# taz.de -- Polizeiarbeit in Stuttgart: „Den Punk“ gibt’s hier nicht | |
> Zeit, den realen Punk aufzusuchen. Im Stuttgarter Schlossgarten, wo sich | |
> Polizei und die Zaungäste der Gesellschaft gut' Nacht sagen. | |
Bild: Polizei im Schlossgarten, Ende Juni | |
The Shitshow must go on: Auch Wochen nach den Krawallen in Stuttgart wird | |
immer noch mehr [1][nach dem Wer statt nach dem Warum] gefragt. Als könnte | |
man herausinvestigieren, dass vielleicht doch die Gymnasiasten vom | |
Nobelviertel Killesberg hinter der Randale stecken, legten sich ARD und SWR | |
in einem Fernsehbeitrag am Schlossplatz auf die Lauer und wanzten sich ans | |
Volk. | |
„Wir fragen uns, wer hat mitgemacht? Wir kommen mit einer Gruppe | |
Jugendlicher ins Gespräch – und hören Erstaunliches“, sagt die | |
öffentlich-rechtliche Singsang-Stimme aus dem Off des „Report Mainz“. Dann | |
palavert ein Punkermädchen, wie ihr der Schnabel gewachsen ist: dass sie | |
Typen aus ihrer Klasse angezeigt hätte, weil die damit rumgeprahlt hätten, | |
dass sie in der Krawallnacht in einen Schuhladen in Stadtmitte eingebrochen | |
wären und auch Handys geklaut hätten. „Das war mir zu doof, und dann hab | |
ich die halt angezeigt.“ | |
Der Reporter fragt, was das denn für Jungs gewesen seien, und das Mädchen | |
sagt, dass man sie als „so typische, heutzutage wie man’s nennt | |
Kanakenjungs“ bezeichnen würde, „die einen auf Baba machen und denken, sie | |
sind die Größten“. | |
[2][Das Video mit diesem 30-sekündigen Ausschnitt ging viral], gefundenes | |
Fressen für einen gepflegten Scheißesturm linksalternativer Käpsele. | |
„Punk’s dead. Jedenfalls in #Stuttgart“, trötete etwa [3][Jutta Ditfurth | |
auf Twitter] und teilte den Beitrag mit fast 27.000 Menschen. | |
## Awareness-Handschuhe | |
Ja, wie lustig ist es eigentlich, sich als linke Intellektuelle über | |
Straßenkids lustig zu machen? Das Mädchen hat das Wort „Kanaken“ vermutli… | |
zitiert. Vermutlich checkt sie das schon irgendwie, dass das Wort in der | |
Erwachsenenwelt eigentlich nicht geht. Aber sie hat’s halt trotzdem gesagt. | |
Vermutlich weil es der Lebensrealität einer gesellschaftlichen | |
Außenseiterin entspricht, die selbst nie mit bildungsbürgerlichen | |
Awareness-Handschuhen angefasst wurde. | |
Rumgemackere und Gewalteskalationen gehen auch nicht klar, das interessiert | |
aber viele Jungs und Männer, und zwar kulturübergreifend und in allen | |
Gesellschaftsschichten, auch nicht. Vermutlich. Niemand spricht im | |
Zusammenhang mit Stuttgart jedoch von einem Männerproblem, obwohl es kein | |
Geheimnis ist, dass Gewalt immer noch die (Re-)Produktion und | |
Stabilisierung von Männlichkeit erlaubt. Nicht vermutlich. Zweifellos. | |
Vielleicht gingen der Schülerin einfach die supervirilen Würstchen auf die | |
Nerven, die sich seit Erfindung der Schule vor anderen geil aufspielen, um | |
„geile Weiber“ zu beeindrucken – und Mädchen, die als nicht begehrenswert | |
gelten, mobben. | |
Im Freundes- und Bekanntenkreis des Punkermädchens gehen die Meinungen über | |
das Video jedenfalls auseinander. An einem warmen Donnerstagmittag sitzen | |
und stehen etwa fünfzehn Emos, Punks, Outsider aller Farb-, Geschlechter- | |
und Altersgruppen nicht weit vom „Emobaum“ im Stuttgarter Schlossgarten, | |
hören elektronische Musik mit heftig BPMs aus Bluetooth-Boxen, quäken sich | |
gegenseitig vergnügt an und pfeifen nach ihren Hunden. | |
Ein Typ mit Dreadlocks hat eine riesige, noch nicht geheilte Wunde am Kopf. | |
„Stress mit Nazis in der Königstraße“, sagt eine junge Frau aus einer | |
Gruppe am Rand. Am Ende bekam er eine Flasche über den Kopf gezogen. Ein | |
älterer Mann sitzt auf einem weißen Plastikstuhl und spielt Lieder auf der | |
Gitarre in einer Sprache, die keiner versteht. | |
## Corona macht alle irre – auch die Polizei | |
„Den Punk“ gibt es hier jedenfalls nicht. Nur viele verschiedene | |
Charaktere, Musikvorlieben, Klamottenstile, Geschlechterrollen und | |
Weltsichten, die je nach Pegel mehr oder weniger friedlich nebeneinander | |
koexistieren. Vereint in der Tatsache, nicht reinzupassen in das, was als | |
Gesellschaft gilt. | |
Alina, Liss und Aiden haben Lust zu reden. Eigentlich erst mal nur Alina. | |
Die „Parkmutti“ ist Halbitalienerin. Sie kümmere sich um alles hier, | |
erzählen die anderen später. Die „Bullen“ hätten ihr erst kürzlich den … | |
abgenommen. „War abgelaufen“, sagt die 21-jährige Mutter eines kleinen | |
Jungen. Kein Pass. Kein Schnorren. Dass ein abgelaufener Pass doch immer | |
noch besser sei als gar kein Pass, hätten die Beamten nicht einsehen | |
wollen. Liss und Aiden schließen sich der Diskussion an und wollen über das | |
Video sprechen. Und über Jay – das Mädchen aus dem Video. | |
Die Aktion von Jay findet Alina dumm. Das werfe ein falsches Licht auf ihre | |
Szene. Aber noch dümmer findet sie die Typen, die die Läden kaputtgemacht | |
haben. „Ich hätte mich dazugestellt, wenn ich da gewesen wäre“, sagt Alina | |
und lacht. „Aber ich hätte vielleicht nix kaputtgemacht.“ Die Energie müs… | |
raus, [4][der Coronawahnsinn mache die Leute komplett irre]. Auch die | |
Polizei. „Die leuchten nachts ewig mit Taschenlampen in unsere Gruppe, | |
obwohl wir nur rumsitzen und labern“, ergänzt Liss. Wilde Mähne, | |
Augen-Make-up wie eine Kriegerin. „Ist doch klar, dass man dann angepisst | |
ist.“ Die 15-Jährige kommt seit fünf Jahren her, wiederholt gerade die | |
Neunte, weil sie frisch aus der Entzugsklinik kommt. | |
Nach und nach wird der Sitzkreis größer. Alle sind sich einig: Die Polizei | |
ist dumm. Das sieht die Parkmutti so. Das sieht Aiden ähnlich: „Die kommen | |
manchmal einfach zu uns und glotzen uns minutenlang übel strange an. Total | |
psycho. Dann gehen sie wieder“, erzählt der 16-jährige trans Junge und | |
greift nach „Franz Transbert“ – einem abgewetzten Schießbuden-Teddy mit | |
Herz zwischen den Tatzen. Wer als Mädchen auf die Welt kommt, aber keines | |
sein will, wird hier akzeptiert. | |
## Und jetzt auf Mediendeutsch | |
Das Mädchen aus dem Video, Jay, ist eine enge Freundin von Aiden. Seit dem | |
Video gehe es Jay immer schlechter. Vor allem, weil das Interview viel | |
länger gewesen sei und sie nur die eine Stelle im Fernsehen gezeigt hätten. | |
Jay werde seitdem so fertiggemacht, dass sie mehrmals an Suizid gedacht | |
habe, sagt Aiden. | |
Zusammen mit Jay hat Aiden deshalb eine Mail an die Verantwortlichen von | |
„Report Mainz“ geschrieben. Weil es nicht einmal eine | |
Einverständniserklärung zum Interview gegeben habe, forderten die beiden | |
die Redaktion auf, das Video aus dem Internet zu löschen oder aber das | |
komplette Material zu veröffentlichen. Sie erklärten, dass Jay sogar bereit | |
wäre, ihre Anzeige gegen ihre Mitschüler zurückzuziehen. Noch mal mit | |
Medienleuten reden mag Jay nicht, sagt Aiden genervt nach zwei | |
Kontaktversuchen. Dabei könne sie „die Scheiße, die sie gemacht habe“ ja | |
richtigstellen, sagt Aiden. „Gut. Ihre Entscheidung.“ | |
Die Redaktion von „Report Mainz“ reagiert erst nach einem zweiten Anlauf | |
und erklärt den beiden in einer Mail auf Beamtendeutsch, dass man sich | |
nichts vorzuwerfen habe. Das Interview sei in „völligem Einverständnis mit | |
der Gruppe“, zu der auch Jay gehört, zustande gekommen. „Die Gruppe hat | |
sich aus eigener Initiative dem Kamerateam genähert und dann bereitwillig | |
und bewusst offen vor der Kamera Auskunft gegeben“, schreibt Gottlob | |
Schober, Chef vom Dienst der SWR-Abteilung „Inland/Report Mainz“ in seiner | |
Antwort – und versucht Jay und Aiden noch virtuell auf die Schultern zu | |
klopfen, indem er betont, dass Jays Äußerungen von „positiv einzuordnendem | |
Verantwortungsbewusstsein zeugen und so durchaus Gegenstand | |
journalistischen Berichterstattungsinteresses“ wären. | |
Ein Wort, so erbarmungslos präzise wie ein Skalpell, das zeigt, wie weit | |
weg die meisten PolizistInnen, RedakteurInnen, PolitikerInnen und die | |
„Gesellschaft“ im Allgemeinen von Realitäten außerhalb ihrer eigenen Bubb… | |
sind. Gelöscht wurde das Video letztendlich trotzdem auf allen | |
Social-Media-Kanälen des SWR und der ARD. Auf allen anderen Seiten der | |
Sender wurde Jays Gesicht verpixelt und die Stimme nachgesprochen. Zu spät. | |
## Kollektive Hechtsprünge | |
Punk in Stuttgart ist nicht tot. Er hatte eben auch hier nie den Anspruch, | |
irgendwem zu gefallen. Selbst nicht den Linksalternativen. Die | |
durchintellektualisierte Version von Punk zeigt aber mit dem Finger auf | |
andere und wirft sich im kollektiven Hechtsprung vor die „Eventszene“, weil | |
Rassismus ja aber mal so gar nicht geht. Sie kleckert beim Influencen | |
teures Ben&Jerry’s-Eis in ihr MacBook Air und erhebt sich mit allen | |
Diskurswässerchen gewaschen über ein Punker-Kiddie, das strukturell | |
demselben Subproletariat angehört wie die, die in der Krawallnacht in | |
Stuttgart randalierten und plünderten. | |
Das soll nicht heißen, dass bedingungsloser Antirassismus nicht absolute | |
BürgerInnen-Pflicht und integraler Bestandteil der Linken sein muss. Es | |
soll nur heißen, dass mit linker Arroganz keine Warum-Fragen geklärt werden | |
können. Und mit fehlendem Klassenverständnis keine Revolution zu machen | |
ist. „Sid Vicious würde sich im Grab umdrehen!“, schreibt ein Schlaubi | |
unter eines von so vielen geteilten Video mit Jay. Würde Sid Vicious im | |
Stuttgarter Schlossgarten abhängen, hätte sich der Sex-Pistols-Bassist mit | |
Hakenkreuz-Shirt neben Jay gestellt und in die Kamera gespuckt. | |
17 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Debatte-um-Integration/!5699993 | |
[2] https://twitter.com/Rosa_Morgenthau/status/1280798691318796290 | |
[3] https://twitter.com/jutta_ditfurth/status/1280877463342546944?s=21 | |
[4] /Farid-Bang-und-der-Duesseldorfer-OB/!5695375 | |
## AUTOREN | |
Elena Wolf | |
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