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# taz.de -- Widerstandskämpfer und Dichterin: Das Geschlecht der Helden
> Jean-Pierre Voidies war als Widerstandskämpfer nach Neuengamme deportiert
> worden. Überlebt hat sie, weil sie sich als Frau wusste – und dichtete.
Bild: Erst ab 1984 traut sich Ovida Delect ihren Traum zu leben: Ein Film hat e…
BREMEN taz | Wie Jean-Pierre Voidies die [1][Todesmärsche] überstanden
hat? Dafür waren zwei Dinge wichtig: Das eine war, im Kopf Lyrik zu
komponieren, um sie später, wenn alles vorbei sein würde und es Papier
geben würde und Stifte, niederzuschreiben. Und: Schon damals, im Frühjahr
1944, geschnappt und verschleppt nach Neuengamme, wusste Jean-Pierre
Voidies, dass sie eine Frau ist.
„Tatsächlich war die Anomalie – also Abweichung von der Norm –, die mein…
Fall ausmachte, auch die Wurzel eines ganzen Universums im Inneren, das mir
ermöglichte, zu überleben“, schreibt sie unter ihrem Autorinnennamen Ovida
Delect 1994, zwei Jahre vor ihrem Tod. „Les cheveaux de frise couraient sur
l’hippodrome“ heißen ihre Jugend-Erinnerungen, „Das Derby der Spanischen
Reiter“ wäre vielleicht eine angemessene Übersetzung, die es noch nicht
gibt.
In dem Buch schildert sie, wie sie sich, im Lager, in Frauenkleider träumt,
in rauschende Roben, parfümiert und elegant, „während ich in gestreiftem
Anzug als Teil einer Herde Durchnummerierter nah einer Hansestadt
marschierte, im Visier der Wachtürme“. Es ist schwer, sich einen mutigeren
Menschen vorzustellen als Ovida Delect.
Dennoch: Erst ab 1981, mit 55 Jahren, wird sie sich trauen, diesen Traum zu
leben, der ihr das Leben gerettet hat. Einen [2][bezaubernden Film] – es
ist einer der erste Dokumentarfilme überhaupt, in denen eine Transperson
ihr Leben erzählt – hat Mitte der 1980er-Jahre Françoise Romand über sie
gedreht.
## Den Dorfpfaffen geniert's
Ein echtes Porträt eines Menschen mit Ecken, Kanten, und auch Härten, etwa
für den Sohn, der mit dem Geschlechtswechsel klarkommen muss, aber es nicht
kann. Als „wonderfully oddball“, also herrlich schrullig, hat Vincent Canby
in der New York Times „Appelez-moi Madame“ seinerzeit [3][beurteilt], aber
als niemals lächerlich, sondern eindrucksvoll unbeirrbar. Ovida Delect ist
eine Frau gewesen, die ihre Würde gegen alle Anfechtungen zu wahren
verstanden hat.
Sie lebte damals in einem kleinen Ort in der Normandie, und die
BewohnerInnen fanden den sozialen Geschlechtswechsel komisch, aber okay,
und am Veteranendenkmal ist sie es, die zum Nationalfeiertag eine Rede
hält. Nur den Dorfpfaffen, den Romand befragt, geniert das alles ganz
furchtbar.
Sichtlich schwül wird es ihm unter der Soutane, wenn er sich vorstellt, was
zwischen den Eheleuten Jean-Pierre und Huguette Voidies „passiert, wenn sie
im Schlafzimmer sind“, sagt er, „wie sie sich delektieren“, kleines
Wortspiel muss sein, schließlich komme der Künstlername ja daher, „hihi,
Delect, c’est bien ce que ça veut dire...“. Dann gickelt er noch ein wenig
und guckt verschmitzt.
„Ich bin ein lebender Leichnam, der für Leichenberge steht“, hat sie, nach
ihrer Befreiung, ihre literarische Rolle bestimmt. Am 23. Februar 1944 ist
Voidies in Caen den Nazis in die Hände gefallen, ein halbes Kind noch,
keine 18, und Schüler an einem katholischen Gymnasium: Die Mutter muss sehr
religiös gewesen sein. Schon dem Mädchen im Jungenkörper ist klar, dass da
„weder Furcht noch Gesetz, noch Wille dröhnt vom Sinai“, wie es in einem
frühen Gedicht heißt.
Voidies Berufswunsch bleibt trotzdem Priester – wegen der Röcke und Talare.
Deportiert wird Voidies, „weil er eine Widerstandgruppe an seinem Gymnasium
organisiert hat“, erläutert Christian Römmer, Archivleiter der Gedenkstätte
Neuengamme. Und weil er nach der Festnahme behauptet hat, Einzeltäter
gewesen zu sein.
Man glaubt ihm das nicht. Er wird nach seinem Chef befragt, bleibt bei
seiner Version. Das Verhör wird peinlicher: „Man stößt mich vorwärts, vor
einen Typen mit wichtigtuerischem Gesichtsausdruck“, schildert er die
Situation. „C’est un Français. C’est un Normand. C’est un gestapache�…
Porte-manteau-Wort verbindet das deutsche Gestapo und den Slang-Ausdruck
Apache, der damals in Frankreich so viel wie Abschaum bedeutet.
## Entwendete Aktentasche
Voidies war bei einem heimlichen Besuch in der Regionalzentrale des
Rassemblement National Populaire (RNP) beobachtet worden. Deren Leiter:
Marcel Déat, ein 100-prozentiger Nazi. Déat hatte erst fürs
Kollaborationsregime von Maréchal Pétain gearbeitet, aber das war ihm nicht
hitlertreu genug gewesen. Also war er in den deutsch besetzten Norden
gegangen. Voidies war es gelungen, die Aktentasche des RNP-Führers zu
entwenden. Darin: wichtige Unterlagen, Mitgliederlisten, der offizielle
Stempel der Fascho-Organisation und mehrere scheinbar von Déat
handsignierte Schreiben.
Die Schreiben waren nicht echt, aber echt genug, um die Lokalzeitung dazu
zu bringen, die Falschmeldung von einer Absage der „Jud Süß“-Vorführung …
Kino Eden zu verbreiten. Genug, um die Presse eine Trauerfeier ausrufen zu
lassen für NS-nahe Honoratioren, also „en l’honneur de deux traîtres bien
vivants“ – wie Delect später schreiben wird, zu Ehren zweier
quicklebendiger Verräter. Auch werden RNP-Mitgliedern unfreundliche Briefe
geschickt, Unterzeichner: „Die Widerstandsbewegung“. Panik greift um sich.
Das Parteibüro wird eine Weile geschlossen.
Aber schließlich klingelt „la sicherheitsdienst“ dann doch bei Familie
Voidies. Vom Abendbrottisch wird der Junge abgeführt. Schweigt. Wird auf
den Tisch gelegt, gepeitscht, mit Ochsenziemern, „einer rechts, einer
links“, 18 Tage lang, sagt nix: „Ich schreie, ich kann nur schreien“, weg…
dieses Schmerzes, unbekannt bis dahin, brennend, betäubend, wiederkehrend,
„Ich schreie formlos, schrill: Das beruhigt mich: Während ich schreie, rede
ich nicht.“
## Einbruch des Grauens
Viele dichten in der Not, aus der Not heraus, um sie auszudrücken, sie zu
bearbeiten, therapeutisch. Aber Voidies/Delect ist eine echte Dichterin,
sehr produktiv. Großpoet Paul Éluard wird das Werk anfangs fördern, gleich
nach dem Krieg, bei öffentlichen Auftritten rezitiert er auf großer Bühne
in Paris das „Gedicht von den neuen Zeiten“: „Nous arrachons la Terre à
ceux qui la piétinent“, „Wir entreißen die Erde denen, die sie mit Füßen
treten“, das blecherne rhetorische Pathos war ziemlich in Mode im
Nachkriegsfrankreich, Voidies ist da kein Sonderfall. Für Stalin kann er
sich fast so begeistern wie es Pablo Picasso damals tut. Und die
Sowjetunion feiert er 1949 als ein Ideal im Band „Buffalo“.
Sein Œuvre erscheint damals noch beim wichtigen Verlag Pierre Seghers, aber
dann fängt Voidies an, literarisch für die Rechte von Schwulen, Lesben und
auch noch Transpersonen einzutreten. Und das geht natürlich nicht: Ab Mitte
der 1950er erscheinen ihre Bücher, über 40 werden es am Ende sein, in
Kleinstverlagen, obskur, in Mini-Auflage, auch antiquarisch kaum noch zu
bekommen.
Der Ton von Delects Lyrik ist hymnisch, eine Feier des Lebens, eine große
Umarmung; bevorzugte Satzzeichen sind öffnende Klammern. Schließende
fehlen. „Il y en a que j’aime tant“ lautet der Titel eines großen Zyklus
aus den 1970ern, also „Manche gibt’s, die lieb’ ich so“. Und das könnt…
Süßliche abgleiten, aber dann bricht das Grauen doch ein in „Die ach!, so
schönen Sphären“: Sie „wurden Tropfen ranzigen Bluts / an zerkauten Enden
siffiger Stifte / in der Geschäftsstelle der Ewigkeit / des totalen
Leichenhauses.“ Die Geschäftsstelle der Ewigkeit – was für ein starkes Bi…
einer sich durchbürokratisierenden Welt. Das Pathos klingt in der
Übersetzung vielleicht ein bisschen drüber, im Französischen funktioniert
es aber sehr gut.
## Dichten ohne Papier und Stift
Gedichtet hat Voidies/Delect im KZ ohne Papier und ohne Stift, im Kopf
bewahrt sie die Zeilen auf. In manchen birst die Form am Erlebten: Da ist
das Poem „Wagon“, das die nächtliche Deportation in plombierten Güterzüg…
aus Frankreich in eine Stimmenvielfalt übersetzt, innere Monologe, Schreie,
Fragen, Worte, manche deutsch, wiederholt, bis ihr Sinn sich im Rattern der
Eisenbahn aufgelöst hat: In „Appelez-moi Madame“ rezitiert sie es.
Rau, gebrochen klingt ihre Stimme, ein besonderes Wagnis für Transpersonen,
fast immer, aber in diesem Sprechen lebt der Schrecken fort, so wirkt es,
und das ist ergreifend. Manche der KZ-Gedichte sind von einer
beängstigenden analytischen Klarheit. Ihr Thema ist nicht so sehr das
Überleben, sondern wie das Böse das Böse weckt in den Menschen, wie
Hungernde einander den Löffel klauen und den Blechnapf. Die Qualen sind
eine Schule des Hasses.
„Oppressés, compressés“ heißt es in einem titellosen Gedicht, das nach
einem Marsch barfuß übers vereiste Land entstanden ist, im Januar 1945,
wahrscheinlich bei Meppen, wo sie seit Herbst 1944 im Außenlager Versen
einsaß: „Unterdrückt, zusammengedrückt, / erbosen sich die Häftlinge / des
rasselnden Hustens wegen / Und des jämmerlichen Klagens / Der Sterbenden,
die sich noch regen.“ Hart wie das Scheinwerferlicht, stumpfsinnig wie die
saufende Wache, das Ich beginnt zu verholzen, erstarrt: „J'étire mes
jointures / Et fais craquer le bois“, endet das Gedicht: „Ich bewege meine
Scharniere / Lass krachen das Holz.“
## Tiefebene in Versen
In Frankreich beginnt man endlich, Ovida Delect zu feiern. Noch 2005 wurde
sie im wichtigen Sammelband „Paroles de déportés“ nur als Jean-Pierre
Voidies erwähnt und jeden Hinweis auf ihr Leben nach der Befreiung
vergessen, anders als bei den anderen Überlebenden. Und noch fehlt ihr Name
und ihr Bild auf der Site der „Poètes en Résistance“, die das
Bildungsministerium betreibt: Da stehen halt nur echte Männer drauf. Aber
das wird sich noch ändern, bestimmt: Schon ist [4][ein Platz in Paris nach
ihr benannt], nicht irgendwo verschämt am Rand einer Vorstadt, sondern
mittendrin, im vierten Arrondissement, dicht beim Centre Pompidou, seit
vergangenem Jahr: im Herzen.
In Deutschland hingegen ist sie noch unentdeckt, auch im Norden, wo sie
doch war, und dessen Landschaft und Natur sie in einigen Gedichten besungen
hat: Die schlammigen Gräben, die verlausten Baracken, die harten Winde, den
vereisten Boden und die Schmerzen, die es bereitet, ohne echte Schuhe über
ihn getrieben zu werden: So hat sich die Tiefebene eingeprägt in ihren
Versen.
Die Bibliotheken hier [5][sammeln sie trotzdem nicht], nichts von ihr ist
übersetzt, und gründlich hatten ja auch schon die Wachmannschaften die
Spuren zu beseitigen versucht: „Angeblich wurde er in Sandbostel befreit“,
informiert Gedenkstätten-Archivar Römmer über den Verbleib von Jean-Pierre
Voidies, im April 1945 müsste das gewesen sein, „sein Weg über
Räumungstransporte und Todesmärsche dorthin lässt sich nicht mehr ganz
klären“. Und weitere Informationen habe man „leider nicht in unseren
Unterlagen finden können“.
8 May 2020
## LINKS
[1] https://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/geschichte/konzentrationslager/d…
[2] http://www.film-documentaire.fr/4DACTION/w_fiche_film/37043_1
[3] https://www.nytimes.com/1988/03/12/movies/review-film-call-me-madame-a-docu…
[4] http://www.parisrues.com/rues04/paris-04-place-ovida-delect.html
[5] https://www.worldcat.org/search?q=Ovida+Delect&fq=&dblist=638&q…
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
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