# taz.de -- Krawalle in Stuttgart und Frankfurt: „Deutsch“ in Gänsefüßch… | |
> Die Stuttgarter Polizei erforschte den Migrationshintergrund von | |
> Tatverdächtigen. Präventions- und Integrationsarbeit sieht anders aus. | |
Bild: Polizisten patrouillieren über den Schlossplatz nach den Krawallen in St… | |
Im Nachgang der sogenannten [1][Stuttgarter Krawallnacht] vom 20. auf den | |
21. Juni, bei der nach Drogenkontrollen durch die Polizei Hunderte Menschen | |
in der Stuttgarter Innenstadt randalierten, wurde neben der | |
Staatsangehörigkeit auch der Migrationshintergrund der momentan 44 | |
Tatverdächtigen ermittelt. Dieser liegt laut deutschem Statistischem | |
Bundesamt dann vor, wenn die Person selbst oder mindestens ein Elternteil | |
nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. | |
Die Stadt Stuttgart hat einen Migrationsanteil von 45 Prozent – | |
deutschlandweit hat jede vierte Person Migrationshintergrund. Wie könnte | |
bei diesen Zahlen der Migrationshintergrund überhaupt relevant sein? Zwei | |
Drittel der Tatverdächtigen sind Jugendliche und Heranwachsende. | |
Bei ihnen greift bezüglich des Umfangs polizeilicher Ermittlungen Paragraf | |
43 des Jugendgerichtsgesetzes, demnach „die Lebens- und | |
Familienverhältnisse“ sowie das bisherige Verhalten des Beschuldigten und | |
alle Umstände, „die zur Beurteilung seiner seelischen, geistigen und | |
charakterlichen Eigenart dienen können“. Dazu gehört auch der | |
Migrationshintergrund. Der Stuttgarter Polizeipräsident Franz Lutz will | |
sich jedoch den Versuch einer „soziologischen Zuordnung“ der | |
Tatverdächtigen ersparen. | |
Welches Interesse hat die Polizei dann an der Herkunft der Eltern? Lutz | |
kommentiert die Video- und Tonaufnahmen der Nacht so: „[S]chwäbisch hören | |
Sie da wenig, um es mal einfach so zu formulieren.“ Wenn Dialektkompetenz | |
aber nicht soziologisch als Marker des sozialen Milieus einer Person | |
verstanden wird, dann muss angenommen werden, dass Lutz „Schwäbisch-Reden“ | |
mit „deutsch sein“ oder zumindest mit „erfolgreich integriert sein“ | |
gleichsetzt. | |
Sein Kommentar sagt vor allem etwas über ihn selbst aus, als jemand, der | |
von „den unterschiedlichen Personengruppen“, die in seiner Stadt und den | |
umliegenden Landkreisen leben, überfordert ist. Lutz berichtet, dass | |
landesweit Anfragen laufen, da bei einigen der Tatverdächtigen der | |
Migrationshintergrund „noch nicht gesichert“ sei. Es stellt sich die Frage, | |
ob eine derartige Ermittlung verhältnismäßig ist. | |
Wenn der Eindruck entsteht, dass dem Migrationshintergrund ein besonderes | |
oder isoliertes Interesse entgegengebracht wird, so ist nachvollziehbar, | |
warum in den Medien seither über [2][„Stammbaumforschung“] debattiert und | |
der Polizei struktureller Rassismus vorgeworfen wird, auch wenn die | |
Ermittlung ja erst im Nachgang der Tat erfolgte. | |
## JedeR vierte Deutsche hat einen Migrationshintergrund | |
Das prinzipiell zulässige Abfragen der elterlichen Herkunft wird so in | |
einen Zusammenhang mit straffälligem Verhalten gestellt und spielt in | |
erster Linie populistischen Parteien in die Hände. Die Nationalität der | |
Eltern werde „auch bei ‚deutschen‘ jugendlichen Tatverdächtigen geprüft… | |
heißt es in einer Twitter-Nachricht der Polizei Stuttgart vom 12. Juli. Die | |
Anführungszeichen des Tweets sind irritierend, denn wenn es deutsche | |
Tatverdächtige mit Anführungszeichen gibt, dann muss es auch solche ohne | |
geben. | |
Politiker, deren Eltern selbst nach Deutschland migrierten, wie der | |
Stuttgarter Stadtrat und Konstanzer Bürgermeisterkandidat, Luigi Pantisano, | |
zeigen sich entsetzt darüber, dass sie trotz ihres deutschen Passes | |
weiterhin nur „‚Deutsche‘ in Anführungszeichen“ sein sollen. Polizei u… | |
Regierung rechtfertigen das Abfragen der „Hintergründe“ der „jungen Män… | |
im Hinblick auf notwendige Präventions- und Integrationsmaßnahmen: | |
„Straftaten verhindern, bevor sie entstehen“ sei das Ziel, so | |
Ministerpräsident Kretschmann in einer Rede am 14. Juli. Allerdings soll | |
dies „ohne Ansehen der Person“ geschehen. Doch was für ein Verständnis von | |
Prävention steht hinter einer rein statistischen Erhebung, die gar nicht | |
auf den einzelnen Jugendlichen abzielt? Welche Präventionsmaßnahmen folgen | |
hieraus? Polizeipräsident Lutz bringt die Installation von Videokameras | |
sowie ein Alkoholkonsumverbot im öffentlichen Raum ins Spiel. | |
Die gleichen Maßnahmen werden in Frankfurt diskutiert, nachdem es am | |
vergangenen Sonntag dort zu Ausschreitungen gekommen war. Wenn der | |
Präventionsgedanke sich allerdings in zunehmender Überwachung und der | |
Einschränkung von Rechten erschöpft, dann ist es um ihn nicht besser | |
bestellt als um den Integrationsgedanken, bei dem bisher auch davon | |
ausgegangen wird, dass es die „Anderen“ sind, die sich anzupassen haben. | |
Solange die Unterscheidung zwischen Deutschen mit und Deutschen ohne | |
Anführungszeichen fortbesteht, kann Integration gar nicht gelingen. | |
Präventions- und Integrationsarbeit muss auch in den politischen | |
Institutionen selbst stattfinden. Das Gewaltmonopol eines demokratischen | |
Staates kann nur dann nachhaltig von allen respektiert werden, wenn | |
Prävention und Integration mehr sind als Kontrollinstrumente des Staates. | |
## Integration statt Überwachung und Verbote | |
In Stuttgart wie in Frankfurt wurde die „Event- und Partyszene“ | |
verantwortlich gemacht, deren Anhänger sich gegen die Polizei | |
„solidarisiert“ hätten. Sich solidarisieren ist auch unter dem Eindruck | |
globaler Verschiebungen jedoch eine politische Handlung par excellence, | |
auch wenn sie nicht friedlich, sondern mit Gewalt einhergeht. | |
Damit Städte öffentliche Räume bleiben, in denen letztendlich ohne | |
Anwendung von Gewalt und Zwang „die Freiheit in Erscheinung treten kann“, | |
wie Hannah Arendt es formulierte, bedarf es mehr als staatlicher | |
Überwachung und [3][Verbote]. | |
Körperverletzung und Sachbeschädigung gehören sanktioniert, aber staatliche | |
Institutionen täten gut daran, Präventivmaßnahmen und Integrationsarbeit | |
auch im Hinblick auf ihre eigenen Klassifikationen und Praktiken zu | |
etablieren; angefangen bei der Verwendung von Anführungszeichen über einen | |
selbstkritischen Blick, warum sich das Bild der Polizei in Deutschland in | |
den letzten Jahren gewandelt hat, bis hin zur Anerkennung, dass Politik | |
gerade im öffentlichen Raum der Straße gemacht wird. | |
23 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Jugendgewalt-in-Stuttgart/!5691509&s=stuttgart/ | |
[2] /Folgen-von-Krawall-in-Frankfurt-am-Main/!5701468&s=krawalle/ | |
[3] /Folgen-von-Krawall-in-Frankfurt-am-Main/!5701468&s=krawalle/ | |
## AUTOREN | |
Judith Beyer | |
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