| # taz.de -- Will Ferell im ESC-Film auf Netflix: Grell und irgendwie amüsant | |
| > In diesem Jahr fiel der ESC coronabedingt aus. Netflix bietet mit | |
| > „Eurovision Song Contest – The Story of Fire Saga“ ein filmisches | |
| > Trostpflaster. | |
| Bild: Wikinger eben: Will Ferrell und Rachel McAdams als Isländer | |
| Pläne hatte die European Broadcasting Union, Koordinierungsstelle aller | |
| öffentlich-rechtlichen TV- und Radiosender Europa und angrenzender Länder, | |
| ja schon länger: einen Film, einen echten Spielfilm über den Eurovision | |
| Song Contest zur Welt zu bringen – dem Produkt selbst, eben dem ESC, könne | |
| dies nur nützen. | |
| Will Ferrell, Filmschauspieler aus den USA, verheiratet mit einer Schwedin | |
| und mit ihr immerhin am Rande kundig über dieses, aus seiner Sicht seltsame | |
| Popfestival in Europa, das nicht von reinem Kunstgenuss und | |
| Popdistinktionen lebt, sondern von Punkten und Tabellariken, machte ihn | |
| schließlich: „Eurovision Song Contest – The Story of Fire Saga“. | |
| Finanziell unterfüttert durch Island und seine Marketingstellen, denn dort, | |
| inmitten der Schroffheiten des Nordatlantiks, beginnt die Geschichte, die | |
| dieser Film erzählt. | |
| Kurz: Ein Kind versucht das Verlassenwerden durch seine Mutter zu | |
| kompensieren, trauert – und wird, an einem Samstagabend in familiärer Runde | |
| in einem Küstenkaff namens Húsavík, durch den Sound von Abba und ihrem | |
| „Waterloo“, ESC-Sieg 1974 in Brighton, wie durch eine Erleuchtung wieder | |
| zum Leben erweckt. | |
| ## Fürs Mackertum verloren | |
| Von dieser Sekunde an ist, aus der Perspektive vor allem seines Vaters | |
| (Pierce Brosnan, super, wie er diesen herzlosen Stiesel spielt), der Junge | |
| für das Mackergetue, für die glanzlos sich fügenden Lebensläufe aller | |
| anderen wie verloren. Er will nur noch dies: an einem ESC teilnehmen, und | |
| koste es die Beschämung durch die anderen. | |
| Am Ende, nach mehr als zwei teils gar nicht mehr enden wollenden Stunden, | |
| hat Lars Erickssong mit seiner Partnerin Sigrit Ericksdottir (keine | |
| Geschwister!, gespielt von der zum Glück nicht überhübschen Rachel McAdams) | |
| nicht gewonnen – aber alle Herzen erobert, vor allem die seines Landes und | |
| auch das seines Vaters. | |
| Zwischendurch, wohl auch um dem Film die nötige Street Credibility zu | |
| geben, treten verschiedene echte ESC-Sternchen und -Stars auf, Conchita | |
| Wurst, Jamala, Loreen, Salvador Sobral, Alexander Rybak und Netta Barzilai, | |
| Sänger:innen aus Moldau, Estland, Schweden – die in einem Song-A-Long | |
| Lieder von Cher, Madonna und Céline Dion singen: the whole camp package, | |
| akkurat die campen Supertracks der queeren Menschen der Nachkriegsmoderne, | |
| Ikonen auch wider die Mann-trifft-Frau- oder Frau-trifft-Mann-Logik im | |
| gewöhnlichen Popbusiness. | |
| Und hier exakt liegt das Problem dieses liebevoll gesinnten Films durch | |
| Will Ferrell: Er sieht nur Plateauschuhe, wirklich grelle Kostüme, | |
| entsetzlich fade, überheizte Performances – und siedelt die Kerngeschichte | |
| doch, ideologisch durchaus reaktionär, so an, dass am Ende nicht nur alle | |
| blamiert, halbbegabt und irgendwie delirierend wirken, vor allem die | |
| Konkurrent:innen bei diesem ausgedachten ESC. Es bleibt auch ein | |
| heterosexuelles Liebesglück der kleinen Welt back to Iceland übrig: | |
| Schuster:innen, bleibt bei euren Leisten! | |
| ## Melancholische Filme zum Genre | |
| Man wüsste gern, wie Pedro Almodóvar die Geschichte angelegt hätte – er | |
| hatte sich an einer ESC-Geschichte probiert, sie aber verworfen. Ein Film | |
| von ihm könnte dem ESC neue Seiten abgewinnen. Und man weiß, dass in Israel | |
| Filme mit dem ESC als Thema produziert wurden; zuletzt gab es eine | |
| melancholische Geschichte zum Genre, sogar mit Isabelle Huppert, eine | |
| belgisch-luxemburgische Produktion, „Ein Chanson für Dich“, charmant in | |
| jeder Hinsicht, nicht allein wegen Huppert, und keineswegs | |
| kreischend-farbig, belgisch-grobkörnig eher. | |
| „The Fire Saga“ indes, in keinem Kino zu sehen, dafür, der bessere | |
| Vertriebsweg, via Netflix seit gut einer Woche zu sehen, verrät auf gewisse | |
| Weise die Geschichte des ESC selbst: Es ist ein camp lesbares Festival, | |
| einmal im Jahr im europäischen Irgendwo; es lebt von der verächtlich | |
| machenden Haltung der meisten Kulturmenschen, die Kultur nicht wie | |
| Wettbewerb buchstabiert sehen wollen. | |
| Es ist freilich die erfolgreichste TV-Unterhaltungsshow im europäischen | |
| Maßstab – und hat nie als Produkt auf Nischendasein gesetzt. Er musste | |
| populär gehalten bleiben, also auf Effekte setzen, auf pikante Töne und | |
| Moves, Bewegungen der Körper, weil alles in drei Minuten als Message | |
| rübergebracht sein muss: Spitze oder Verlierer – so geht die kalte Logik. | |
| Dieser isländisch-schottisch-englisch-israelische Film aber macht aus dem | |
| ja wirklich gelegentlich Amüsanten eine | |
| Vater-Sohn-Tränenflüsse-der-Versöhnung-Geschichte. Und eine heterosexuelle | |
| Odyssee, die es in der eurovisionären Wirklichkeit gestern nicht gab und | |
| heute, in queer selbstbewussten Zeiten, nicht gibt: Ein Held:innenepos, das | |
| auf klassische Heterofamilieproduktion setzt, kann kein eurovisionäres | |
| sein. Wenn schon, aus kommerziellen Gründen, eine ESC-Geschichten nicht von | |
| schwulen ESC-Aficionados lebt. | |
| ## Homophobe Gesetzeslage in Rußland | |
| Ja, manche Szene ist kurios, auch der russische ESC-Mann ist grotesk | |
| wahrhaftig gezeichnet, ultraschwul, aber ungeoutet wegen der homophoben | |
| Gesetzeslage in seinem Land, also „nonbinary“, ein sehr schöner, ätzender | |
| Scherz wider das Ausredengeplapper, bloß nicht als schwul zu gelten. Und, | |
| klar: Ferrell ist ein guter Schauspieler, die anderen so überwiegend | |
| überemotional wie er agierend. | |
| Aber ist das ergreifend? Hat es das Momentum des echten | |
| Übersichhinauswachsens, wie das bei ESC-Sieger:innen immer der Fall ist? | |
| Man muss weiter auf Pedro Almodóvar einreden, dass er sich diesem Thema | |
| widmet. Man fühlt jetzt schon die Tränen, die mit ihm zu weinen wären. | |
| Verschenkte Chance, diese „Fire Saga“. | |
| 7 Jul 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| ESC | |
| Film | |
| Rotterdam | |
| Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
| Eurovision | |
| Kanye West | |
| Schwerpunkt Debatte über Kolumne (Für inner-redaktionelle Debatten-Beiträge) | |
| Jugendgewalt | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Der 65. Eurovision Song Contest: Auf highesten Heels | |
| Nach einem Jahr Coronapause haben es sechundzwanzig Acts in das Finale von | |
| Rotterdam geschafft. Aber wer gewinnt? Eine Prognose. | |
| Zypriotischer Beitrag zum Eurovision Song Contest: Empörung über „Satanisti… | |
| Ein anonymer Anrufer hat gar angedroht, den Staatssender anzuzünden. Der | |
| Song „El Diablo“ von Elena Tsagrinou wird von nicht wenigen Zyprioten | |
| missverstanden. | |
| Eurovision Song Contest goes USA: Ein bisschen Frieden | |
| Die USA wollen einen ESC-Ableger. Das funktioniert nur, wenn der | |
| europäische Charakter des Wettbewerbs eine Entsprechung findet. | |
| Rapper Kanye West will Präsident werden: Ooops he did it again | |
| US-Rapper Kanye West verkündet seine Präsidentschaftskandidatur – wieder | |
| einmal. Für die Medien ist das eine Herausforderung. | |
| LGBTI*-Widerstand gegen die Polizei: Militanz mit Resonanz | |
| Niemand war LGBTI*-Menschen so verhasst wie die Polizei. Das hat sich durch | |
| eine öffentlichkeitswirksame Aktion im Jahr 1980 zum Besseren gewendet. | |
| Jugendgewalt in Stuttgart: Mit Krawall ins Paradies | |
| Wie in jedem x-beliebigen Dorf macht auch in Stuttgart die Jugend Rabatz. | |
| Das ist nicht schön, aber auch kein neues Phänomen. |