen bedenken.
Was wären die?
Es erfahren auch Menschen rassistische Diskriminierung, die in der dritten,
der fünften oder der hundertsten Generation hier leben. [8][Die fallen aus
der Statistik]. Das kann zum Beispiel Schwarze Menschen betreffen, Jüdinnen
und Juden, Sinti und Roma…
Bei Citizens for Europe haben Sie untersucht, wie divers die Führungsebenen
in Berliner Verwaltungen sind. Auf welcher Grundlage?
Wir verwenden den Migrationshintergrund – noch. In vielen
Referenzstatistiken, etwa zur Bevölkerungszusammensetzung, gibt es eben nur
diese Größe. Wenn wir sagen: Verwaltungen müssen die gesellschaftliche
Vielfalt abbilden, dann bleibt uns nichts anderes übrig. Wenn einen aber
Diskriminierung interessiert, muss man weitergehen.
Inwiefern?
In unserer [9][Berlin-Studie] hatten 15 Prozent der Führungskräfte einen
Migrationshintergrund. Nur 3 Prozent aber haben angegeben, dass sie
rassistisch diskriminiert werden. Wir haben einen Fragenkatalog entwickelt,
um speziell solche Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten zu
erheben. Da geht es um die Selbst- und die Fremdwahrnehmung: Wie bezeichne
ich mich selbst? In Bezug auf was werde ich diskriminiert? Das ist nicht
immer deckungsgleich – ich kann antimuslimisch diskriminiert werden, ohne
Muslima zu sein.
Wäre es nicht problematisch, wenn ein Migrationshintergrund oder sogar
weitere Daten, etwa in Personalabteilungen, erhoben würden?
Wir als Menschenrechtsorganisation haben uns aufgestellt, um zu zeigen: Man
kann sich vom Migrationshintergrund lösen und diese differenzierten Daten
erheben, ohne diskriminierende Kategorien aufzumachen und ohne den
Datenschutz zu verletzen. Da sind wir bisher führend. Gerade arbeiten wir
an einer Onlineplattform zum Beispiel für Personaler*innen – die aber die
Anonymität der Beschäftigten wahrt. Das ist enorm wichtig.
So ganz um den Migrationshintergrund herum kommen Sie also nicht.
Gerade brauchen wir noch Daten zum Migrationshintergrund in Institutionen
und Organisationen, weil es die einzigen Daten sind, mit denen innerhalb
und außerhalb von Organisationen gearbeitet wird.
Ist der Migrationshintergrund noch zu retten?
Nein. Weg damit. Und dann kann die Wissenschaft gerne zu uns kommen und
darüber sprechen, wie man es richtig macht.
15 Jul 2020
## LINKS
[1] /Ermittlungen-zu-Krawallen-in-Stuttgart/!5700776
[2] /Polizei-Erhebungen-in-Stuttgart/!5694785
[3] /Polizei-Erhebungen-in-Stuttgart/!5694785
[4] /Polizei-und-rechtsextreme-Drohschreiben/!5700789
[5] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Haushalt…
[6] /Publizistin-ueber-Staatsbuergerschaftsrecht/!5602467
[7] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migratio…
[8] /Rassismusforscher-ueber-Afrozensus/!5677279
[9] https://vielfaltentscheidet.de/berlin-studie/?back=2
## AUTOREN
Dinah Riese
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