# taz.de -- Jugendgewalt in Stuttgart: Mit Krawall ins Paradies | |
> Wie in jedem x-beliebigen Dorf macht auch in Stuttgart die Jugend Rabatz. | |
> Das ist nicht schön, aber auch kein neues Phänomen. | |
Bild: „Die Halbstarken“ sind eine alte Geschichte: Horst Buchholz (Mitte) i… | |
Dieser Vorfall war dann, gemessen an den Aufregungen, die das ja eigentlich | |
ehrpusselige und biedere Stuttgart neulich wieder zu verkraften hatte, nur | |
noch kurios. Da sprach der abtrünnige AfD-Abgeordnete Heinrich Fiechtner im | |
baden-württembergischen Landtag davon, alle, abgesehen von der AfD, fänden | |
in der Königsstraße der Landeshauptstadt die Scherben ihrer Politik vor. | |
Deutschland werde von Ausländern überrannt. Am Ende, nach all seinen | |
Belfereien und seinem Gekläffe, wurde Fichtner von der Polizei aus dem Saal | |
getragen, man hatte die Beleidigungen einfach satt. | |
Und das war sowieso richtig so, denn das politische Establishment musste ja | |
grübeln: Was, zum Teufel, sollte das neulich in der wichtigsten | |
Einkaufsachse Stuttgarts? Jugendliche und Jungerwachsene, die meisten | |
Männer, einige Frauen waren auch dabei, hatten, nachdem einer der ihren von | |
Polizisten drogenkontrolliert werden sollte, sich gewehrt. [1][Daraus | |
erwuchs schließlich ein übler Krawall, viele Scheiben der Geschäften waren | |
zertrümmert worden], einige Polizisten verletzt, etliche der | |
Krawalleur:innen festgenommen. Wäre es nur eine kleine Rangelei gewesen, | |
hätte sich kein überregionales Medium interessiert, aber das Ding lief | |
sogar über die „Tagesschau“, Horst Seehofer zeigte sich empört, | |
Bundespräsident Frank Walter Steinmeier fand auch gewogene Worte für die | |
Polizeien, die doch Respekt verdient hätten. | |
Das Zauberwort des Ereignisses war indes: „Partyszene“. Manche sagten: | |
„Eventszene“. Hilfsvokabeln ohne Sinn und Verstand, denn tatsächlich passte | |
der Krawall von Stuttgart in gar keines der üblichen Wahrnehmungsraster. | |
Die Protagonist:innen: ein europäisches Gemisch aus neudeutschen | |
Bürger:innen, die meisten mit deutschem Pass, alle mit gültigem | |
Aufenthaltsstatus, man registrierte Teilnehmende mit lettischer Herkunft, | |
solche aus Portugal oder Belgien. Was sie in aller Öffentlichkeit einte, | |
war kein politischer Sinn, nix FFF, Schwabida oder sonst wie gelabelt, | |
sondern die schiere Lust an jugendlicher und jungerwachsener Präsenz in der | |
Mitte der Stadt: Hey, hier sind wir, ihr könnt uns mal! | |
Und genau dieses Phänomen, einfach zu sein, nicht nur Sein oder | |
Absichtsvolles zu behaupten, Kontext zu stiften oder gar Alliierte zu | |
ermitteln: Das ist historisch nicht neu, im Gegenteil, es ist das älteste | |
Motiv öffentlicher Versammlung überhaupt. Partyszene? Das, was in Stuttgart | |
vom Establishment beklagt wurde, sind Jugendkrawalle, Aufrühreien von | |
Menschen, die keine Kinder mehr sind und an den Partys der Erwachsenen mit | |
all ihren gesitteten Riten (noch) nicht teilnehmen dürfen. Schmuddelkinder | |
zumeist, nicht gesellschaftsfähig, roh und gewalttätig, weil, nun ja, für | |
Linke darf dies keinen Schreck auslösen, denn sie kennen dies ja, weil | |
Gewalt (und ihre Androhung) auch Spaß bereit. Man darf das Wunsch nach | |
Entgrenzung, nach Kampf und Risiko (um den Preis der Festnahme und | |
Einsperrung, weiß doch jedes Kind) nennen – aber das gibt es überall auf | |
der Welt, und das schon immer. | |
## Jugendrebellion im Film | |
Richtig prominent wurde das, was als „Jugendkrawall“ auch ertragreich | |
gegoogelt werden kann, nach dem Zweiten Weltkrieg. Ökonomische Prosperität, | |
vor allem in den kapitalistischen Ländern, machte es Jugendlichen möglich, | |
sich selbst zu inszenieren: Als die noch nicht fertigen Erwachsenen, mit | |
schönen Körpern, vollen Kräften und Säften, gleich ob Männer oder Frauen, | |
wer wem imponieren wollte, ist nie ganz ausgemacht. Deutsche Filme wie „Die | |
Halbstarken“ oder der Hollywoodklassiker „Denn sie wissen nicht, was sie | |
tun“ aus den Fünfzigern künden davon. Marlon Brando, James Dean, Horst | |
Buchholz, Karin Baal – Jungerwachsene, die keinen Bock auf | |
sozialpädagogische Einreden und verständnistriefende Zwangsgesten („Denk | |
doch an dein Leben, mein Kind“) haben, sondern, nun ja, das ganze Paradies | |
haben wollen, hier und jetzt, notfalls mit Krawall. | |
Aufstände gegen die Erhöhung von Bierpreisen im 16. Jahrhundert, Randale | |
gegen die Vertreibung von den Marktplätzen der Welt, besonders in den | |
Jahren nach dem Nationalsozialismus hierzulande, als Jugendlichkeit im | |
selbstbestimmten Sinne so recht erst erfunden wurde, als individuell | |
möglicher Freiheitsrahmen: Eltern? Können mich mal! | |
Aber das hat nie aufgehört und wird es nie. Riots in den französischen | |
Vorstädten, in Hamburg bei Rock-’n’-Roll-Konzerten von Bill Haley, die | |
Schwabinger Krawalle Anfang der Sixties, vor Paris oder anderswo, in | |
Zürich, Tumulte im London der achtziger Jahre – Empörung nicht nach dem | |
Schema Rassismus/Ausgrenzung/Diskriminierung, sondern mit der Lust am | |
eigenen Irresein, an der Noch-nicht-Eingepasstheit der Erwachsenen mit der | |
Ungewissheit an der eigenen Perspektive, die man aber, siehe aktuell | |
Stuttgart, wenigstens für einen lauen Sommerabend vergisst. | |
Jedes Volksfest, jeder Rummel, Jahrmarkt, Dom oder jede Kirmes, kennt das: | |
Jungerwachsene, die sich bar jeden Ziels herumtreiben, ihresgleichen suchen | |
und finden und über das verhandeln, um was es dann wirklich geht: Liebe | |
(?), Sex (???), Männlichkeit (fraglich, selbstbestätigungsbedürftig), | |
Weiblichkeit (unsicher, suchend), das Leben (das tollste überhaupt, wenn | |
auch nur unbewusst, und das schlimmste zugleich, weil offen und damit | |
ungewiss), die Eltern (meist: doof und einengend, verbietend). | |
Jugendkrawalle – das gibt’s in jedem Dorf, in jeder Aushebelung des Legalen | |
… Und das ist natürlich meist nicht harmlos, Jugendliche und Jungerwachsene | |
sind ja nicht per se süß und knusprig, sondern auch böse und gemein. Treten | |
die Schwächeren, machen sich über die lustig – und die Schwächeren | |
versuchen, zu Stärkeren zu werden, und sei es körperlich. | |
Aber vor allem dies haben sie gemeinsam: Das gute Leben, das muss möglich | |
sein, das will man auch, das liegt in weiter Ferne und bis dahin ist Party. | |
Kleine Chancen auf etwas, das passiert, das geschieht, das sich ereignet – | |
jugendlich und jungerwachsen zu sein ist ja auch der dauernde Kampf gegen | |
Langeweile, gegen das Noch-nicht-wissen-was-einem-Freude-bereitet. | |
Insofern ist die Deutungsgier der etablierten Politiker:innen, ihr Fragen, | |
was das denn heißt: „Partyszene“ – in Stuttgart wie anderswo: eher | |
proletarischen Zuschnitts –, nur zu verständlich. Sie kennen junge | |
Kader:innen, die gegen die Klimakrise kämpfen, voll Sinn sprechende junge | |
Frauen, junge Männer mit Stipendium der Deutschen Studienstiftung, sie | |
streiten für Gerechtigkeit im Sozialen oder, mehr als anrüchig natürlich, | |
schließen sich neonaziartigen Gruppen an und fordern Bizarres, Deutschland | |
den Deutschen etwa. Die aber waren ja in Stuttgart sehr präsent, als sie | |
die Polizei nicht als letztes Wort nahmen, sondern ihre Worte anzufügen | |
beanspruchten, Deutsche, die nicht wie Gretel und Hänsel aussehen, sondern | |
wie Deutsche von heute eben. Sie sind also nicht erreichbar durch linke, | |
ökologisch-inspirierte oder rechte Deutungsmuster, sie wollen nur einfach | |
dies: ein Leben, das sich aus dem Jetzt heraus lohnt, als gäbe es kein | |
Morgen. Sie wollen cool sein, trinken, quatschen, ein paar Drogen nehmen, | |
den Moment für alle Ewigkeit (fest-)haltend. | |
Dass das riskant sein kann, wissen die Inhaftierten, die doch alle so gern | |
cool und unangreifbar wären, natürlich jetzt, das wusste alle „Rebellen | |
ohne Grund“ (wie der Originaltitel von „Denn sie wissen nicht, was sie tun�… | |
lautet). Aber Abenteurertum ohne die Chance zum echten Absturz – das wäre | |
keines. James Dean war so ein Rebell, der auf Altersvorsorge und der | |
Hoffnung auf Weihnachtsgeld nichts gab. Im wahren Leben fuhr er mit seiner | |
schnittigen Karre in den Tod – damit unsterblich werdend. | |
Es ist, mit anderen Worten, faszinierend: Das Leben sei Party! | |
25 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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