# taz.de -- Eurovision Song Contest goes USA: Ein bisschen Frieden | |
> Die USA wollen einen ESC-Ableger. Das funktioniert nur, wenn der | |
> europäische Charakter des Wettbewerbs eine Entsprechung findet. | |
Bild: Ob diese Party auch in den USA funktioniert? | |
Aus amerikanischer Sicht über das kommende Jahr 2021 nachzudenken, ist | |
derzeit so, als steckte man die Hand in eine dieser Jahrmarkt-Fühlkisten. | |
Möglich, dass die Finger etwas Flauschiges ertasten, aber auch, dass es | |
schleimig oder krabbelig ist – oder einem der Arm von einem Fallbeil | |
abgetrennt wird. | |
Die Vereinigten Staaten befinden sich wegen Corona mitten in einer der | |
härtesten Krisen ihres ohnehin defekten Sozialstaats, es gibt landesweit | |
[1][Aufstände gegen Polizei und strukturellen Rassismus]. Und in weniger | |
als hundert Tagen entscheidet sich, ob der frühere [2][Obama-Vize Joe Biden | |
2021 mit der kalifornischen Senatorin Kamala Harris] an seiner Seite ins | |
Weiße Haus einzieht oder ob [3][Donald Trumps] autoritäre Hybris durch eine | |
Wiederwahl vom Unermesslichen ins Postermessliche steigt. | |
Mitten in diese Situation hinein verkündet die European Broadcasting Union, | |
dass sie ihr erfolgreiches Musikspektakel Eurovision Song Contest in die | |
Staaten exportieren möchte. Wie der Senderverbund Ende vergangener Woche in | |
einer spärlichen Pressemitteilung bekanntgab, wird das Konzept des | |
Wettsingens Ende 2021 im US-Fernsehen zu sehen sein. Statt um die 40 | |
europäische Länder sollen die 50 US-Bundesstaaten antreten und über fünf | |
bis zehn Qualifikationsrunden zu Halbfinals und schließlich einem großen | |
Finale weitergehen. | |
Der Eurovision-Wettbewerb wird seit 1956 jedes Jahr ausgerichtet, mit | |
stetig wachsender Zahl an teilnehmenden Ländern, inzwischen sogar mit | |
Australien, das weder im erweiterten geografischen Sinne zu Europa zählt | |
noch ein Sendermitglied in der EBU hat, sondern einfach aufgrund der dort | |
großen Beliebtheit der Show seit 2015 mitmachen darf. In den USA war das | |
Spektakel derweil bis vor wenigen Jahren kaum bekannt, inzwischen mögen | |
viele dort davon gehört haben, zuletzt wegen des [4][Netflix-Trashfilms | |
„Eurovision Song Contest: The Story of Fire Saga“] mit US-Star Will | |
Ferrell. | |
## Trend zur Kuschligkeit | |
Letztlich war Eurovision aber immer etwas recht spezifisch Europäisches. | |
Ein Kontinent voller kulturellem und sprachlichem Chaos, massiver sozialer | |
Schere und ständigen Spannungen im Inneren, trifft sich zu einem dezidiert | |
unpolitischen und geopolitisch weitgehend unbedeutenden Event. | |
Gegenseitiges Unverständnis und kulturelle Unterschiede werden, ob nun | |
absurd überzeichnet oder todernst gemeint, als Stilmittel in üppige | |
Bühnenshows geflochten, die jedes Jahr aufs Neue das vorherige Jahr in den | |
Kategorien „laut“, „hell“, „bunt“ und „Windmaschine“ überbiete… | |
Dazwischen träufelt es allgemein verträgliche, weil platte, politische | |
Appelle und längst ritualisierte Statements pro Diversity, ohne echtes | |
Konfliktpotenzial. Und wenn, dann liegt die Aufmerksamkeit eher bei den | |
krassesten, bei den sexiesten und hin und wieder sogar bei den musikalisch | |
besten Performances. | |
Dass diese Formel nun auch Produzent*innen und Sender in den USA | |
interessiert, ist 2020 weniger überraschend, als es noch vor ein paar | |
Jahren gewesen wäre. Neben Trump-Ära-spezifischen Unterhaltungsmedien, die | |
kritisch oder sogar dystopisch auftreten (etwa die Hulu-Adaption von | |
Margaret Atwoods „Report der Magd“), setzt die Unterhaltungsindustrie auch | |
auf softe Konzepte: Hoffnung, Brücken bauen, Gemeinsamkeiten finden. Die | |
Makeover-Show „Queer Eye“, von Netflix eindeutig an Liberale gerichtet, | |
besucht auch mal Trump-Befürworter*innen und Menschen mit minimalen | |
homophoben oder sexistischen Einstellungen und packt alles zusammen in | |
einen hoffnungsvollen „Am Ende sind wir alle Menschen“-Fluff. Und die | |
Oscar-Jury prämierte vergangenes Jahr mit „Green Book“ einen Film, der | |
nahelegt, dass Rassismus letztlich ein Missverständnis ist, das sich | |
auflösen lässt, wenn Menschen sich nur kennenlernen. | |
Je mehr also die Zeiger in der gesellschaftlichen Realität auf Krise und | |
Konfrontation stehen, desto attraktiver wird ein einendes Feelgood-TV. Wer | |
den „American Song Contest“ ausstrahlen wird, ob der über die großen | |
linearen TV-Networks laufen wird oder eher On Demand, ist nicht klar. Die | |
Konzeption liegt bei der Hollywood-Produktionsfirma Propagate Content, | |
deren Chef Ben Silverman Erfahrung hat im Adaptieren europäischer Formate | |
für den US-Markt, etwa der britischen Sitcom „The Office“ oder der | |
niederländischen Reality-Show „Big Brother“. Außerdem hat sie als | |
Mitproduzenten die schwedischen Eurovision-Experten Anders Lenhoff und | |
Christer Björkman eingekauft, Letzterer ehemals selbst Kandidat und heute | |
Leiter der schwedischen Vorauswahl. Die EBU selbst stellt bloß die Marke | |
zur Verfügung und hat mit dem „American Song Contest“ sonst nichts zu tun, | |
wie sie der taz mitteilt. | |
## Komplexer Zickzack | |
Aber wird die Show sich einfach so übertragen lassen? Die Konfliktlinien in | |
Europa sind zum Teil dieselben wie in den USA, etwa zwischen | |
Gender-Diversity und Gender-Traditionalismus. Aber sie verlaufen in Europa | |
in einem komplexen Zickzack quer zu anderen Konflikten und alten und neuen | |
Verbundenheiten. Wenn also eine Drag Queen den Contest gewinnt, wie | |
Conchita Wurst im Jahr 2014, dann erzeugt das bloß überall mal punktuelles | |
Grummeln. In den USA verläuft die Linie ziemlich gerade entlang der Grenze | |
zwischen den beiden großen Parteien, was sich durch die polarisierende | |
Figur Trump verschärft hat. | |
Falls kein weißer, männlicher, christlich-konservativer Countrysänger | |
diesen US-amerikanischen Song Contest gewänne, dann wäre das zweifellos für | |
einen Donald Trump (ob er dann nun Präsident ist oder seine Fanbase nur | |
noch über Twitter aufheizt) gleich wieder Grund, die ganze Show als | |
liberalen Angriff auf „Amerika“ abzutun. Sollte man es trotzdem versuchen? | |
Unbedingt. Nur: Wie sollen die US-Bundesstaaten ohne lange gewachsene | |
folkloristische Unterschiede eine ulkig-trashige Bühnenshow aus vorwiegend | |
kulturellen Klischees hervorzaubern? Wer soll sich denn dafür begeistern, | |
ob in der finalen Punktevergabe Rhode Island, South Dakota und Oregon sich | |
ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern? Was bleibt von dem Format noch übrig, wenn | |
man die „Europeanness“ wegnimmt? American Idol mit besserer Musik? | |
Viel interessanter wäre da, wenn man dem Namen „American Song Contest“ | |
gerecht würde. Dass hier mal wieder aufs Neue „amerikanisch“ für die USA | |
allein gekapert wird, ist ohnehin eine Frechheit. Ein echter „American Song | |
Contest“ würde wirklich die amerikanischen Kontinente in ihrer Gesamtheit | |
aufrufen, sich zu beteiligen. Das wäre dann schon näher dran an einem | |
Eurovision. Mit den geografisch angeordneten sozialen Ungleichheiten. Mit | |
alten und neuen Konflikten und Allianzen. Mit schwer zu definierenden | |
Grenzen (US-Übersee-Territorien? Grönland?). Und mit der köstlichen | |
Situation, dass ein dominantes Land wie die USA im Endergebnis genauso gut | |
blamiert sein könnte wie jedes andere, während am Ende dann vielleicht Kuba | |
den Preis holt. | |
12 Aug 2020 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Peter Weissenburger | |
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